Nena und die andere Meinung - Wir streiten über Angela Merkel – dann fällt plötzlich Baerbocks Name
Alt-Kanzlerin Angela Merkel stellt ihr Buch vor - und es hagelt Kritik. Für mich ist dieser Spott ein typisch deutsches Phänomen. Meine Ex-Kollegin, die NZZ-Journalistin Beatrice Achterberg, sieht es anders und erklärt, warum sie Merkel für ihre 16-jährige Regierungszeit eine glatte Fünf gibt.
Über Angela Merkels Biografie möchte ich mit einer Journalistin debattieren, die ich sehr gut kenne und schätze: Beatrice Achterberg. Sie ist politische Redakteurin bei der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) und ein kluger Kopf.
Wir kennen uns durch meinen damalige BILD-Talk „Viertel nach Acht“. Beatrice war in der Redaktion tätig, bevor sie sich für die NZZ entschied. Man kann sagen, dass wir während der Corona-Pandemie Seite an Seite für einen kritischeren Journalismus in Deutschland mit Blick auf die Corona-Maßnahmen gekämpft haben.
Den Gegenwind haben wir gemeinsam ausgehalten und täglich Gästen eine Bühne geboten, die nicht einverstanden waren mit den Maßnahmen. Wir haben aber auch mit den Corona-Granden wie Karl Lauterbach, Frank Montgomery und Co. gesprochen. Uns war immer die Ausgewogenheit wichtig.
Ich und Beatrice Achterberg: Bei Merkel gehen unsere Meinungen auseinander
Beatrice war damals die Erste in der Redaktion, die laut forderte, dass wir über die Impfnebenwirkungen berichten müssen. Was wir dann auch taten. Wir waren die Ersten, die sich das in großem Stil trauten. Darauf bin ich stolz. Auch auf unsere konstante Kritik an 2G und auf unsere investigativen Recherchen zu den Maßnahmen.
Auf viele Themen kam Beatrice. Ihr Widerspruchsgeist ist selten in der Medienbranche. Leider. Auch auf X führt sie regelmäßig Debatten an. Oft stimme ich ihr zu. Nur was Angela Merkel betrifft, selten. Ich greife also zum Hörer und rufe sie an. Ich bin gespannt, was sie über Angela Merkels Biografie denkt, die diese Woche erschienen ist.
Brockhaus Beatrice, wo erreiche ich dich?
Achterberg: Hi Nena, ich bin gerade im Zug auf dem Weg nach Berlin zu einem Abendessen mit Freunden.
Brockhaus: Beatrice, ich habe auf X deinen Tweet zu Angela Merkels Biografie gelesen. Du schriebst: „Möchte die Feuilleton-Kritik sehen, die diese Merkel-Rezension auf Amazon toppt.“ Beigefügt hast du eine sehr kritische Amazon-Rezension. Fandest du die Kritiken der Presse zu seicht?
Achterberg: Ich muss das an dieser Stelle revidieren. Es gab durchaus kritische Rezensionen im Spiegel und in der Süddeutschen Zeitung, die hart mit Merkels Werk ins Gericht gegangen sind. Die Amazon-Kritik war trotzdem gut, aber es gab auch in der Presse scharfe Rezensionen.
„Die Kritik an Merkel und ihrem Buch ist für mich typisch deutsch“
Brockhaus: Ich sehe Merkels Regierungszeit auch teilweise sehr kritisch. Insbesondere die Corona-Politik. Aber ich verstehe nicht die Häme, die teilweise über Merkels Biografie ausgeschüttet wird. Vor allem wenn man bedenkt, dass andere Biografien, beispielsweise die von Michelle Obama, so gefeiert wurden. Klar kommen wir Journalisten nicht zum Applaudieren, sondern zum Kritisieren. Aber für mich ist diese Häme teilweise typisch deutsch.
Achterberg: Mir mangelt es in ihrem Buch an Selbstkritik. Es ist nicht so, dass Merkel in ihren 16 Jahren keine Fehler gemacht hätte. Das ist wohl auch kaum möglich, ein solch hohes Amt so lange innezuhaben, ohne Fehleinschätzungen zu treffen.
Trotzdem hätte ihrer Biografie mehr Selbstreflexion gutgetan. Beispielsweise für die Zeit der Flüchtlingskrise oder die Corona-Jahre hätte ich erwartet, dass sie Irrtümer einräumt. Und es gibt auch Gegenbeispiele. Die Biografie von Boris Johnson, dem ehemaligen Premierminister von Großbritannien, ist auch deshalb so ein Kassenschlager, weil er knallhart zu sich selbst ist und sagt: Da und da habe ich falsch regiert. Seine Biografie ist übrigens auch sehr witzig im Gegensatz zu der von Merkel.
Brockhaus: Wenn Boris Johnson das ernst meint, toll. Doch mir ist eine standhafte Persönlichkeit wie Merkel lieber, die bei ihren Überzeugungen bleibt. Anstatt dieser Wendehals-Politiker, die sich immer nach den Umfragewerten drehen. Markus Söder ist für mich so ein typischer Wendehals-Politiker. Er sagt, was den Leuten gefällt. Was ich meine: Merkel hätte sich mit mehr Selbstkritik einen schlanken, beliebten Fuß machen können. Hat sie aber nicht. Mir imponiert ihre Standhaftigkeit sehr.
