„Nehmen wir besorgt zur Kenntnis“ - Abschieben trotz Kirchenasyl? Neuer Streit zwischen Staat und Christen entbrennt
Durch das sogenannte Kirchenasyl können Flüchtlinge unter bestimmten Bedingungen in Deutschland bleiben, auch wenn sie eigentlich abgeschoben werden sollen. Offenbar wird die Vereinbarung zwischen Staat und Kirche aber immer häufiger gebrochen.
Wahrscheinlich kaum ein Thema wird derzeit so hitzig diskutiert wie die deutsche Migrations- und Flüchtlingspolitik. Die Ampel hat sich jüngst auf ein „Sicherheitspaket“ geeinigt, das Islamismus bekämpfen und irreguläre Zuwanderung einschränken soll.
Der Union geht das nicht weit genug - CDU-Chef und Kanzlerkandidat Friedrich Merz fordert massive Zurückweisungen an den deutschen Grenzen. Gemeinsame Gespräche zur Eindämmung irregulärer Migration beendete die Opposition, weil die Regierung nicht genug auf sie zugegangen sei.
Die Diskussion über eine Begrenzung der Zuwanderung und Abschiebungen von Menschen ohne Bleiberecht bringt nicht nur die Stimmung zwischen Union und Ampel-Parteien zum Brodeln. Immer wieder kommt es auch zu Spannungen zwischen Staat und Kirche. Konkret: beim Thema Kirchenasyl.
Recherchen für den netzpolitik.org-Podcast „Systemeinstellungen“ sowie Nachforschungen, die die Plattform „Correctiv“ angestellt hat, zeigen, dass das Konzept vermehrt auf staatlichen Widerstand stößt.
Kirchenasyl „immer der letzte Ausweg“
Beim Kirchenasyl handelt es sich um eine Vereinbarung zwischen Kirche und Staat. Eine Pfarrei oder Kirchengemeinde kann Flüchtlinge vorübergehend aufnehmen, wenn deren Abschiebung als Bedrohung für Leib und Leben angesehen wird.
„Kirchenasyl bietet die Möglichkeit, Menschen, denen im Falle einer Abschiebung Gefahr für Leib und Leben oder unzumutbare humanitäre Härten drohen, Schutz, Unterkunft und Aufenthalt zu geben“, sagt Matthias Kopp, Pressesprecher der Deutschen Bischofskonferenz, im Gespräch mit FOCUS online.
„Bevor Kirchengemeinden einen Schutzsuchenden im Kirchenasyl aufnehmen, erfolgt eine genaue Prüfung anderer geeigneter Mittel und Lösungen. Entscheiden sich Gemeinden dazu, Kirchenasyl zu gewähren, handelt es sich dabei immer um eine 'Ultima Ratio', um einen letzten Ausweg.“
Ziel ist eine Neubewertung des konkreten Einzelfalls
Wie Kopp erklärt, verlangt die Vereinbarung den Kirchengemeinden auch „großes persönliches Engagement“ ab. „Ziel des Kirchenasyls ist es, in Kooperation mit den staatlichen Stellen eine Überprüfung und Neubewertung des konkreten Einzelfalles durchzuführen, um so humanitär verantwortbare Lösungen zu finden.“
Staatliche Stellen - damit ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) gemeint. Denn das Kirchenasyl fußt nicht auf einer gesetzlichen Grundlage, sondern auf einer Absprache der Katholischen und Evangelischen Kirche mit dem Bamf.
Genau diese Vereinbarung scheint immer mehr aufzuweichen. Aus dem Bericht von „netzpolitik.org“ geht hervor, dass es allein von Sommer 2023 bis Mitte Mai 2024 sechs versuchte oder vollzogene Räumungen von Kirchenasyl gab. Das sind, so wird es in dem Beitrag erklärt, innerhalb von zehn Monaten mehr Räumungen als in den gesamten zehn Jahren zuvor.
Besonders ein Fall sorgte in der jüngsten Vergangenheit für Aufsehen: Im niedersächsischen Bienenbüttel (Landkreis Uelzen) wurde eine russische Familie abgeschoben, obwohl sie unter dem Schutz der Kirche stand.
