Neuerung bei nächster Parteispitze? - Nach plötzlichem Chef-Aus kursiert bei den Grünen eine revolutionäre Idee
Die bittere Erkenntnis der Grünen nach drei Ost-Wahlniederlagen: Ihre Erzählungen verfangen nicht mehr und ihre Anhänger wollen lieber die Demokratie retten, als fest zur Partei zu stehen. Um die Strategie-Probleme lösen, könnte bald ein wichtiges Prinzip der Partei brechen.
Dass es bei den Grünen zuletzt heftig rumorte, konnte man auch an der Vielzahl öffentlicher Wahlanalysen von Politikern der Partei ablesen: ein Gastbeitrag von drei hessischen Grünen in der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, eine Analyse zweier sächsischer Abgeordneter und schließlich die Posts zahlreicher aktiver und ehemaliger Politiker in den sozialen Medien.
Zwar hatten diese alle gemein, dass sie eher strategische als personelle Probleme identifizierten. Doch natürlich ist jedes strategische Problem auch eines derjenigen, die für die Strategie zuständig sind – in erster Linie also auch der nun zurückgetretenen Parteivorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour. Neben ihnen stand zudem Bundesgeschäftsführerin Emily Büning in der Kritik.
„Ich will, dass die Partei lernt. Mit Blick auf die Bundestagswahl müssen wir uns robuster aufstellen“, erklärt die Leipziger Bundestagsabgeordnete Paula Piechotta im Gespräch mit FOCUS online, warum sie zusammen mit dem Dresdner Landtagsabgeordneten Valentin Lippmann eine Wahlanalyse veröffentlicht hat. Ein Kernpunkt darin: Die Grünen hätten die Hoheit über ihre Erzählung verloren.
Nicht die Grünen bestimmen das Grünen-Bild, sondern ihre Gegner
Stattdessen werde das Bild über die Partei immer mehr von außen bestimmt. „Jeder Mensch in einem sächsischen Dorf hat eine Meinung über die Grünen, obwohl er vielleicht noch gar nie eine Politikerin oder einen Politiker von uns gesehen hat. Andere reden mehr über uns als wir über unsere eigenen Erzählungen“, bemängelt Piechotta.
Mit dieser Problembeschreibung ist sie nicht allein. Oliver Lembcke, Politikwissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum, erklärt, dass eine Partei auf Grundlage ihrer Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte glaubhaft vermitteln können müsse, warum es sie überhaupt noch gebe. „Solche Erzählungen werden zum Beispiel brüchig, wenn eine Partei nur noch als Mehrheitsbeschafferin wahrgenommen wird.“
Endet das Zeitalter der „grünen Hegemonie“?
So weit sei es bei den Grünen noch nicht. Lembcke mahnt aber auch: „Die Elemente der ‚Fremderzählung‘ über die Grünen als Verbotspartei, die sich nur um die urbanen Hipster kümmert, die mit dem Lastenfahrrad einkaufen, ansonsten aber im Homeoffice sitzen, hat eine gewisse Eigenmacht gewonnen.“
Andere, wie der Historiker und konservative CDU-Vordenker Andreas Rödder, gehen sogar noch weiter. In einer Analyse für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hat er Anfang des Jahres beschrieben, dass gerade ein ganzes Zeitalter „grüner Hegemonie“ zu Ende gehe. Der Erfolg grüner Ideologie habe seine Kinder gefressen. „Mit zunehmender Verbreitung neigte das grüne Paradigma zur Verabsolutierung, zur Ideologisierung und zur Radikalisierung“, erklärt Rödder, warum die Grünen einen derartigen Stimmungsumschwung erleben.
Mehr Erfolg mit mehr Personalisierung
„Es ist nicht trivial, aus einer Fremdzuschreibung als Sündenbock für alles wieder herauszukommen“, betont die Grüne Piechotta. Zumal die komplexe Weltlage es immer mehr erschwert, über einzelne Standpunkte in eine geordnete Debatte zu treten. Dem könne man aber mit einem Kniff Herr werden, glaubt die Politikerin.
„Die gesellschaftlichen Debatten werden immer komplexer, aber der Normalbürger hat nur eine begrenzte Zeit, sich mit Politik auseinanderzusetzen. Deswegen braucht es Komplexitätsreduktion“, erklärt Piechotta. „Das kann darüber funktionieren, dass die Wählerinnen und Wähler unserer Spitzenperson vertrauen, ohne jeden Spiegelstrich im Parteiprogramm kennen zu müssen.“
Über eben jenes Spitzenpersonal wird die Partei nun ohnehin neu entscheiden müssen. Das könnte den Raum für grundlegende Veränderungen schaffen. Piechotta betont, dass man zum Beispiel vor allem in den Bundesländern stark sei, in denen eine Person im Vordergrund steht – wie zum Beispiel Ministerpräsident Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg. In Sachsen hingegen trat man mit einem Spitzentrio an, was im Wahlkampf ein Problem gewesen sei.
Revolutionäre Idee: Kommt ein Ende der paritätischen Doppelspitze bei den Grünen?
