Analyse: Die neue Regierung wird teuer, ungerecht und nicht modern

In einer Nachtsitzung haben Union und SPD den Koalitionsvertrag festgezurrt. Warum das Papier in vielen Punkten enttäuscht – und welche Vorhaben zumindest ein bisschen was für die Zukunft versprechen.

In einer Nachtsitzung haben Union und SPD den Koalitionsvertrag festgezurrt. Warum das Papier in vielen Punkten enttäuscht – und welche Vorhaben zumindest ein bisschen was für die Zukunft versprechen.

Von Sven Böll, Max Haerder, Elisabeth Niejahr, Marc Etzold, Christian Ramthun, Cordula Tutt und Thomas Schmelzer

Zweieinhalb Wochen haben Union und SPD verhandelt. In der vergangenen Nacht haben sie in einer Marathonsitzung die letzten strittigen Punkte abgeräumt und Posten verteilt. Jetzt steht der Koalitionsvertrag. Auf 177 Seiten handeln die neuen Großkoalitionäre 13 Großthemen ab. Wirtschaftsvertreter schlagen bereits Alarm, die Opposition regt sich über die Postenverteilung auf.

Aber auf was haben sich Union und SPD geeinigt? Was planen sie für die nächsten Jahre? Und was bedeuten die Kompromisse für Unternehmen und Bürger?

WiWo-Redakteure geben eine erste Einschätzung zu den wichtigsten Themen.

Rente

Vor einigen Wochen bereits warnte der Wirtschaftsweise Lars Feld vor einer „unheiligen Allianz“ von Union und SPD – er hat Recht behalten. Die vereinbarten Reformen in der Alterssicherung werden teuer, sind nicht nachhaltig finanziert, schaffen neue Ungerechtigkeiten und wirken meist nicht einmal zielgenau.

Das stabile Rentenniveau bis 2025 ist ein Signal an die Generation über 55+, dass ihre Rente sicher ist. Allerdings nur auf Kosten der Beitragszahler, die mit steigenden Sozialabgaben rechnen müssen – und unter dem Vorbehalt, dass später neue Milliarden aus der Staatskasse zugeschossen werden. Ende vollkommen offen.

Die neue Grundrente für Hartz-IV-Empfänger, die 35 Beitragsjahre vorweisen können, dürfte tatsächlich nur wenigen Menschen zugutekommen. Gegen Altersarmut hätte es klügere Instrumente gegeben.

Dazu vereinbart Schwarz-Rot ein weiteres Draufsatteln bei der Mütterrente. Das bedeutet weitere rund 3,4 Milliarden Euro für eine Generation von Ruheständlern, die zumeist gut bis sehr gut abgesichert sind.

Und: Selbstständige werden sich künftig entscheiden müssen, ob sie privat oder gesetzlich für den Ruhestand vorsorgen. Das dürfte noch für einige Diskussionen sorgen, weil es auf die Details im Gesetz ankommen wird, ob der Gang in die gesetzliche Kasse sich lohnen wird.

Unterm Strich bedeuten die Pläne eine Fortsetzung der schwarz-roten Politik von 2013 bis 2017. Und das ist nicht als Lob zu verstehen.

Arbeit

Der bis zuletzt umstrittenste Punkt war der Umgang mit sachgrundlosen Befristungen. Wer den Koalitionsvertrag liest, stellt fest: ein plakatives Ende dieses Instruments wird es nicht geben. Vielmehr stellt der komplizierte Passus Regeln auf, um Missbrauch mit aneinander geketteten Fristverträgen zu unterbinden. Für die Wirtschaft kommt es damit deutlich weniger hart als befürchtet - für die SPD-Basis dürfte es hingegen eine Enttäuschung sein. Allem Wortgeklingel zum Trotz, dass die SPD ins Papier hineingeschrieben hat.

Angesichts des Job-Booms der vergangenen Jahre ist beim Thema Arbeit weniger vereinbart worden als etwa in der Rentenpolitik. Für 150.000 Langzeitarbeitslose soll ein sozialer Arbeitsmarkt geschaffen werden. Die Kosten dieser Maßnahme sind sehr hoch: bis zu vier Milliarden Euro sind hierfür eingeplant.