Räumung in Niedersachsen sorgte für Aufregung
Wie in einer Pressemitteilung der Kirche Uelzen zu lesen ist, verschaffte sich die Polizei am 12. Mai 2024 per Durchsuchungsbeschluss Zutritt zur Gemeindehauswohnung, wo das betroffene Ehepaar mit seinen Kindern - die Tochter 16 Jahre alt, der Sohn erwachsen - lebte.
Noch in der Nacht sei die Familie, die über ein spanisches Visum verfügte, nach Barcebola gebracht worden. In der Kirchengemeinde herrschte Entsetzen. „Wir sind geschockt vom Vorgehen der Landesaufnahmebehörde“, sagte Pastor Tobias Heyden damals.
„Der Zugriff und die Festnahme der Familie an einem Sonntag und die Missachtung des Kirchenasyls per se erschüttert und erschreckt uns zutiefst.“ Warum die russische Familie in Bienenbüttel untergebracht war, lässt sich schnell zusammenfassen.
Denn eigentlich, so steht es in der Pressemitteilung, besuchten die Eltern mit ihren Kindern Verwandte in Uelzen, als Sohn und Vater plötzlich zum Wehrdienst für die russische Armee eingezogen werden sollten. Am Krieg gegen die Ukraine wollten sich beide aber nicht beteiligen.
Familie wurde nach Spanien überführt
Die russische Familie stellte also einen Asylantrag in Deutschland - wegen der dort lebenden Verwandten und, weil sie laut einem Bericht der „AZ-online“ in Spanien keine Zukunftsperspektive sah.
Doch obwohl die Mutter psychisch schwer erkrankte und sich in medizinische Behandlung begab, lehnte das Bamf mit Hinweis auf das Dublin-Verfahren den Asylantrag ab. Grund war das spanische Visum der Familie.
Dann trat der evangelische Kirchenkreis auf den Plan, der die Gewährung von Kirchenasyl für sinnvoll hielt. Zum einen wegen des Gesundheitszustands der Mutter, zum anderen wegen der guten Integrationschancen der einzelnen Familienmitglieder, heißt es in der Pressemitteilung der Kirche Uelzen.
Das Bamf erkannte allerdings keinen Härtefall, wodurch es zum Polizeieinsatz und zur Überstellung nach Spanien kam. In den allermeisten Fällen geht es beim Kirchenasyl um eine Rückführung in den Ersteinreisestaat, nicht ins Herkunftsland der Betroffenen.
Kirchenasylräumung - ein Tabubruch?
Was in Bienenbüttel passiert ist, markiert für viele Beobachter einen Tabubruch. Unter anderem der Flüchtlingsrat Niedersachsen erklärte, dass seit 1998 keine Kirchenasylräumung mit anschließender Abschiebung mehr in Niedersachsen stattgefunden habe. „Seither verzichteten alle Landesregierungen auf ein gewaltsames Eindringen in Kirchenasylräume“, heißt es auf der Webseite des Vereins.
Der Fall in Niedersachsen ist nur ein Beispiel. Das Portal „Correctiv“ , bekannt für die Berichterstattung über das Potsdamer Remigrationstreffen, veröffentlichte am 3. September einen umfangreichen Beitrag zum Thema Kirchenasyl. Er trägt den Titel: „Mit aller Härte und BAMFherzigkeit“.
Darin taucht etwa der Fall einer sechsköpfigen, aus Afghanistan stammenden Familie auf, die in Schwerin im Kirchenasyl lebte. Genau wie in Bienenbüttel hatte das Bamf die Abschiebung angeordnet - wenn auch nur die der beiden volljährigen Söhne der Familie.
Wie „Correctiv“ berichtet, vermuten Vertreter der Kirchengemeinden im Land hinter der neuen Härte beim Kirchenasyl den politischen Druck, Geflüchtete ohne Bleiberecht schneller abzuschieben. Sie sind unruhig.
„Vermehrte Räumungen nehmen wir besorgt zur Kenntnis“
Die Pastorin Dietlind Jochims, Vorstandsvorsitzende bei der „Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche“, sagte dem Portal: „Die Zusicherung, dass der Staat das Kirchenasyl akzeptiert, wird mit zunehmendem Abschiebedruck aus der Politik brüchiger.“
Auch Kopp von der Deutschen Bischofskonferenz zeigt sich nachdenklich. „Die aktuell vermehrten Räumungen von Kirchenasyl nehmen wir besorgt zur Kenntnis. Wir werden die Entwicklungen weiter beobachten und in Gesprächen mit den zuständigen Behörden dafür werben, dass die Tradition des Kirchenasyls auch künftig respektiert wird“, sagt er.
