Der Norden funkt SOS

Die Vorfreude auf die Saison war groß im Norden Deutschlands. Werder Bremen schrieb sich nach durchwachsenen Jahren selbstbewusst das Ziel "Europapokal" auf die Wunschliste. Der Hamburger SV spielt zwar eine Liga tiefer, war aber nicht weniger siegessicher: Am Ende der Saison muss der Aufstieg stehen, ohne Wenn und Aber. Und auch beim FC St. Pauli sprossen Gedanken an die Rückkehr in die Bundesliga.

Wenige Monate später sind alle drei Klubs in einer tiefen Herbstdepression angekommen, das Trio ist in eine heftige Krise gerutscht.

SPORT1 analysiert die Lage.

WERDER BREMEN (Platz 14, 14 Punkte):

Nach enttäuschenden Wochen schien mit dem 3:2-Sieg in Wolfsburg endlich die Wende zum Guten geschafft. Doch nur sieben Tage später ist Werder durch das Last-Minute-0:1 gegen Paderborn am Tiefpunkt angekommen.

Zwar war die Niederlage unglücklich und nicht verdient; dennoch tat Werder viel zu wenig, um dem Tabellenletzten zu zeigen, dass im Weserstadion nichts zu holen ist. Für Bremen geht es nun zum FC Bayern (Bundesliga: FC Bayern - Werder Bremen am Samstag ab 15.30 Uhr im LIVETICKER), der sich keinen weiteren Patzer im Meisterrennen leisten kann.

Trainer Florian Kohfeldt will seinen Spielstil dennoch nicht umstellen, der gepflegte Fußball soll weiter Priorität vor Kampf und Biss haben. "Wir müssen in dieser schwierigen Phase unseren Fußball weiter spielen, das ist sehr wichtig. Das haben wir heute nicht getan und deswegen haben wir verloren", meinte der Coach nach dem Paderborn-Spiel. Nach SPORT1-Informationen zweifeln die Bosse keine Sekunde an Kohfeldt, höchstens eine lang anhaltende Negativserie könnte bei dem eloquenten Trainer Rücktrittsgedanken wecken.

Kohfeldt wollte das Wort "Abstiegskampf" nach der Paderborn-Pleite nicht in den Mund nehmen, da ihm bei diesem Begriff der spielerische Aspekt zu kurz komme - dennoch kann der Fokus auf den Abstiegsstrudel auch die Sinne schärfen. Die Meinung von SPORT1-Chefkolumnist Tobias Holtkamp, der vor zwei Wochen Werders Saison als "im Grunde gelaufen" bezeichnete, ist nicht mehr aktuell: Für Werder geht es nun einzig und allein um den Ligaerhalt. (Service: Tabelle der Bundesliga)

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In der Saisonplanung haben die Norddeutschen Fehler gemacht, Max Kruses Abgang zu Fenerbahce Istanbul wurde nicht kompensiert. Durch das öffentlich propagierte Ziel Europa wurden bei Fans Erwartungen geweckt, für die der relativ alte Kader nicht langfristig zusammengestellt ist und die zu untypischen Pfiffen gegen Paderborn führten.

Kohfeldt vermisste das besondere "Weserstadion-Gefühl" - in den Vorjahren konnte sich Werder im Abstiegskampf auf die starke Heimbilanz verlassen, in dieser Saison stehen gerade einmal fünf Punkte daheim zu Buche.

Aus dem gerade zum Saisonstart prall gefüllten Lazarett haben sich zwar die meisten Spieler zurückgemeldet, dennoch fehlt Akteuren wie Kapitän Niklas Moisander die dringend benötigte Spielpraxis. Stammspieler der Vorsaison wie Johannes Eggestein kommen kaum zum Einsatz - Claudio Pizarro wirkt in seinen Kurzeinsätzen, als hätte er seinen Zenit dann doch überschritten.

Dass Werder aufgrund zwischenzeitlich 13 gleichzeitig verletzter Spieler zum Saisonstart Punkte liegen ließ, ist Kohfeldt nicht anzulasten. Der taktisch exzellente Trainer wird in den kommenden Wochen für sich die Frage beantworten müssen: Kann er Krise?

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HAMBURGER SV (Platz 2, 29 Punkte):

Als Tabellenzweiter der 2. Liga hat der HSV zwar noch alle Chancen im Aufstiegsrennen, der Trend zeigt jedoch bedrohlich nach unten. Nach zwei Niederlagen in Folge, darunter einem 0:1 am Freitag zu Hause gegen Heidenheim, sind die Verfolger dicht an das Team von Trainer Dieter Hecking herangerückt.

In der so enttäuschenden Vorsaison hatte der HSV zur Saisonhalbzeit stolze 37 Punkte gesammelt, in diesem Jahr sind maximal noch 32 drin - wenn das letzte Hinrundenspiel beim SV Sandhausen gewonnen wird.