Das schon in der vergangenen Wahlperiode vereinbarte – und immer wieder diskutierte – Rückkehrrecht aus Teilzeit in Vollzeit soll nun auf Drängen der SPD kommen. Es ist im Papier sehr exakt geregelt, wird allerdings erst für Firmen mit mehr als 45 Mitarbeitern greifen. Das dürfte dem Vorhaben die Schärfe nehmen.

Ein weiteres interessantes Detail: Die bestehende Regulierung der Zeitarbeit soll 2020 „evaluiert“ werden. Das dürfte bedeuten, dass es in dieser Wahlperiode allein aus Zeitgründen keine weitere Reform oder gar neue Einschränkungen geben wird.

Steuern

Einer der wenigen Paradigmenwechsel von der alten zur neuen GroKo wird beim Betrachten des Finanztableaus deutlich. Galt zuletzt die Devise, zusätzlich Spielräume zu jeweils einen Drittel für Investitionen, für Schuldentilgung und für Steuerentlastungen zu verwenden, ergibt sich nun eine völlig neue Gewichtung: Schuldenabbau Null, Steuerentlastung ein gutes Viertel, Investitionen ein gutes Drittel und Soziales ein weiteres Drittel – und zwar ausgehend von einem finanziellen Spielraum von 46 Milliarden Euro.

Die Steuerentlastung ist bei genauerer Betrachtung ein Euphemismus, da das Steueraufkommen in der neuen Legislaturperiode um 170 Milliarden Euro gegenüber der vorherigen Wahlperiode steigen dürfte. Allerdings sind die Mehreinnahmen schon zum großen Teil von der letzten Merkel-Regierung verplant worden.

Somit bleibt zur Entlastung der Steuerzahler kaum etwas übrig – und was bleibt, wird nach Bedürftigkeit verteilt. Wer mehr als 60.000 Euro im Jahr verdient, muss auch über das Jahr 2020 hinaus den Solidaritätszuschlag zahlen. Die höherverdienende Minderheit hat offenbar keine Lobby in der großen Koalition. Das gilt auch für die Wirtschaft. Wer nicht gerade in der Baubranche tätig ist oder zu den Existenzgründern gehört, geht leer aus. Angesichts des globalen Wettbewerbs, den gerade die USA mit einer kräftigen Steuersenkung für Unternehmen anheizen, dürfte der Stillstand in den Wirtschafts- und Finanzpolitik deutsche Unternehmen in die Defensive drängen.

Verkehr und Mobilität

Zu großen Teilen will die neue große Koalition die Verkehrspolitik der alten fortsetzen: Die Investitionen sollen mindestens auf dem derzeit hohen Niveau weiterlaufen, der Erhalt der Infrastruktur hat Vorrang vor dem Neubau – und für Diesel-Fahrzeuge soll es Nachrüstungen geben, soweit diese „technisch möglich und wirtschaftlich vertretbar“ sind.

Soweit, so bekannt. Dennoch gibt es zwei Bereiche, die zu einer deutlichen Veränderung – und wohl auch Verbesserung – der Mobilität führen dürften.

Da ist zum einen die Reform eines sperrig klingenden Gesetzes. „Wir werden das Personenbeförderungsgesetz mit Blick auf neue digitale Mobilitätsangebote modernisieren“, heißt es im Koalitionsvertrag. Bislang regelt das Gesetz neue Mobilitätsformen sehr strikt und gewährt bestehenden Angeboten wie Taxen einen umfassenden Schutz. Moderne Formen wie Ride-Sharing, bei dem sich mehrere Personen ein Fahrzeug teilen, erlaubt das jahrzehntealte Gesetzt dagegen nur sehr begrenzt.

Unter den Verkehrsexperten von Union und SPD herrscht Einigkeit: Man sollte das Gesetz möglichst umfassend liberalisieren. Für Anbieter wie Uber ist das eine gute Nachricht: Mit einiger Wahrscheinlichkeit kann das Milliarden-Startup schon bald in Deutschland durchstarten – so wie viele andere Anbieter auch. Das dürfte nicht nur zu einer Verbesserung der Mobilität in der Stadt führen, sondern auch in ländlichen Regionen.

