Neue Migrationsbewegungen möglich - „Zeit der Abrechnung“: Experte erklärt, was Syrien-Chaos für Deutschland bedeutet

Ein syrischer Oppositionskämpfer schießt in die Luft, um den Fall der Hauptstadt Damaskus an die Oppositionskräfte zu feiern.<span class="copyright">Ghaith Alsayed/AP</span>
Ein syrischer Oppositionskämpfer schießt in die Luft, um den Fall der Hauptstadt Damaskus an die Oppositionskräfte zu feiern.Ghaith Alsayed/AP

Nach dem Assad-Sturz in Syrien kommt es jetzt auf die Mäßigung der Islamisten und den türkischen Präsidenten Erdoğan an. Politikwissenschaftler Joachim Krause erklärt im Interview, wie es im Land weitergehen könnte und welche Migration Deutschland jetzt stoppen muss.

FOCUS online: Herr Krause, der Bürgerkrieg in Syrien ist in den vergangenen Jahren immer mehr aus der Wahrnehmung verschwunden, der blutige Bürgerkrieg kam zu keinem Ende. Warum ist Diktator Baschar als-Assad gerade jetzt gestürzt?

Joachim Krause: Die Syrer haben eine Gelegenheit genutzt, die sich aus der Schwäche von Assads Verbündeten ergeben hat. Der wichtigste Verbündete war die Hisbollah, die aber zuletzt von Israel ausgebremst wurde. Außerdem haben die Syrer davon profitiert, dass die Ukraine Russlands Armee so stark abgenutzt hat, dass Wladimir Putin nicht mehr die Fähigkeiten hatte , um in den Bürgerkrieg einzugreifen. Und umgekehrt hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Rebellen nicht nur unterstützt, sondern diese offenkundig auch dazu veranlasst, sich moderat zu geben.

Das heißt, dass Assad sich schon lange nicht mehr aus eigener Kraft halten konnte?

Krause: Genau, das konnte man seit 2016 beobachten. Assad konnte sich nur durch Verbündete halten – und durch Grausamkeit. Er hat Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt, das hat bislang kein Herrscher dieser Welt getan.

„Ziemliches Durcheinander“ unter Führung von Islamisten

Wer sind die Gruppen, die Assad jetzt gestürzt haben?

Letztlich ist das ein ziemliches Durcheinander. Vor allem war es aber Hajat Tahrir al-Scham (HTS). Ursprünglich war es ein Ableger von al-Quaida, hatte also eine extreme islamistische Ideologie. Angeblich hat sich die Gruppe aber gemäßigt. Dennoch haben manche Beobachter die Sorge, dass HTS nun ein brutales Islamistenregime in Syrien einsetzt.

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Wie wahrscheinlich ist das?

Abu Muhammad al-Dscholani, der Anführer von HTS, hat zu Recht die Tatsache gewürdigt, dass Syrien ein Staat mit unterschiedlichen Religionen und Ethnien ist. Ob er das wirklich umsetzen wird, werden wir sehen. Zumindest bislang scheint es aber keine Übergriffe auf Christen oder Alawiten gegeben zu haben in Aleppo. Wichtig wird aber auch die Frage sein, wie er sich zu den Kurden verhält.

Wie meinen Sie das?

Die Kurden, die den Nordosten von Syrien kontrollieren, sind eine ernstzunehmende politische und militärische Kraft. Das Schlimmste, was HTS jetzt tun könnte, wäre, sich mit den Kurden anzulegen. Dann hätten wir einen Bürgerkrieg 2.0 in Syrien . HTS muss alle Religionen und Ethnien einbeziehen, statt ein Islamisten-Regime wie in Afghanistan zu errichten.

„Jetzt beginnt die Zeit der Abrechnung in Syrien“

Wie wird es nun konkret weitergehen?