„Wir Grüne tun eigentlich immer alles dafür, eine Personalisierung zu vermeiden. Wir müssen uns jetzt aber eingestehen, dass das notwendig ist“, so Piechotta. Mehr Personalisierung könnte heißen: ein Ende von paritätischen Doppelspitzen und hin zu einer Einerspitze in Partei und Fraktion, zudem ein Ende der Trennung von Parteiamt und zum Beispiel Ministerposten.
Also ein Robert Habeck als alleiniger Parteivorsitzender, der zugleich Wirtschaftsminister, Vizekanzler und dann auch noch Kanzlerkandidat für die Bundestagswahl ist? Das wäre bei den Grünen geradezu revolutionär. In der Partei würde der Bruch mit den alten Traditionen wohl zu hitzigen Diskussionen führen. Piechotta schickt dem voraus: „Wenn sich das System um uns herum verändert, müssen wir uns verändern. Wenn wir manche Punkte in der Partei aufgrund unserer Werte als sakrosankt betrachten, werden wir irgendwann im schlimmsten Fall unsere Werte gar nicht mehr in Parlamenten vertreten können.“
Politikwissenschaftler sieht auch Habeck und Baerbock in der Pflicht
Mit dem Rücktritt von Lang und Nouripour sieht Piechotta die Partei schon einmal auf einem guten Weg: „Personelle Neuanfänge sind die ultimative Komplexitätsreduktion: Sie sind keine tiefe Analyse, sie sind nicht ausgewogen, aber man kann mit ihnen unglaublich gut vermitteln: Ihr habt uns ein Signal gegeben und wir lassen eure Botschaft an uns nicht ungehört, wir nehmen sie nicht nur ernst, sondern eure Meinung leitet neben unseren Werten unser Handeln.“
Auch Politikwissenschaftler Lembcke sieht eine Neuaufstellung der Parteispitze als notwendig an – sieht die aber mit dem Rücktritt der Vorsitzenden nicht abgeschlossen. „Das Spitzenpersonal zieht nicht; das gilt nicht mehr nur für die Parteiführung, sondern auch für das Duo Baerbock und Habeck.“
Die Grünen brauchen auch eine Inhalte-Debatte
Außerdem rät er dazu, „die starke Polarisierung in der Klimapolitik abzuschwächen, um wieder als kompetente und lösungsorientierte Partei wahrgenommen zu werden“. Lembcke glaubt: „Erst unter diesen Voraussetzungen werden die Grünen im Bund politisch neu angreifen können.“
Eine inhaltliche Debatte haben auch drei hessische Grünen-Politiker in einem Gastbeitrag in der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ gefordert. Sie wollen künftig einen „reformerischen Diskurs, der gesellschaftliche Konflikte ernst nimmt“ – und in diesem Zuge zum Beispiel mehr Härte in der Asylpolitik.
Und der Grünen-Europaparlamentarier Rasmus Andresen betonte nach der Brandenburg-Niederlage, dass die soziale und wirtschaftliche Sicherheit bei allen Wahlen in diesem Jahr entscheidend gewesen sei. „Wir müssen uns eingestehen, dass wir in diesen Feldern profillos rüberkommen“, sagte er „t-online“.
Bei Ost-Wahlen hat sich strategisches Problem der Grünen offenbart
Die neue Grünen-Parteispitze wird sich zudem einem strategischen Problem widmen müssen, dass sich bei allen drei Ost-Wahlen gezeigt hat: die Zuspitzung des Wahlkampfs auf die Frage, ob die AfD stärkste Kraft wird.
Denn das kam jeweils der Partei zugute, die laut Umfragen am ehesten mit den Rechtsaußen um den ersten Platz konkurriert hat – in Sachsen und Thüringen der CDU, in Brandenburg der SPD. Zudem konnten der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer und sein Brandenburger Amtskollege Dietmar Woidke von ihrer persönlichen Beliebtheit profitieren.
Besonders gelitten haben darunter die Grünen, glaubt Piechotta: „Es ist leider schon seit ein paar Jahren das Muster in Ostdeutschland, dass die Anhänger der progressiven Parteien ein Reservoir für die Ministerpräsidenten-Partei darstellen.“
Taktisches Wählen führt zu dramatischer Wählerwanderung
In den Zahlen zur Wählerwanderung zeigt sich die ganze Dramatik: In Sachsen haben die Grünen 31.000 Stimmen an die CDU verloren – bei einem Unterschied von rund 30.000 Stimmen zwischen dem Wahlsieger CDU und der zweitplatzierte AfD haben die Stimmen also den Unterschied gemacht. Das Ziel, einen rechtsextremen Wahlsieger zu verhindern, haben diese Wähler erreicht. Die Grünen stürzten allerdings ab auf 5,1 Prozent.
In Brandenburg hätten die Wähler also gewarnt sein können. Dennoch war die Wanderungsbewegung sogar so groß, dass sie die parlamentarische Präsenz der Grünen zerstört hat. Die Partei hat fast die Hälfte ihrer Stimmenanzahl von 2019 an die SPD verloren – 47.000 ehemalige Grünen-Wähler stimmten für den amtierenden Ministerpräsidenten Woidke.