Spürbar werden auch die Veränderungen für die Deutsche Bahn sein. Auf fast zwei Seiten haben die Koalitionäre zusammengetragen, was sich dort nach ihrer Meinung alles ändern muss. Wie ernst sie es meinen, zeigt sich allein daran, dass sie der Schiene fast dreimal so viel Platz gewidmet haben wie im Koalitionsvertrag von 2013. „Pünktlichkeit, guter Service und hohe Qualität müssen das Markenzeichen der Eisenbahnen in Deutschland sein“, steht nun im Vertragswerk. Ein Satz, den man nicht gebraucht hätte, wenn die drei Eigenschaften bereits das Markenzeichen wären.

Für die Verbesserungen der Bahn soll eine strengere Aufsicht sorgen. Unter anderem soll das Verkehrsministerium „strukturell und personell“ gestärkt werden, um den Konzern konsequenter beaufsichtigen zu können. Auch das Management wird die Veränderung spüren: Die Vorstände der Bahn sollen künftig auch daran gemessen werden, ob sie den Marktanteil der Schiene erhöhen. Gleichzeitig soll das Unternehmen dafür sorgen, den Verkehr auf der Schiene zu maximieren – und nicht mehr den Gewinn. Immerhin, so der Wunsch der Koalitionäre, soll es 2030 doppelt so viele Bahnkunden geben wie heute. Ein mehr als ambitioniertes Ziel.

 

Digitalisierung

Die Digitalpolitik wird auch in den kommenden vier Jahren nicht gebündelt. Die CSU wird weiterhin das Ministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur besetzen, zu einem aufgewerteten Digitalministerium konnten sich Union und SPD nicht durchringen. Immerhin: Die Koalitionäre bekennen sich zum „Netzinfrastrukturwechsel zur Glasfaser“. Bis 2025 sollen gigabitfähige Netze in ganz Deutschland ausgebaut werden. „Unser Ziel lautet: Glasfaser in jeder Region und jeder Gemeinde, möglichst direkt bis zum Haus“, heißt es im Koalitionsvertrag. Das Vorhaben ist riesig und teuer. Zehn bis zwölf Milliarden, die über Lizenzgebühren für das künftige 5G-Mobilfunknsetz erlöst werden sollen, wollen Union und SPD für den Ausbau in den nächsten dreieinhalb Jahren bereitstellen. Viele Experten rechnen allerdings mit deutlich höheren Kosten.

Auch andere Ankündigungen im Themenfeld Digitalisierung klingen verheißungsvoll. So heißt es beispielsweise: „Wir werden alle bisherigen und zukünftigen Gesetze auf ihre Digitaltauglichkeit überprüfen und E-Government-fähig machen.“ Oder: „Die Bundesregierung wird einen Digitalrat berufen, der einen engen Austausch zwischen Politik und nationalen sowie internationalen Experten ermöglicht.“ All das ist notwendig und sinnvoll. An der Zielsetzung hatte es aber auch bei der alten großen Koalition nicht gemangelt. Die Frage ist, wer diese Projekte umsetzt und verantwortet. Damit nicht wieder vier Jahre ins Land gehen und die Digitalisierung zwischenzeitlich schlicht vergessen wird.

Pflege und Gesundheit

Die GroKo will 8000 zusätzliche Pflegekräfte so schnell wie möglich in die Praxis bringen und zudem Angehörigen eine Auszeit vom Pflegen erleichtern. Angesichts des Notstands in vielen Pflegeeinrichtungen und rund 560.000 sozialversicherungspflichtigen Altenpflegern in Deutschland sind 8000 Extrakräfte allerdings kaum der Rede wert. Fraglich ist zudem schon jetzt, woher die Zusatzkräfte überhaupt kommen sollen.

Zugleich bedeutet die Einigung, dass Betroffene zunächst nicht wesentlich mehr zahlen müssen. Denn mehr Geld für Pflegekräfte oder mehr Personal für Pflegeheime bedeuten zwar Verbesserungen, aber auch höhere Kosten für die Pflegebedürftigen. Schließlich bietet die Pflegeversicherung nur eine Teilkasko-Absicherung.

