Nena und die andere Meinung - Deutschlands Wirtschaft wankt - warum will die Ampel das einfach nicht sehen?
Mir macht die rückläufige Wirtschaftsleistung in unserem Land große Sorgen - und ich bin verwundert über den fehlenden gesellschaftlichen Aufschrei. Manche träumen sogar vom „grünen Schrumpfen“. Schenken Sie mir einen Augenblick für beide Meinungen.
Im Video oben: Kurzarbeit und Stellenabbau: Droht Deutschland eine Arbeitslosenwelle?
Ich frage mich schon seit längerem: BASF, Miele, ZF – was muss noch passieren, damit die Ampel-Regierung, speziell die grünen Vertreter, den Untergang des Wirtschaftsstandorts Deutschland sehen?
Und wann erfolgt innerhalb unserer Gesellschaft endlich der große Protest? Man mag nun meinen, dass ich eine Schwarzmalerin bin. Schließlich ist das Wort „Untergang“ ein gewaltiges Wort.
Ich wähle es an dieser Stelle jedoch mit Bedacht. Obwohl ich ständig, nicht bloß auf LinkedIn, lese, dass wir Optimismus in unser Land einziehen lassen müssen, bin ich da anderer Meinung: Wir benötigen aktuell mehr denn je eine gehörige Portion Rationalität.
Wir müssen endlich aufwachen und können es uns mit Blick auf den Wirtschaftsstandort Deutschland keinesfalls erlauben, in optimistischen Zeiten zu leben.
Es ist niemandem geholfen, wenn wir wirtschaftliche Probleme ignorieren
Auch, wenn das auf den ersten Blick durchaus eine schöne und lobenswerte Idee ist, wie ich finde. Aber wir müssen einsehen, dass der deutsche Bundesadler inzwischen ein fetter, langsamer und immer älter werdender Dodo ist. Es ist niemandem geholfen, wenn wir die wirtschaftlichen Probleme ignorieren und uns in Schönmalerei verlieren.
Das für mich Wundersamste an unserer Zeit ist die Tatsache, dass selbst Länder wie Polen Deutschland ohne großen Aufschrei überholen.
Länder, die wir noch vor einigen Jahren bloß müde belächelt haben. Während Gewerkschaften im satten Deutschland die Vier-Tage-Woche, Gehaltserhöhungen und Home-Office fordern, legt sich Polen ins Zeug.
Polen ist nicht satt. Polen ist hungrig. Längst hat sich Polens Wirtschaft auch von den politischen Kapriolen im Land entkoppelt. Wussten Sie, dass Polen das einzige EU-Land war, das während der Wirtschaftsverlangsamung 2008-2009 keine Rezession erlebte? Längst ist Polen ein Zufluchtsort für deutsche Firmen geworden.
Internationale Konzerne haben Standorte in Polen
Die Lage: zentral. Die Fachkräfte: exzellent ausgebildet. Internationale Konzerne wie Bosch, Miele und Samsung unterhalten Standorte in Polen, aber auch die deutschen Familienunternehmen, die Hidden Champions, bauen ihre Unternehmungen in Polen aus.
Ein mittelständischer deutscher Betrieb mit kleinem Standort in Polen spart so nebenbei mal eben 400.000 Euro Gehaltskosten pro Jahr – bei besserer Arbeitsleistung. Ohne großes Risiko. Das sollte uns Deutsche doch ängstigen?
Warum tut es das nicht? Piotr Arak, Leiter des polnischen Wirtschaftsinstituts (PIE), erklärt: „Derzeit entscheidet sich fast jedes vierte europäische Unternehmen bei Produktionsverlagerungen für Polen.“
Die Gründe dafür: vielseitig. Fleiß, Disziplin – die Polen leben die einstigen deutschen Tugenden. Auch die Migration klappt besser. Während wir in Deutschland in der Vergangenheit private Flüchtlingsheimbetreiber wie European Homecare mit Geld überhäuft haben, besitzen die Polen diese finanziellen Ressourcen überhaupt nicht. 3000 Euro monatlich pro Flüchtling für einen Schlafplatz im Mehrbettzimmer? Für Polen undenkbar.