„Mit Putin alles richtig gemacht? Das hat mich schon erstaunt“
Achterberg: Ich verstehe, was du meinst. Ich denke, es sollte einen Mittelweg geben zwischen Opportunisten und der Haltung ‚Ich habe alles richtig gemacht.‘ Gerade in einer ausführlichen Biografie muss Raum dafür sein, mit etwas Abstand auf bestimmte Themen oder historische Ereignisse zurückzublicken und zu sagen: „Das würde ich heute anders machen“.
Brockhaus: Gibt es da ein Beispiel für dich?
Achterberg: Also dass Merkel meint, im Umgang mit Wladimir Putin alles richtig gemacht zu haben, hat mich schon erstaunt.
Brockhaus: Gibt es denn auch etwas, das dir an ihrer Biografie gefällt?
Achterberg: Überraschenderweise fand ich ihre Kindheitserinnerungen ganz nett zu lesen. Stilistisch zwar etwas nüchtern, aber da habe ich noch etwas über die Ex-Kanzlerin dazugelernt. Das repressive Klima der DDR hat sie in kleinen Anekdoten gut erklärt.
Brockhaus: Mir haben auch Merkels Jugenderinnerungen sehr gefallen. Ich fand ihren ungewöhnlichen Werdegang spannend. Wie deutlich sie erklärt, wie schwierig es war, in diesem System zu leben. Wie ihre Eltern sie geschützt haben. Deswegen fand ich auch den Buchtitel Freiheit gut gewählt, weil ich fand, das ist das, was sie anstrebt. Auch imponiert mir ihre Integrität und Bodenständigkeit.
„Erinnere dich an Baerbocks Buch, das ein Ghostwriter geschrieben hat“
Achterberg: Sie ist von ihrer ganzen politischen Rolle mit dem Buch nicht abgewichen. Wenn man freundlich sein will, kann man sagen, „Freiheit“ ist die Krönung ihrer politischen Laufbahn, denn sie ist sich mit der Schreibweise selbst treu geblieben. Ich hätte mir halt, wie gesagt, mehr spannende Details gewünscht, mehr politisches Hinterzimmer. Es ist im Stil einer fleißigen Sachbearbeiterin verfasst.
Brockhaus: Dafür würde ich Merkel auch loben. Wenigstens schreibt unsere frühere Kanzlerin ihre Biografie gemeinsam mit ihrer engsten Weggefährtin Beate Baumann selbst. Erinnere dich an Annalena Baerbocks Buch, das ein Ghostwriter geschrieben hat. Ich mag das viel lieber, wenn jemand sein Buch selbst schreibt. Auch wenn der Schreibstil darunter leidet. Kommen wir zur allgemeinen Merkel-Bewertung. Welche Note würdest du ihr für ihre Amtszeit geben?
Achterberg: Eine Fünf. Mangelhaft. Wegen der Flüchtlingskrise. Du?
Brockhaus: Eine Drei. Also befriedigend. Ich finde, die ersten Jahre ihrer Kanzlerschaft waren gut. Stichwort: Eurokrise, Finanzkrise. Die letzten acht Jahre waren nicht gut. Stichwort: Flüchtlingskrise, Corona-Pandemie. Sechzehn Jahre sind einfach eine zu lange Amtszeit. Insgesamt komme ich auf eine Drei.
Achterberg: Merkel hat einige folgenschwere Weichenstellungen vorgenommen, die heute kaum mehr rückgängig zu machen sind. Dazu gehört die Asylkrise, die sie aus historischer Perspektive falsch gehandhabt hat und die bis heute nicht unter Kontrolle ist. Auch der vorzeitige Ausstieg aus der Atomenergie gehört für mich dazu.
Brockhaus: Einspruch! Es wollte damals die Bevölkerung. Das wäre mit allen Politikern wegen Fukushima passiert. Und die Ampel hat die letzten Meiler runtergenommen und damit den großen Traum der Grünen erfüllt.
„Eine Mischung aus ‚Gottes Werk und Teufels Beitrag‘“
Achterberg: Liebe Nena, lass mich den Gedanken kurz abschließen. Es ist eine Mischung aus „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ – Merkels Werk und Scholz’ Beitrag. Die Ampel-Koalition hat den Ausstieg endgültig besiegelt, obwohl man ihn noch hätte rückgängig machen können. Doch Merkel hatte mit ihrer Strategie, linke und grüne Themen einzuhegen, der Union das voreilige Ende der Kernkraft eingebrockt und damit Deutschlands Energiesicherheit langfristig gefährdet.
Und ein weiteres Thema, das nicht vergessen werden sollte, sind ihre Maßnahmen während der Pandemie wie die sogenannte ‚Coronaleine‘, die ebenfalls auf ihr politisches Konto gehen.
Brockhaus: Absolut. Für die Corona-Pandemie gebe ich ihr auch ein mangelhaft. Ich werde nie verstehen, wie sie als gläubige Christin zulassen konnte, dass Menschen alleine sterben. Ein schönes Ende für unsere Debatte. Bei der Corona-Pandemie sind unsere Ansichten wie seit jeher deckungsgleich. Hab einen schönen Abend!
Wir legen auf.
Jetzt interessiert mich – wie jede Woche – Ihre Meinung: Wie bewerten Sie Merkels Memoiren und ihre Kanzlerschaft? Seien Sie sich gewiss: Ich lese immer all Ihre Kommentare – jeden einzelnen. Jede Woche.
In diesem Sinne: Wenn Sie mögen, lesen wir uns nächste Woche Samstag wieder.
Ihre Nena Brockhaus