Beim Thema Gesundheit wollte die SPD ihren Wählern den Umbau der Krankenversicherung und den Abschied von der Zwei-Klassen-Medizin bescheren. Dadurch sollten sowohl die Wartezeiten für gesetzlich Versicherte bei niedergelassenen Ärzten verringert als auch der Mangel an Medizinern auf dem Land abmildert werden.

Im Koalitionsvertrag haben sich Union und SPD nun auf eine Vielleicht-Option geeinigt. Eine Kommission soll eine mögliche Angleichung der Arzt-Honorare für gesetzlich und privat Versicherte prüfen und eine gemeinsame Honorarordnung vorbereiten. Ob die Pläne dann umgesetzt werden, hängt vom Ergebnis der Kommission ab.

Eine komplette Angleichung ohne Abstriche für die Ärzte würde nach Warnungen von Experten Mehrkosten für die gesetzlichen Kassen verursachen. Die Rede ist von nötigen Beitragsanhebungen von 0,4 bis 0,6 Prozentpunkten. Da die Beiträge künftig wieder zu gleichen Teilen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bezahlt werden sollen, könnte eine Umsetzung beider Vorhaben Arbeitnehmer insgesamt aber entlasten.

 

Familie

Im Wahlkampf von CDU, CSU und SPD spielte die Familienpolitik eine große Rolle. Alle drei Parteien hätten das zuständige Ressort gern übernommen – und alle drei wollen mehr Geld für Familien ausgeben.

Die SPD hat den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder durchgesetzt. Das ist eine große Erleichterung auch für Unternehmen mit Fachkräftemangel, sofern sie Eltern kleiner Kinder beschäftigen. Die praktische Umsetzung dürfte allerdings dauern, schließlich fehlen überall in Deutschland Lehrer und Erzieher. Der Rechtsanspruch soll erst ab 2025 für alle gelten.

Die Union hat finanzielle Verbesserungen für Mittelschicht-Eltern durchgesetzt. Das Kindergeld soll steigen, außerdem wird ein neues Baukindergeld eingeführt. Am meisten legt sich die neue Koalition allerdings für Eltern, deren Kinder schon erwachsen sind, ins Zeug: Die Mütterrente für Frauen, deren Kinder vor 1992 geboren wurden, soll erneut steigen. Diese Leistung ist nicht nach Einkommen gestaffelt. Damit steht fest: Trotz aller Debatten über Kinderarmut soll viel Geld an Eltern fließen, die auf staatliche Hilfe nicht unbedingt angewiesen sind.

Bildung

Bund und Länder kümmern sich künftig gemeinsam um die finanzielle und technische Ausstattung der Schulen in Deutschland. Das sogenannte Kooperationsverbot gilt seit Jahren als nicht mehr zeitgemäß und wird jetzt zumindest in finanzieller Hinsicht gelockert – ein Erfolg für die SPD.

Im Sondierungspapier fand der 2016 beschlossene Digitalpakt noch keine Erwähnung. Im Koalitionsvertrag bekennen sich Union und SPD nun dazu, dass sie die Schulen digitalisieren wollen. Von den fünf Milliarden Euro, die Berlin insgesamt bereitstellen will, sollen in dieser Legislaturperiode 3,5 Milliarden ausgezahlt werden. Ob das reicht, ist fraglich. Die Bertelsmann-Stiftung geht davon aus, dass die Schulen etwa 2,8 Milliarden Euro pro Jahr bräuchten – über einen Zeitraum von einem halben Jahrzehnt.

Insgesamt wollen Union und SPD rund elf Milliarden Euro in bildungspolitische Maßnahmen investieren, darunter auch zwei Milliarden für Ganztagsschulen und eine Milliarde für eine Reform des Bafög. Die Sozialdemokaten konnten sich in den Verhandlungen zudem mit der Idee eines „nationalen Bildungsrates“ durchsetzen. Der soll künftig landesweite Bildungsstandards wissenschaftlich erarbeiten und definieren. Das Problem dabei: Die Kultushoheit bleibt bei den Bundesländern, sie bestimmen auch künftig über Lehrpläne und Inhalte. Eine zu starke inhaltliche Einmischung aus Berlin werden sie sich verbitten.