Deutschland fehlt es an guten Ideen
Kurt Abraham, CDU-Mitglied im Auswärtigen Amt, fasste es in seinem Statement gut zusammen: „Fachkräfte aus der Ukraine hat man in Polen besser integriert als bei uns, weil sie gezielt angeworben wurden und es geringere sprachliche und kulturelle Hürden gab.“
Dem Wirtschaftsstandort Deutschland fehlt es zusätzlich an neuen Ideen. Waren wir in den 50ern und 60ern das Silicon Valley, sind wir heute arm an Innovation und Kreativität.
Womöglich liegt es daran, dass der Mensch träge ist. Er muss leiden, am eigenen Leib spüren, dass es so nicht mehr weitergeht, bevor er sich bewegt, ehe er etwas ändert. Der Mensch ist in diesem Fall Deutschland.
Wir sind eines der vermögendsten Länder der Welt, Vize-Steuerweltmeister, und doch türmen sich in unserem Land die Probleme. Wenn man allein auf die Infrastruktur in unserem Land blickt, wird klar, dass wir alles, aber längst kein funktionierender Wirtschaftsstandort mehr sind.
Zeiten, in denen Deutsche stolz auf Infrastruktur sein konnten, sind vorbei
Die Zeiten, in denen man als Deutscher stolz sein konnte auf seine Infrastruktur, sind lange vorbei. Noch in den 90er Jahren wurde einem bei Reisen ins europäische Ausland bewusst, wie gut wir es in Deutschland haben.
In Polen war man erschüttert von dem desolaten Zustand nach dem kommunistischen Armutsregime und empfand Mitleid für die Menschen in diesem Land. In Italien war man zwar entzückt vom Flair eines antiken, bröckelnden Stadtbildes, aber dieser Eindruck war natürlich geprägt von Sonne und Urlaubsgefühl.
Mit nach Hause nehmen wollte man diesen Zustand gewiss nicht. Inzwischen finden wir unser Land in Infrastrukturrankings eher im europäischen Mittelfeld und bei neueren Themen, wie Glasfasernetz, auf den hinteren Rängen.
Manche begrüßen den Rückgang unserer Wirtschaftsleistung
Jeder von uns hat seine persönlichen Negativbeispiele zu Dauerbaustellen, Handyempfang oder Schlaglöchern. Liegt es an unserem mangelnden Steueraufkommen, dass wir uns nicht mehr leisten können?
NEIN! Zunächst mal ist unser gesamter Bundeshaushalt zweifelsfrei ergiebig genug für eine Weltklasse-Infrastruktur.
Ich behaupte aber, dass selbst das existierende Budget für das Bundesministerium für Digitales und Verkehr groß genug ist, um eine erheblich bessere Infrastruktur herzustellen.
Wir machen uns das Leben halt selber schwer und das in absurder Ausprägung. Aber anstatt alles daran zu setzen, unseren Wirtschaftsstandort in einem gesamtgesellschaftlichen Kraftakt fit für die Zukunft zu machen, begrüßen manche offenbar den Rückgang unserer Wirtschaftsleistung.
Und wir wären hier ja nicht bei „Nena und die andere Meinung“, wenn wir der anderen Meinung keinen Platz lassen würden. Nie haben wir in unserem Land Debatten aus beiden Blickwinkeln mehr benötigt!
Die andere Meinung
Eine prominente Frau, welche die rückgängige Wirtschaftsleistung Deutschlands nicht als Problem ansieht, sondern zu begrüßen scheint, ist die Publizistin Ulrike Herrmann.
Ihr Buch „Das Ende des Kapitalismus: Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden“ soll im vergangenen Jahr über 100.000 Mal verkauft worden sein.
Was eine wahnsinnige Leistung im aktuellen Buchmarkt ist, viel über die Stimmung in unserem Land aussagt und auch ein Stück weit den fehlenden gesellschaftlichen Aufschrei erklärt. Ich würde behaupten, dass das Buch in Ländern wie Polen kein Bestseller geworden wäre.