Politikwissenschaftler Lembcke verweist darauf, dass das kein Automatismus sein müsste: „Die für die Grünen erreichbare Wählerschaft ist durchaus ideologisch ausgerichtet, was grundsätzlich gegen Leihstimmen immunisiert.“
Schaden die edlen Motive der Grünen-Anhänger ihrer Partei?
Gleichzeitig sei sie allerdings auch besonders gewillt, taktisch zu wählen. Das könnte zum einen damit zusammenhängen, dass tendenziell eher diejenigen taktisch abstimmen, die höher gebildet und politisch interessiert sind – was in der Grünen-Anhängerschaft der Fall ist.
Piechotta nennt noch einen weiteren Grund: „Insbesondere die Wählerinnen und Wähler der Grünen sind aufgrund ihrer Einstellungen motiviert, eine AfD-Regierung zu verhindern. Viele haben wie 2019 aus demokratiestabilisierender Sicht und nicht aus parteipolitischer Überzeugung gewählt.“ Zugespitzt gesagt war es den Grünen-Anhängern also wichtiger, die Demokratie zu „retten“, als ihre favorisierte Partei sicher in den Landtag zu hieven.
Haben die Grünen ihre Niederlagen selbst befeuert?
Das Problem könnte die Partei sogar selbst befeuert haben, glaubt der ehemalige Grünen-Bundesvorsitzende Reinhard Bütikofer. Nach der Brandenburg-Wahl schrieb er bei X: „Den ganzen Wahlkampf lang war ‚Kampf gegen rechts‘ DAS dominante grüne Thema. Woidke musste nur noch einsammeln.“
Neben Kritik an der Wahlkampfstrategie des Landesverbandes lässt sich das auch als Kritik an Ricarda Lang lesen. Sie fokussierte in ihren Äußerungen rund um die Wahlen immer wieder auf die AfD und den so wichtigen Kampf gegen Rechtsextremismus – selbst bei ihrer Rücktrittsrede am Mittwoch war das Thema. Rückblickend betrachtet war das möglicherweise nicht die geschickteste Kommunikationsstrategie.
Piechotta widerspricht zwar Bütikofers Analyse und erklärt, die Landesverbände hätten das AfD-Thema nicht so stark in den Vordergrund gestellt wie behauptet. Sie gesteht aber auch ein, dass es ihrer Partei nicht gelungen sei, die negativen Folgen des taktischen Wählens zu vermitteln.
Verhinderter AfD-Sieg ist teuer erkaufter und nur symbolischer Gewinn
„Dass die AfD in Sachsen und Brandenburg nicht stärkste Kraft geworden ist, war letztlich nur ein symbolischer Gewinn. Viele Wählerinnen und Wähler haben nicht bedacht, dass sie mit ihrer Leihstimme für den Ministerpräsidenten die Koalitionsbildung enorm erschweren, wenn Parteien aus dem Landtag fliegen und man plötzlich zwingend auf das BSW angewiesen ist.“
Das treffe die Menschen in ihrem Alltag viel mehr: „Es ist eher spürbar, wenn wegen der Mehrheitsverhältnisse kein stabiler Haushalt aufgestellt wird und deshalb zum Beispiel ein Verein keine Fördergelder mehr erhält, als wenn die AfD einfach nur als stärkste Kraft in ihrer Oppositionsrolle im Landtag provoziert.“
Piechotta rechnet damit, dass die Wähler aus den aktuellen Ergebnissen lernen und künftig ihr taktisches Verhalten hinterfragen werden. Zudem sei bei der Bundestagswahl nicht mit einer derart zugespitzten Situation zu rechnen, in der es nur um einen AfD-Sieg gehen würde.
„Über Jahrzehnte gelernt, dass man uns angreifen kann, ohne dass wir uns wehren“
Wichtiger seien mit Blick auf die Wahl in einem Jahr andere Punkte. So mahnt Piechotta mehr Flexibilität an: „Unsere Partei hat in Wahlkämpfen im Endspurt oft wichtige Prozentpunkte verloren, weil wir dann harte Angriffe gegen uns erfahren haben, aber die Kommunikationsstrukturen dagegen nicht bestanden haben.“
Ähnliches habe sich auch bei den Landtagswahlen gezeigt. „Jetzt muss es auch beim letzten angekommen sein, dass wir besser darin werden müssen, die Angriffe zu kontern. Andere Parteien haben über Jahrzehnte gelernt, dass man uns angreifen kann, ohne dass wir uns konsequent wehren.“
Sich als Reaktion auf Angriffe staatstragend zu geben, statt auch einmal zurückzuschießen ist ebenfalls eine Strategie, die dem zurückgetretenen Vorstand um Lang und Nouripour zugeschrieben werden. Wer nun auch immer den Grünen künftig vorstehen wird, die Partei könnte also womöglich bald angriffslustiger werden.