Neurowissenschaftler Frederik Hümmeke - Mit Geschichtsbuch-Tipp und Chancen-Map bewältigen Sie den Stress-Overload im Job
Stress im Berufsleben ist ein wachsendes Problem, das unsere Gesundheit und Produktivität beeinträchtigt. Neurowissenschaftler Frederik Hümmeke teilt seine besten Strategien, um mit chronischem Stress am Arbeitsplatz umzugehen.
Was genau ist antizipativer Stress und warum ist er ein Problem?
Antizipativer Stress ist, wenn man jetzt Stress hat, weil man bald Stress haben könnte. Es ist also Stress, den wir in Erwartung von Stress verspüren. Von allen Lebewesen empfinden nur Menschen antizipativen Stress, soweit wir das wissen.
Wenn Sie heute Angst haben, dass ein Meeting in der nächsten Woche wegen eines Kollegen schiefgeht und Sie deswegen bereits seit Tagen gestresst durch die Gegend laufen und jeden Tag an dieses Meeting denken und Sie sich ausmalen, wie schlimm das wird, dann bezieht sich Ihr Stress auf ein mögliches, zukünftiges und (noch) nicht beeinflussbares Ereignis.
Das ist nicht wirklich hilfreich, zumal antizipatorischer Stress die gleichen Symptome zur Folge hat wie akuter Stress. Er dauert meist nur wesentlich länger und wird dann chronisch. Und selbst, wenn im Meeting nichts passiert, denken Menschen mit einer Disposition für hohen Antizipativen Stress: „Gut, wenn jetzt nichts passiert ist, dann aber bestimmt übernächste Woche.“
Es entsteht ein Dauerstress, der zur Entwicklung verschiedener Gesundheitsprobleme beitragen kann, wie zum Beispiel zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen, psychischen Störungen und einem allgemeinen Rückgang des Wohlbefindens.
Der Körper ist quasi ständig in Alarmbereitschaft, was ihn daran hindert, sich zu erholen und zu regenerieren, was mit der Zeit zu ernst zu nehmenden gesundheitlichen Folgen führen kann. Stress an sich ist also gar nicht so ein Problem, er kann unter Umständen sogar sehr hilfreich sein, solange er moderat bleibt.
Chronischer Stress dagegen ist ein Problem. Alle bekannten negativen Effekte und Stresserkrankungen, einschließlich psychischer Probleme wie Burnout und Depressionen sowie körperlicher Gesundheitsprobleme wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, stehen mit chronischem Stress, also einer viel zu lange andauernden Stressreaktion im Körper, in Verbindung.
Was sind die häufigsten Ursachen für chronischen Stress im Berufsleben?
Zu den Kernursachen gehören laut der EU Labour Force Survey 2020 vor allem Zeitdruck und Arbeitsüberlastung. Diese beiden Faktoren – die durchaus als Führungsthemen identifiziert werden können, wurden als die stärksten Einflüsse auf das psychische Wohlbefinden identifiziert.
Ein weiterer Stressfaktor am Arbeitsplatz ist der Umgang mit schwierigen Kunden, der als zweithäufigste Ursache benannt wurde. Darüber hinaus wurden unangemessene Körperhaltungen und Arbeitsverdichtung als Stressfaktoren am Arbeitsplatz benannt. Insgesamt berichteten 25 Prozent der Berufstätigen von erlebten psychischen Belastungen.
Chronischer Stress betrifft jedoch nicht alle Berufsgruppen gleich: Bei einer Betrachtung nach Berufsgruppen zeigt sich, dass Führungskräfte sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und technische und nicht-technische Fachkräfte mit einer Belastungsquote von jeweils über 30 Prozent überdurchschnittlich betroffen sind. Demgegenüber empfinden Erwerbstätige in handwerklichen Berufen (19 Prozent) und Hilfskräfte (14 Prozent) ein geringeres Ausmaß an psychischer Belastung.