Es wird zunächst keine Ruhe einkehren. Jetzt beginnt die Zeit der Abrechnung. Die Anhänger des mörderischen Assad-Regimes versuchen jetzt ins Ausland zu fliehen, deshalb sieht man massenhaft Leute, die zum Flughafen in Damaskus wollen. Das wird aber vielen nicht gelingen. Jeder in Syrien kennt Leute, die Familienangehörigen oder Freunden etwas angetan haben. Die Frage ist nun, ob das in Gerichtsverfahren endet oder ob unmittelbare Vergeltung praktiziert wird.

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Wie könnte eine gute Ordnung nach dem Bürgerkrieg aussehen?

Es ist positiv, dass der anders als Assad im Land verbliebene Ministerpräsident und die Armeeführung versuchen, einen zivilen Übergang herbeizuführen. Das ist deeskalierend. Entscheidend ist, dass HTS und Kurden ins Gespräch kommen. Es gibt aber einen Risikofaktor, das ist der türkische Präsident Erdoğan. Er will die Kurden in Syrien schwächen. Er könnte versuchen, HTS gegen die Kurden aufzuhetzen. Das hätte dramatische Folgen für das Land und die ganze Region. Ich vermute, dass Amerikaner, Saudis und Kataris alles unternehmen werden, um ihn davon abzuhalten.

Welche Folgen hat der Sturz Assads für die ehemals Verbündeten Iran und Russland?

Für beide ist das eine bittere Niederlage. Der Iran wird in den nächsten Monaten und Jahren vermutlich keine Rolle mehr in Syrien spielen. Die Syrer werden nicht vergessen, welche Rolle das Land beim Machterhalt Assads gespielt hat. Und Putin erfreut sich ebenso geringer Beliebtheit unter den Syriern, denn es waren seine Luftstreitkräfte, die gnadenlose Bombardements gegen syrische Städte zu verantworten hatten. Auch die Hisbollah im Libanon wird geschwächt, denn der Nachschub an Waffen lief durch Syrien.

Jetzt gibt es zwei Migrationsszenarien

In der Vergangenheit sind zahlreiche Syrer nach Deutschland geflohen. Was bedeutet die Lage für neue Migrationsbewegungen?

Wenn die Dinge sich negativ entwickeln und Syrien weiter im Bürgerkrieg bleibt, könnten weitere Menschen fliehen und diejenigen, die bereits geflohen sind, werden im Ausland bleiben. Es kann aber auch sein, wenn es einen friedlichen Übergang und eine gemäßigte Regierung gibt, dass in Deutschland lebende Syrer in ihre Heimat zurückkehren werden. An ihrer Stelle würde ich aber zunächst genau beobachten, wie die Lage sich entwickelt.

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In sozialen Medien haben die Aufständischen explizit geschrieben: „An die Vertriebenen weltweit, ein freies Syrien erwartet euch.“ Warum?

Das gehört zur Strategie von HTS und al-Dscholani, sich als gemäßigt und offen zu geben. Das Land ist aber auch völlig am Ende infolge des jahrelangen Krieges des Assad-Regimes gegen die Bevölkerung. Es muss einen Wiederaufbau geben, bei dem könnten Heimkehrer natürlich auch nützlich sein.

Was der Syrien-Sturz für Deutschland bedeutet: „Ich würde dringend davon abraten, diese Leute aufzunehmen“

Was bedeuten diese möglichen Migrationsbewegungen für Deutschland?

Wir werden uns damit auseinandersetzen müssen, dass jetzt auch vermehrt Unterstützer des Assad-Regimes flüchten werden. Ich würde dringend davon abraten, diese Leute aufzunehmen. Von ihnen geht zwar keine unmittelbare Gefahr für die Sicherheit in Deutschland aus, aber in Syrien haben sie massenweise Morde zu verantworten.

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Inwiefern kann oder sollte Deutschland sich denn politisch in Syrien einmischen?

Realistischerweise sind unsere Möglichkeiten sehr begrenzt. Es gibt bestimmt Kontakte in die Region, aber unter Assad konnte man diese schwer ausbauen. Insofern bleibt zu hoffen, dass es eine gemäßigte Regierung geben wird und dann können wir Hilfe beim Wiederaufbau leisten.