Oberst a. D. Ralph Thiele im Interview - Experte über Nord-Stream-Enthüllungen: „Es sammeln sich merkwürdig viele Zufälle“

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Ende September 2022 beschädigten mehrere Sprenungen die beiden Pipelines, dufch die russisches Gas nach Europa gelangte. (Archivbild)-/Danish Defence Command/dpa

Recherchen des „Wall Street Journal“ legen nahe, dass die Ukraine in den Sprengstoffanschlag auf die Nord-Stream-Pipelines verwickelt war. „Jetzt geht es auch um den deutschen Umgang mit diesem außerordentlichen Vorfall“, sagt Militärexperte Ralph Thiele.

Seit fast zwei Jahren versuchen Ermittler zu klären, wer hinter der Sprengung der Nord-Stream-Pipelines steckt. Recherchen des „Wall Street Journal“ (WSJ) deuten nun darauf hin, dass Kiew etwas damit zu tun hat und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj von den Plänen wusste.

Militärexperte Ralph Thiele sieht im Interview mit FOCUS online bisherige Annahmen bestätigt - und betont, dass die Enthüllungen ernst genommen werden müssten.

FOCUS online: Herr Thiele, das „Wall Street Journal“ veröffentlicht eine spektakuläre Recherche und berichtet über eine angebliche Verwicklung von Selenskyj in die Nord Stream-Sprengung. Wie bewerten Sie die neuen Informationen?

Ralph Thiele: Im Grunde sehe ich hier einfach nur die alte Erkenntnislinie weiter fortgeführt und bestätigt. Wichtig sind Inhalte, Narrative und Timing. Amerikanische Medien sind stets vorsichtig bei der Veröffentlichung solcher Informationen, um wirtschaftlichen Schaden zu vermeiden. Der „Watergate“-Skandal hat das gezeigt.

Heißt: Sie halten die Recherche für korrekt?

Thiele: Ja, ich nehme an, dass der Artikel nicht leichtfertig platziert wurde und dass im Hintergrund Gespräche mit amerikanischen Nachrichtendiensten stattfanden. Das bedeutet, dass die Mitarbeiter der Dienste berechtigt waren, bestimmte Informationen preiszugeben. Vor diesem Hintergrund nehme ich den Artikel sehr ernst und sehe das Ganze als eine Bestätigung der ukrainischen Verwicklung.

„Unglaubwürdig“, dass Selenskyj sich nicht um die Sabotageaktion gekümmert hat

Wenn Sie den Bericht lesen: Was geht Ihnen durch den Kopf?

Thiele: Wenn ich den Bericht lese, erkenne ich, dass Selenskyj und der Geheimdienst einbezogen waren. Selbst wenn jetzt berichtet wird, dass der ukrainische Präsident nach amerikanischer Intervention die Sabotageaktion gegen kritische Infrastruktur des wichtigen deutschen Partners und Unterstützers nicht mehr wollte, bleibt als Faktum, dass er und der Geheimdienst involviert waren und zumindest keine nachhaltige Vorsorge getroffen haben, dass die Sabotage unterbleibt.

Dass Selenskyj die Sabotageaktion verboten und sich nicht weiter darum gekümmert hat, halte ich für vorgeschoben und unglaubwürdig. Schließlich stand die fortgesetzte Unterstützung seines wichtigsten europäischen Partners, Deutschland, auf dem Spiel.

Eine Frage stellt sich natürlich trotzdem: Warum bringen amerikanische Dienste Selenskyj jetzt in Bedrängnis ?

Thiele: Das ist ein wichtiger Punkt. Denn: Warum sollten wir ein Land unterstützen, das für den größten Angriff auf die kritische Infrastruktur Deutschlands in der Geschichte der Bundesrepublik verantwortlich ist? Jetzt geht es auch um den deutschen Umgang mit diesem außerordentlichen Vorfall.

„Deutschland muss sich fragen, warum wir kein deutliches Zeichen gesetzt haben“

Was meinen Sie genau?

Thiele: Im Kontext der hybriden Kriegsführung war die Nord-Stream-Sprengung der Türöffner. Die Russen unternehmen inzwischen einiges im Bereich Brandstiftung und Sabotage logistischer Ketten. Wir bewegen uns auf erhebliche Störungen unserer kritischen Infrastrukturen zu.

Deutschland muss sich fragen, warum wir bei diesem ersten großen Vorfall kein deutliches politisches Zeichen gesetzt haben. Warum wir nicht klargemacht haben, dass wir solche Aktionen nicht zulassen und entsprechend sanktionieren.

Deutschland hat also auf die Nord-Stream-Sabotage keine angemessene Reaktion gezeigt?