Ärzte leiden Studien zufolge zu einem Drittel aufgrund von Stress regelmäßig unter anderem unter körperlichen Symptomen wie Kopf- und Rückenschmerzen, Migräne und Schlafstörungen: Über 20 Prozent haben psychische Beschwerden wie Niedergeschlagenheit, Konzentrationsprobleme bis hin zu Panikattacken und Burnout.
Ich schätze, dass fast alle gesundheitsschädlichen Effekte von chronischem Stress durch die Kombination von guter Führung weggehen würden, wobei auch die Selbstführung ein Teil der Führung ist.
Welche Strategien gibt es, um mit chronischem Stress am Arbeitsplatz umzugehen?
Zunächst müssen wir unterscheiden zwischen strukturellen und individuellen Maßnahmen. Ganz viel Stress resultiert aus schlechter Führung. Denn Zeitdruck und Arbeitsüberlastung sind Herausforderungen, die vor allem durch die Führungskraft auf struktureller Ebene gelöst werden sollten. Trotz der hohen gesundheitlichen und somit wirtschaftlichen Kosten wird Führung selten systematisch vermittelt.
Dies gilt insbesondere in Branchen, in denen der berufliche Aufstieg vor allem durch fachliche Qualifikationen bestimmt wird. Das Know-how, ein Team zu leiten, Arbeit gut delegieren, zu motivieren und Konflikte zu lösen, müssen viele Führungskräfte häufig selbstständig und quasi nebenher erwerben – wenn sie es denn überhaupt tun. Schlechte Führung stresst die ungelernte Führungskraft ebenso wie die Mitarbeiter. Hier helfen Schulungen und Führungskräfte-Coachings, insbesondere der Erwerb organisatorischer wie kommunikativer Skills und ein Verständnis davon, was den Stress im Team auslöst.
Auf individueller Ebene gibt es zahlreiche Strategien, mit chronischem/antizipativen Stress umzugehen. Zu sagen: „Nun sei mal nicht so gestresst!“ ist allerdings keine hilfreiche Strategie.
Wenn der Stressor der Umgang mit schwierigen Kunden ist, hilft vor allem das Erlernen von psychologisch-kommunikativen Strategien.. Hilfreich ist auch das Erlernen von Strategien, die gegen akuten Stress helfen. Wenn die einzelne Situation mit dem Kunden im Moment ihres Auftritts gut durch Gesprächsführung entschärft oder gelöst wird, reduziert sich auch der antizipative Stress im Ausblick auf die nächsten Begegnungen.
Zeitdruck und Arbeitsüberlastung können auch Folge mangelnder Selbstorganisation sein. Auch diese Dinge können im Rahmen von Schulungen und Coachings erlernt werden. Worum es vor allem geht, ist, die innere Alarmanlage herunterzuregeln. Von sehr empfindlich auf angemessen.
Was sind Beispiele für erfolgreiche Stressbewältigungsstrategien?
Ich bekomme häufig Anrufe von Menschen, die eine bevorstehende und als schwierig empfundene Situation keine Ruhe finden lässt. In vielen Fällen konnte wir den antizipative Stress mit Hilfe von zwei Werkzeugen in den Griff bekommen. Zunächst erkläre ich das „Geschichtsbuch“, das jeder auch allein für sich schreiben kann: Nehmen Sie sich ein Blatt Papier und überlegen Sie sich, mit wie vielen Sätzen die Situation, die Sie aktuell beschäftigt, in einem Geschichtsbuch niedergeschrieben werden würde.
Stellen Sie sich die Fragen, wie die zu erwartende Situation in einigen Jahren in einem Geschichtsbuch auftauchen könnte und welche Rolle die Situation in einer Rückschau von zehn oder zwanzig Jahren für Sie gehabt haben könnte. Schreiben Sie nur etwas auf, wenn Sie mindestens auf einen Satz kommen. Wenn Ihnen bei dieser Übung nicht so richtig was einfällt, dann haben Sie einen guten Lerneffekt erreicht und werden viel entspannter in die Situation gehen.