Auch wenn ich stets komplett anderer Meinung als Ulrike Herrmann bin, schätze ich Frau Herrmann. Wir haben in der Vergangenheit sowohl in der Sendung „Maischberger“ als auch in meinem damaligen „Bild“-Polit-Talk „Viertel nach Acht“ miteinander debattiert.
„Kapitalismus braucht Wachstum, um stabil zu sein“
Bei den Aufeinandertreffen erlebte ich Frau Herrmann stets als faire, respektvolle Diskutantin, die durchaus an anderen Ansichten interessiert ist. Kommen wir zu ihren Thesen:
Ulrike Herrmann ist, anders als ich, der Überzeugung, dass die Industrieländer sich vom Kapitalismus verabschieden und eine Kreislaufwirtschaft anstreben müssen, in welcher nur noch verbraucht wird, was sich recyceln lässt.
Selbst die für mich wirtschaftsfeindliche Idee des „grünen Wachstums“ ist Herrmann nicht genug. Sie hält das für eine Illusion. In einem „taz“-Interview erklärte Herrmann:
„Der Kapitalismus braucht Wachstum, um stabil zu sein. Und deswegen gibt es diese Idee des ‚grünen Wachstums‘. Diese Option ist aber eine Illusion. Ganz einfach, weil die Ökoenergie nicht reichen wird. Man muss Strom speichern, um diesen Kapitalismus permanent befeuern zu können. Und diese Speichertechnologien sind wahnsinnig aufwendig.“
Herrmann plädiert für eine Überlebenswirtschaft
Ihr Fazit: „Deswegen ist klar, dass Ökostrom knapp und teuer bleiben wird und nicht reicht für grünes Wachstum. Es läuft hinaus auf grünes Schrumpfen.“ Herrmann plädiert für eine Überlebenswirtschaft:
„Wenn man die Wirtschaftsleistung halbieren würde, würden wir auf dem Stand von 1978 leben. Wir wären also nicht in der Steinzeit. Es war das Jahr, in dem Argentinien Fußballweltmeister wurde und Star Wars Teil Eins in die Kinos kam. Es wäre auch nicht einfach ein Rückschritt.“
Herrmann denkt so: „Teile des technischen Fortschritts, etwa in der Medizin, könnte man auch weiterhin genießen. Auch das Smartphone könnte man weiterhin haben. Wofür es aber nicht reichen wird, das sind Flugzeuge. Da wird einfach die Ökoenergie nicht reichen. Auch nicht für E-Autos. Das ist aber nicht das Ende der Mobilität. Man kann auch Bus fahren, aber private Autos wird es nicht mehr geben.“
Wenn ich die Aussagen von Ulrike Herrmann so auf mich wirken lasse, verstehe ich, warum nicht nur sie, sondern auch einige Politiker, die mit grünem Schrumpfen für unser Land durchaus liebäugeln, die rückläufige Wirtschaftsleistung unseres Landes nicht ängstigt, sondern anscheinend in Freudentaumel versetzt. Wohingegen mich die deutsche Wirtschaftslage nicht nur ängstigt, sondern in Alarmbereitschaft versetzt.
Sind Sie Team Herrmann oder Team Brockhaus?
Doch was mir viel wichtiger als meine eigenen Ansichten sind, sind die Ihren, liebe Leser. Sind Sie diese Woche Team Herrmann oder Team Brockhaus? Team grünes Schrumpfen oder Team Standortrettung? Seien Sie sich gewiss, ich lese immer all Ihre Kommentare, Mails und Zuschriften.
Wenn Sie mögen, lesen wir uns nächste Woche Samstag wieder! Bleiben Sie so debattierfreudig, wie Sie sind! Ich freue mich durchaus auch immer über Kommentatoren, die so gar nicht meiner Meinung sind. Leidenschaftliche politische Debatten sind das Lebenselixier einer funktionierenden Demokratie. Davon bin ich überzeugt und möchte mit meiner wöchentlichen Kolumne „Nena und die andere Meinung“ meinen Beitrag dazu leisten.
Ihre Nena Brockhaus