NRW-Innenminister im Interview - Clan-Jäger Reul zieht „Mocro“-Bilanz: „Dann eskalierte eine Gewaltspirale“
Die Clan-Kriminalität macht den Menschen Angst, sagt NRW-Innenminister Herbert Reul im Interview mit FOCUS online. Warum Clans und die „Mocro-Mafia“ derzeit so gefährlich sind, wie seine Strategie aussieht und warum Gesundheitsminister Karl Lauterbach den Ermittlern einen Bärendienst erwiesen hat.
FOCUS online: Herr Reul, schon zu Beginn Ihrer Amtszeit haben Sie den Kampf gegen kurdisch-arabische Clans zur Chefsache gemacht. Kritiker sagen, na da hat der Reul den Mund ein wenig zu voll genommen, denn jedes Jahr steigen die Fallzahlen.
Herbert Reul : Wer tief gräbt, der findet auch viel. Das ist wie beim Kindesmissbrauch. Intensive Ermittlungen fördern neue Fälle zutage. Eine reine Fallzahlenbetrachtung führt am eigentlichen Problem vorbei. Ein Kriminalitätsphänomen, das die Politik 30 Jahre lang verschlafen hat, lässt sich nicht von heute auf morgen lösen. Wir kommen aber Schrift für Schritt voran, erwischen auch immer mehr, dadurch erhöhen sich eben auch die Fallzahlen.
„Im Ruhrgebiet schwand zunehmend das Vertrauen in Polizei und Justiz“
Manche Medien halten das Clan-Problem für aufgebauscht, tatsächlich sei das Kriminalitätsaufkommen verschwindend gering. Welche Rolle spielen die türkisch-arabischen Clans im Bereich Organisierte Kriminalität (OK)?
Reul: Kriminelle Clans sind ein sehr auffälliger Teil in OK-Milieus. Sie gefährden die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger. Aber: Es geht ja nicht immer nur um illegale Geschäfte im großen Stil. Die kriminellen Mitglieder von Clans agieren nicht nur in der Organisierten Kriminalität, sondern sind auch für jede Form von Alltagskriminalität verantwortlich. Und das beeinflusst das Sicherheitsempfinden der Menschen generell
Insbesondere im Ruhrgebiet schwand zunehmend das Vertrauen in Polizei und Justiz. Gerade dort hatten viele Leute das Gefühl, kriminelle Clans beherrschen die Straße, beherrschen den Staat, wir haben nichts mehr zu sagen. Und das macht das Phänomen so gefährlich.
Inzwischen machen syrische Clans den kurdisch-libanesischen Platzhirschen das Terrain streitig. Wie blicken Sie auf das Phänomen?
Reul: Wir stellen fest, dass einige Syrer, die hier auffällig werden, in ähnlichen Kriminalitätsfeldern unterwegs sind wie die arabischen Clans. LKA und SiKo Ruhr untersuchen aber gerade noch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Wir müssen die Strukturen besser verstehen, um dann zielgerichteter dagegen vorgehen zu können.
Der grüne Koalitionspartner in der Landesregierung würde gerne den Clanbegriff nur noch auf große OK-Verfahren beschränken, um eine Stigmatisierung dieser Familien mit kurdisch-arabischen Wurzeln zu verhindern. So sollen etwa alle allgemeinkriminellen Taten wie Körperverletzung, Überfälle, Diebstahl etc. unter den Tisch fallen. Wie beurteilen Sie dieses Ansinnen?
„ Das ist ein höchst komplexer Fall mit unterschiedlichen Akteuren“
Reul: Der Konflikt besteht darin, dass manche meinen, Clan-Kriminalität in den OK-Bereich verorten zu müssen. Ich aber sage, dass Clan-Kriminalität vor allem auch hinter Alltagsdelikten steckt, somit sind komplexe OK-Ermittlungen und die konsequente Null-Toleranz-Linie auch bei geringfügigeren Straftaten gleichermaßen Bestandteil der Bekämpfungsstrategie der Polizei.
Kommen wir zu den Sprengstoffanschlägen und Geiselnahmen im Zusammenhang mit holländischen Drogenlieferanten im Rheinland. Was geschieht da gerade? Bahnt sich ein neues Clan-Problem an?
Reul: Da wird noch intensiv ermittelt. Die Drogen stammten aus den Niederlanden. Die Hälfte der 700 Kilogramm Cannabis wurde aus einer Lagerhalle gestohlen, und dann eskalierte eine Gewaltspirale, die wir so in NRW noch nicht erlebt haben. Das ist ein höchst komplexer Fall mit unterschiedlichen Akteuren.
Drohen uns dieselben Verhältnisse wie in den Niederlanden mit Auftragsmorden, Bombenanschlägen bis hin zu Drogenkriegen?
Reul: Die Gefahr besteht, dass solche Szenarien häufiger stattfinden. Im aktuellen Fall haben unsere Ermittler das Problem frühzeitig erkannt. Bisher wurden zwölf der 15 bestehenden Haftbefehle vollstreckt. Das ist eine super schnelle Reaktion, die sicherlich auch unter den Drogen-Gangstern Wirkung zeigt. Allerdings muss man auch konstatieren, dass es sich nach den bisherigen Erkenntnissen um ein weit verzweigtes Netzwerk handelt.