Übrigens, wenn ihre Antwort lautet, dass die Entscheidung oder Situation es tatsächlich in Ihre Biographie sowie in die Geschichtsbücher schafft, dann fragen Sie bitte erstmal einen unbeteiligten Dritten, ob er das genauso sieht. Oft nehmen wir die Themen viel wichtiger wahr als sie sind und eine andere Perspektive zeigt das auf. Die meisten Themen, die uns frustrieren und über die wir uns heute den Kopf zerbrechen, sind in Wahrheit ganz unwichtig.
Die Chancen Map geht weiter und hilft, das Positive in Stresssituationen zu erkennen und zu nutzen. Jede Stresssituation bietet nämlich auch die Gelegenheit an ihr zu wachsen, gekonnt auf Angriffe zu reagieren oder den eigenen Standpunkt klar zu präsentieren. Selbst unterschwellige Konflikte können angegangen werden.
Ziel ist die Entwicklung einer Perspektive, die in jedem Stressmoment auch das Wachstumspotenzial sieht. Zur Übung: Notieren Sie den Kontext des potenziellen Angriffs, inklusive Beteiligte, Ort und Zeit. Beantworten Sie für sich die folgenden Fragen.
Welches Gute entsteht, wenn ich optimal auf den Angriff reagiere?
Wie kann ich positiv auf Andere wirken?
Welchen Nutzen kann ich aus der Situation ziehen?
Was kann ich tun, um zu punkten?
Welche zukünftigen Chancen entstehen aus diesem Stress?
Tun Sie für diese Übung einfach so, als ob alles perfekt und in Ihrem Sinne laufen würde. Ziel der Übung ist es, eine entwicklungsorientierte Haltung zu entwickeln.
Welche Ratschläge können jemandem helfen, der unter chronischem Stress leidet und seine Arbeitsleistung verbessern möchte?
Achten Sie darauf, dass Sie immer wieder Inseln der Ruhe und vor allem genügend Schlaf zur richtigen, für Sie passenden Zeit, finden. Suchen Sie Momente, in denen Sie wirklich mal runterkommen. Und dabei können sämtliche Entspannungsmethoden und Praktiken wunderbar helfen. Ob es Meditation oder Achtsamkeitstraining, Yoga oder progressive Muskelentspannung ist, oder einfach nur ein Spaziergang im Wald. Oder Sport – oder was auch immer für Sie funktionieren könnte. Alles was helfen kann, dass Ihr Körper die Zeit findet, um aus dem Stress herauszukommen.
Diese Inseln der Entspannung sollten Sie sogar täglich aufsuchen, das hat sich erprobt. Wenn Sie das hinbekommen, ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass Sie in dem Maße negativ von Stressoren beeinflusst werden, dass es gesundheitlich relevant wird.
Menschen, die regelmäßig meditieren, können - das zeigt die Forschung - einen deutlichen Rückgang von Schmerz und Entzündungen erleben sowie eine höhere Knochendichte erhalten. Meditation kann zu regulierten Emotionen führen, zu einem Gefühl der Aktiviertheit und Wachheit. Sie kann Empathie steigern, den Schlaf und unser Denken verbessern. Meditation kann über die Reduktion der Stresshormone die Verdauung verbessern und beim Abnehmen unterstützen. Meditation kann sich sogar positiv auf Probleme mit der Haut auswirken – von trockener Haut, bis hin zu Hauterkrankungen.
Und: Nach nur acht Wochen Mediation ist nachweisbar, dass die Aktivität der rechten Amygdala deutlich abnimmt. Die Amygdala ist das Alarmsystem im Gehirn und die rechte Amygdala ist vor allem dafür da, die Umgebung zu beobachten und aus den Umgebungsreizen herauszufiltern, was einem jetzt Stress machen könnte und was Aufmerksamkeit kriegen soll. Eine Reduktion der Tätigkeit der rechten Amygdala bedeutet nichts Anderes, als dass Außenreize uns seltener stören. Mit anderen Worten: mehr Fokus - weniger Stress.