Darauf deutet bei einem Sieg aus den letzten sechs Spielen wenig hin, das Team ist verunsichert und kann selbst Grundtugenden wie Stabilität und ein funktionierendes Gerüst im Moment nur selten abrufen. Das liegt einerseits an den Verletzungsproblemen von Schlüsselspieler Aaron Hunt - die Punktebilanz in Spielen mit ihm (2,0) ist deutlich höher als ohne ihn (1,5) - andererseits aber auch am vor Wochen noch hochgelobten Kader.

Das prominente Führungsduo Hecking/Jonas Boldt verstärkte das Team im Sommer mit weniger bekannten Namen wie Sonny Kittel (Ingolstadt) oder Adrian Fein (Bayern II), die aber unter dem traditionell großen Druck in Hamburg derzeit eine Leistungsdelle erleben. Zu viele Spieler halten in schwierigen Phasen nicht dagegen und überzeugen nur, wenn auch die Nebenleute ihre Leistung bringen.

Martin Harnik schlägt im kicker Alarm: "Die Gegner haben sich auf uns eingestellt, stehen tief."

Außerdem müssen die Verantwortlichen das enorm unruhige Umfeld managen. Dies gelang im Fall Bakery Jatta, als der Verein und seine Fans eine lange nicht gekannte Einigkeit zeigten, bemerkenswert gut. Seit dem 6:2-Kantersieg gegen Stuttgart Ende Oktober hat sich aber eine gewisse Überheblichkeit in das Umfeld eingeschlichen. Gehen die letzten Spiele vor der Winterpause verloren, wächst der Druck stark an.

In diesem Jahr geht es für den auswärtsschwachen HSV (zwei Siege in acht Spielen) noch nach Sandhausen und Darmstadt - unangenehme Gegner, die die Stimmung beim HSV dramatisch verschlechtern können.

ST. PAULI (Platz 15, 15 Punkte):

Noch Ende September träumten die Kiezkicker vom Aufstieg. "Vom ersten Tag an hat er gesagt, dass er in die erste Liga aufsteigen will. Ich will auch mit dieser Mannschaft in die Bundesliga gehen", sagte Ryo Miyaichi der Bild und bezog sich dabei auf Trainer Jos Luhukay.

Der Niederländer stieg schon mit mehreren Klubs in die Bundesliga auf und durfte im Sommer kräftig shoppen gehen. Leihspieler von Brighton & Hove Albion, dem RSC Anderlecht und Red Bull Salzburg sollten kurzfristig die Qualität erhöhen und die ambitionierten Pläne der Hamburger in die Tat umsetzen. (SERVICE: Tabelle der 2. Bundesliga)

Dennoch sorgte Luhukay nach wenigen Spieltagen für riesige Unruhe im Klub, indem er in einer denkwürdigen Pressekonferenz Professionalität und Mentaliät des gesamten Vereins heftig kritisierte. Wenige Wochen später folgte ein überzeugender 2:0-Derbysieg gegen den HSV. Botschaft also angekommen? Im Gegenteil! In einem Stadtderby spielt die Mannschaft unabhängig von der Trainerposition, für die bestmögliche Leistung gegen den ungeliebten Rivalen brauchen die Profis keine Motivations- oder Wutreden des Trainers.

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Dementsprechend kurz hielt auch die Euphorie nach dem Sieg an. Schon kurz nach Luhukays Wutrede äußerte Führungsspieler Marvin Knoll Unverständnis über die Worte seines Trainers - ein Zeichen, dass Luhukay die Mannschaft verloren hat.

In den letzten neun Spielen gab es lediglich drei Remis und sechs Niederlagen. St. Pauli ist auf Platz 15 abgerutscht, der Vorsprung auf den Tabellenletzten Dresden beträgt gerade einmal zwei Punkte. Die Gründe für die Krise sind vielfältig: Mal fehlt es an Ideen im Vorwärtsgang, mal ist die Chancenverwertung miserabel. Gerade einmal 18 Tore hat St. Pauli in 16 Spielen erzielt, Knipser Dimitrios Diamantakos (sechs Tore) füllt seit Wochen das sowieso prall gefüllte Lazarett auf.

Luhukay selbst schwenkte in den letzten Wochen in der öffentlichen Beurteilung der Leistungen um und verteilte mehr Zuckerbrot als Peitsche.

Nach SPORT1-Informationen knirscht es zwischen Mannschaft und Trainer. Schon Niko Kovac wurde die öffentliche Kritik an seinem Kader beim FC Bayern ("Man kann nicht versuchen, 200 km/h auf der Autobahn zu fahren, wenn man nur 100 schafft") zum Verhängnis, ähnlich könnte es Luhukay gehen.

Noch muss der Coach nicht um seinen Job bangen, Sportchef Andreas Bornemann erneuerte zuletzt ein Treuebekenntnis.

Rutschen die Hamburger nach den zwei verbleibenden Heimspielen gegen Konkurrent Wiesbaden und Spitzenreiter Bielefeld weiter ab, wackelt aber auch der Stuhl des Niederländers gewaltig.