„Über große Seehäfen landen tonnenweise Drogen an“
Nun wird stets von der „Mocro-Mafia“ gesprochen, eine Gruppierung meist gebürtiger Marokkaner aus den sozialen Brennpunkten von Utrecht, Amsterdam und Rotterdam, die nun auch in NRW und anderswo neue Geschäftsfelder mit brachialer Gewalt durchsetzen will. Welche Erkenntnisse bestehen in dem Kontext?
Reul: Ich warne vor der Verwendung des Begriffs „Mocro-Mafia“. Es ist ein medialer Kunstbegriff und wird in der Polizeiarbeit nicht genutzt - weder bei uns noch in den Niederlanden. Er suggeriert, dass wir es hier mit einer in sich geschlossenen Organisation zu tun haben. Da sind aber nicht nur Marokkaner, sondern auch Täter mit anderen Herkunftsbiografien dabei.
Die Drogenhändler hatten unter anderem auch in Köln einen Abnehmer für ihren Stoff mit örtlichen Banden geschaffen und dieses Mal ging die Sache schief.
Kriminalisten sprechen von einer Schwemme von Kokain, synthetischen Drogen, aber auch Cannabis.
Reul: Machen wir uns nichts vor, über die großen Seehäfen insbesondere in den Beneluxstaaten landen tonnenweise Drogen an. Und der Stoff wird dann in ganz Europa weiterverteilt.
Selbst unsere holländischen Nachbarn reagieren erstaunt darüber, dass Deutschland das Cannabis-Liberalisierungsgesetz eingeführt hat, mit dem in den Niederlanden der Aufstieg der sogenannten „Mocro-Mafia“ begann.
Reul: Das Erstaunen kann ich verstehen. Kurz nach dem Mord an dem niederländischen Enthüllungsreporter Peter De Vries im Juli 2021 haben Medien hierzulande über die Ursachen berichtet, wie das Drogennetzwerk in den Niederlanden aufgestiegen ist. Das hat mir schon damals zu denken gegeben.
„Mit Cannabis-Gesetz schaffen wir neuen Verkaufsraum für Großdealer“
Kriminelle Gangs begannen mit Cannabisschmuggel, übernahmen dann den Koks-Markt und …
Reul: Und jetzt stellt sich die Frage, ob die Cannabis-Legalisierung dazu führt, dass sich diese Banden auch an Rhein und Ruhr breitmachen? Das kann ich noch nicht definitiv sagen. Dafür ist der Zeitraum zu kurz, seitdem das Cannabis-Gesetz der Bundesregierung am 1. April in Kraft trat. Zahlen und damit empirische Beweise haben wir noch nicht.
Aber eigentlich ist es eine logische Folge. Wenn man den Konsum von Marihuana und Haschisch legalisiert, werden mehr Menschen einen Joint rauchen.
Und wenn das legale Angebot nicht da ist, weil die ganzen Cannabis-Vereine noch gar nicht aktiv sind und weil die auch gar nicht so viel produzieren können, dann pumpen die Drogenhändler aus den Niederlanden und anderswo ihren Stoff auf den Markt. Das heißt: Mit dem Cannabis-Gesetz schaffen wir einen neuen Verkaufsraum für die Großdealer.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach behauptet immer noch, dass mit der Legalize-it-Novelle Justiz und Polizei entlastet würden, weil zum einen der Schwarzmarkt zurückgehe und die Kiffer nicht mehr kriminalisiert würden.
Reul: Es ist genau umgekehrt. Derzeit ist es doch so: Staatsanwälte und Richter müssen zigtausende Altfälle durchleuchten, in denen Delinquenten unter anderem wegen Cannabis-Besitzes oder dem Handel verurteilt wurden. Die Polizei weiß noch gar nicht, wie sie in der Praxis mit den Leuten umgehen soll, die bis zu 50 Gramm Marihuana zu Hause horten. Früher war der Fall klar. Es handelte sich um eine nicht geringe Rauschgiftmenge, die nicht nur dem Eigenkonsum diente.
Heute weiß die Polizei nicht, warum ein Mensch 50 Gramm zu Hause lagert. Ist er ein Dealer? Wie häufig holt er sich neuen Stoff? Woher bezieht er das Zeug? Was macht einer mit 25 Gramm Gras in der Tasche am Kölner Ebertplatz? Will er das Zeug verkaufen? Das Lauterbach-Gesetz erschwert die Beweisführung enorm. Auch die Kommunen haben da Probleme. Wie wollen denn die Ordnungsämter sicherstellen, dass in einem 100-Meter-Kreis rund um eine Kindertagesstätte nicht gekifft wird? Das ist doch absurd.
Kann Polizei unter diesen erschwerten Bedingungen noch ihren Job machen?
Reul: Umfassend nein, in Teilen ja. Das war aber schon immer so im Kampf gegen den Drogenhandel. Deshalb ist es wichtig, dass die OK-Ermittler insbesondere die Verkaufs- und Logistikstrukturen der großen Gangs zum Beispiel aus den Niederlanden aufhellen können. Den Alltag, den Kleinkram aufzuklären – damit werden wir das Problem nicht lösen. Allerdings darf die Polizei auch die Klein- oder mittelgroßen Cannabis-Dealer nicht aus dem Auge verlieren. Klar ist aber auch, früher war das einfacher, mit dem Lauterbach-Gesetz wird dies schwieriger.