FOCUS online konfrontierte Bamf und Bundesinnenministerium (BMI) mit den Kirchenasyl-Vorwürfen, die seit Monaten im Raum stehen. Doch keine der beiden Behörden reagierte auf die Anfrage.
Das BMI hielt sich auch gegenüber „Correctiv“ bedeckt. Dem Portal gelang es aber immerhin, mit Frank Schimmelpfennig, dem für die Dublin-Verfahren zuständigen Abteilungsleiter beim Bamf, zu sprechen.
Bamf-Abteilungsleiter sagt: „Kirchen haben die Fälle immer weiter erhöht“
Er sagte, beim Kirchenasyl drücke der Staat ohnehin ein Auge zu, da es sich nicht um ein gesetzlich verbrieftes Recht der Kirchen, sondern um eine lose Abmachung zwischen Staat und Kirche handele.
„Ein Kirchenasyl muss immer die Ultima Ratio sein, eine absolute Ausnahme. Tatsächlich haben die Kirchen aber die Zahl der Fälle, in denen sie mit besonderer Härte argumentieren, in den letzten Jahren immer weiter erhöht“, so Schimmelpfennig.
Das belegen auch Zahlen, die das Bamf auf Anfrage der „Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche“ herausgegeben hat. Waren es 2021 zum Beispiel noch 822 Kirchenasyl-Fälle, erhöhte sich der Wert auf 2065 im Jahr 2023. Nachzulesen ist das alles auf der Webseite des Vereins.
Nutzt die Kirche die Abmachung mit dem Staat also aus, um immer mehr Flüchtlinge im Land zu behalten? Nein, sagen die Kirchen.
Sie machten im Gespräch mit „Correctiv“ auf das Verhältnis zwischen Kirchenasyl-Fällen und den jährlich ankommenden Asylsuchenden aufmerksam. Das waren seit 2021 jedes Jahr weit mehr als 100.000. Im Kirchenasyl landet also nur ein kleiner Bruchteil der Schutzsuchenden.
Oberstes Ziel: Schutz der Menschenwürde
Kopp sagt: „2015 konnten sich die beiden großen Kirchen mit dem Bamf nach einer kontroversen Debatte über das Kirchenasyl auf eine Verfahrensabsprache verständigen.“
Laut dem Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz sei es wichtig, „dass Kirchengemeinden und Ordensgemeinschaften das Bamf mit einem sogenannten 'Dossier' über die humanitären Härten, die für den jeweiligen Schutzsuchenden befürchtet werden, informieren".
Und weiter: „Gleichzeitig muss staatlicherseits der Absprache entsprechend gewährleistet sein, dass eine gewissenhafte Prüfung der dargelegten Härten erfolgt und behördliche Entscheidungen den Maßstäben des Rechtsstaates gerecht werden.“
Denn: Oberstes Ziel der Rechtsordnung sei der Schutz der Menschenwürde. „Es muss Anspruch aller Beteiligten sein, rechtlich tragfähige und humanitär verantwortbare Lösungen zu finden“, so Kopp. „Aus Sicht der Deutschen Bischofskonferenz ist es daher besonders wichtig, dass die 2015 zwischen den beiden großen Kirchen und dem Bamf vereinbarte Verfahrensabsprache bei Kirchenasylfällen von allen Beteiligten weiter eingehalten wird.“
Fall aus Bienenbüttel hatte Folgen
Die Abschiebung der russischen Familie aus dem Kirchenasyl in Bienenbüttel blieb übrigens nicht ohne Konsequenzen. Niedersachsens Innenministerin Daniela Behrens (SPD), Landesbischof Ralf Meister, Vertreter von Kirche, Bamf und Landesaufnahmebehörde tauschten sich kurze Zeit später aus.
Behrens teilte daraufhin mit: „Die Landesregierung respektiert das Kirchenasyl und wird vor diesem Hintergrund keine weiteren Überstellungen oder Abschiebungen aus dem Kirchenasyl vornehmen.“