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Neue Erkenntnisse im Fall Oury Jalloh? Der kontroverse Fall dahinter

Der 36-jährige Oury Jalloh wird, weil er nicht mit der Polizei kooperiert haben soll, festgenommen und in eine Gewahrsamszelle gebracht. Wenige Stunden später wird sein stark verbrannter Leichnam in der Zelle aufgefunden. Was ist am 7. Januar 2005 in der Zelle in Dessau-Roßlau passiert?

Ein Demonstrant neben einem Banner:
Ein Banner zum Fall Oury Jalloh: "Das war Mord". (Bild: Sean Gallup/Getty Images)

Offiziell heißt es von Seiten der Polizei, dass Oury Jalloh eigenhändig seine Matratze in Brand gesteckt haben soll, um damit die Aufmerksamkeit der Beamten zu erregen, und dabei selbst verbrannt wäre. Das würde nicht nur bedeuten, dass er es trotz Leibesvisitation geschafft hätte, ein Feuerzeug in die Zelle zu schmuggeln, sondern auch, dass es dem an Händen und Beinen auf der Matratze fixierten Mann außerdem gelang, an eben dieses Feuerzeug heranzukommen und es zu nutzen, um ein Feuer zu entfachen.

Fall Oury Jalloh: Vergessliche Beamten, verschwundene Beweismittel

Doch der Fall wird noch merkwürdiger. Beispielsweise wird normalweise genau per Video dokumentiert, wie eine Leiche am Tatort vorgefunden wird, und wie Spuren gesichert werden. Ein solcher Clip existiert hier jedoch nicht - angeblich, weil es an diesem Tag einen Stromausfall auf dem Revier gab, so der verantwortliche Beamte. Doch nachweislich entspricht das nicht der Wahrheit, berichtet der "Tagesspiegel".

Polizisten erinnern sich angeblich nicht mehr an Besprechungen, die nur wenige Tage zurückliegen. Dateien auf Polizeicomputern wurden gelöscht und die dazugehörigen Sicherheitskopien ebenfalls. Beweismittel fehlen, zum Beispiel die Metallschelle, in der Jallohs rechte Hand steckte, mit der er die Matratze in Brand gesteckt haben soll, wurde einfach vom Hausmeister entsorgt, das Fahrtenbuch der Beamten, die Jalloh festnahmen, ist spurlos verschwunden.

War Jalloh bereits bewusstlos oder fast tot, als das Feuer ausbrach?

Und auch ein forensisch-radiologisches und ein toxikologisches Gutachten des Toten werfen weitere Fragen auf. So soll Oury Jalloh vor seinem Tod nicht nur einen Rippenbruch, sondern auch ein "Bruchsystem in das vordere Schädeldach" erlitten haben, Hinweise darauf, dass er in Polizeigewahrsam misshandelt worden sein könnte. Gegenüber der Journalistin Margot Overath soll ein Dessauer Polizist bestätigt haben, dass Oury Jalloh von mindestens fünf Beamten massiv verprügelt wurde.

Der forensische Toxikologe Gerold Kauert geht sogar noch einen Schritt weiter und schließt die offizielle Erklärung der Selbstanzündung gänzlich aus. Er ist davon überzeugt, dass Oury Jalloh bereits bewusstlos oder vielleicht sogar schon fast tot gewesen sein muss, als das Feuer ausbrach. Denn bei der Untersuchung des Toten fand er weder Stresshormone, die der Körper ausgeschüttet hätte, hätte er das Feuer noch bewusst mitbekommen, noch typische Brandgase wie Kohlenmonoxid oder Blausäure.

Auch mehrere Brandrekonstruktionen sprechen gegen die angebliche Selbstanzündung Jallohs. Nachdem Ermittler und Gerichte selbst auf eine Rekonstruktion verzichteten, sammelten Freunde des Verstorbenen Geld und beauftragten den irischen Brandgutachter Maksim Smirnou. Dieser baute die Zelle aus Dessau-Roßlau mit einer typgleichen Matratze nach - und kam zu dem Ergebnis, dass der offizielle Hergang unmöglich sei.

Ausgehend von diesem Gutachten, beschloss schließlich auch die Staatsanwaltschaft den Brand von eigenen Experten nachstellen zu lassen und kam zu dem gleichen Ergebnis. Zudem kam auch die Vermutung auf, dass Brandbeschleuniger genutzt worden war. Wenn man weiter der Version der Polizei glauben wollen würde, hieße das, dass Oury Jalloh nicht nur das Feuerzeug unbemerkt in die Zelle geschmuggelt hätte, sondern auch ein Gefäss mit einer brandbeschleunigenden Flüssigkeit. Mit der er sich dann übergoßen und anschließend angezündet haben soll, während er weiterhin an Händen und Beinen gefesselt war.

Aufklärungs-Initiative verspricht neue Erkenntnisse zum tatsächlichen Ablauf

Bereits in mehreren Gerichtsverfahren wurde versucht Jallohs Tod aufzuklären. Tatsächlich kam es jedoch nur zu einem Urteil wegen fahrlässiger Tötung. Ein Dienstgruppenleiter des Polizeireviers wurde zu einer Geldstrafe in Höhe von 120 Tagessätzen zu je 90 Euro (insgesamt 10.800 Euro) verurteilt. Dafür, dass er angeblich den Feueralarm ignoriert haben soll, der durch den Brand in der Zelle ausgelöst wurde.

Von Jahresanfang bis August 2020 beschäftigten sich zwei Sonderermittler mit dem Fall. In einem 303-seitigen Abschlussbericht kamen sie zu dem Ergebnis, dass das Handeln der Polizei im Fall Oury Jalloh fehlerhaft und "rechtswidrig" gewesen sei. Die Einstellung des Verfahrens sei jedoch "nachvollziehbar und angesichts der Beweislage sachlich und rechtlich richtig".

Es ist allerdings kaum verwunderlich, dass der Fall Oury Jalloh trotz dieses finalen Gutachtens auch heute noch (16 Jahre später) weiter diskutiert wird. Eine Aufklärungs-Initiative stellte nun erneut Erkenntnisse für ein Fremdverschulden vor. Dazu wurde in einer Pressekonferenz am heutigen Mittwoch, den 3.11., ein Film präsentiert.

Es sei gelungen, "den Brandverlauf und den Tatort zu rekonstruieren", so die Initiative. Daraus ergäben sich neue Erkenntnisse zum tatsächlichen Ablauf, der durch eine "professionelle Visualisierung" eines Filmemacher sichtbar gemacht würde. In der dazugehörigen Pressemitteilung heißt es, dass der internationale Brandexperte Iain Peck zu dem Ergebnis gekommen sei, dass "Oury Jalloh weder den Bewegungsspielraum noch andere Möglichkeiten hatte, die Matratze selbst anzuzünden", und daher angezündet worden sein muss.

Die Familie des Verstorbenen fordert die sofortige Wiederaufnahme der Ermittlungen wegen Mordes gegen die Polizeibeamten des Reviers und stellt außerdem Anzeige wegen Strafvereitelung gegen die für die Einstellung der Mordermittlungen zuständigen Oberstaatsanwälte, schreibt die Initiative abschließend in der Mittleitung.

Ob die neuen Erkenntnisse tatsächlich für ein neues Verfahren sorgen, bleibt jedoch derzeit noch fraglich.

(mit Material von dpa)

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