Thiele: Es müssen jetzt Fragen beantwortet werden wie: Was hat die Bundesrepublik Deutschland in den letzten zweieinhalb Jahren unternommen, um dieser absehbaren Welle von Angriffen auf kritische Infrastrukturen Einhalt zu gebieten?

Hat sie ihre Lagebildfähigkeiten im Kontext hybrider Bedrohungen verbessert? Wurden die Dienste wie Verfassungsschutz, Polizei und Katastrophenschutz für die zusätzlichen Aufgaben gestärkt? Wurden Maßnahmen ergriffen, um besser mit solchen Bedrohungen umgehen zu können? Es kommen jetzt viele unangenehme Fragen auf. Aktuell sind wir jedenfalls nicht gut aufgestellt.

Zurück zum größten Angriff auf die kritische Infrastruktur Deutschlands in der Geschichte der Bundesrepublik: Im Artikel des WSJ wird breit geschildert, warum der amerikanische Geheimdienst damit nichts zu tun hat. Glauben Sie diesen Teil auch?

Thiele: Ich halte das für eine Nebelkerze der Geheimdienste. Natürlich war der amerikanische Geheimdienst involviert. Schließlich hatte er Kenntnis von der geplanten Operation.

Es gab eine Intervention bei der ukrainischen Regierung. Hierzu gab es zwangsläufig vorgeschaltete Rechercheaktivitäten, vermutlich auch in Verbindung mit befreundeten Geheimdiensten, die zweifellos das Geschehen weiter beobachtet haben.

In dem Zusammenhang ist auffällig, dass die polnischen Sicherheitsbehörden über Wochen hinweg den Vollzug des Haftbefehls gegen einen verdächtigten ukrainischen Taucher mit Wohnsitz in Polen haben schleifen lassen. Der Bericht im WSJ kam nun unmittelbar, nachdem der ganze Vorgang öffentlich wurde. Hier sammeln sich merkwürdig viele Zufälle. Ich will damit sagen: Wir haben erst die Spitze des Eisbergs offengelegt. Hier kommt noch viel mehr.

Trinkwasser-Manipulation passt nicht in das Raster der russischen Kriegsführung

Sie haben über Timing gesprochen. Auch in Deutschland gab es zuletzt den Verdacht auf Sabotage. Die Bundeswehr riegelte am Mittwoch zwei ihrer Standorte in Nordrhein-Westfalen ab und durchsuchte sie. Offenbar ging es um eine mögliche Manipulation des Trinkwassers. Fachpolitiker im Bundestag verdächtigten Russland, hinter den Sabotageversuchen zu stecken. Was denken Sie?

Thiele: Bei uns wird als Täter immer ein Russe vermutet, weil wir uns mental im Krieg mit Russland befinden, wie es Frau Baerbock einmal sagte. Intuitiv betrachtet, passt das Vergiften von Trinkwasser jedoch nicht ins Raster bisheriger russischer, hybrider Kriegsführung, wie sie sich gegenüber Europa und Deutschland im letzten Jahr entwickelt hat.

Wie sieht dieses Raster denn aus?

Thiele: Es gibt Spionage, Cyberangriffe, Tötungsdelikte, Brandanschläge, Unterbrechung von Transportwegen. Für die Durchführung stehen hauptamtliche Akteure wie Spione und Spezialkräfte zur Verfügung, aber auch eine große Zahl von nebenamtlichen und freiwilligen Akteuren – eine Art Pyramide: An der Spitze sitzt der russische Geheimdienst mit von Putin autorisierten Einsätzen.

Für sie arbeiten Spione und Saboteure, die verschiedene Aktionen ausführen. Es gibt aber auch Stellvertreter wie kriminelle Organisationen, die in Deutschland agieren, oder individuelle Aktivisten, die über das Internet angeworben werden.

Wenn es sich tatsächlich um Sabotage handelt, würde ich eher nicht-staatliche russische Akteure vermuten, wie Kriminelle oder Mitläufer, die sich selbst motivieren. Auch Insider sind denkbar, da es in allen Organisationen – auch Kasernen – immer Mitarbeiter gibt, die aus unterschiedlichen Gründen motiviert sein könnten, solche Taten zu begehen.

„Brauchen wir ein neues Konzept, um unsere Infrastrukturen zu schützen“

Es könnte also auch sein, dass das Kasernen-Thema nichts mit Sabotage zu tun hat?

Thiele: Auch andere Ursachen sind möglich, wie der schlechte Zustand der Infrastruktur in vielen Kasernen. Alte Leitungen und marode Gebäude sind ein bekanntes Problem. Angesichts der vielen zivilen Mitarbeiter und des oft geringen Sicherheitsniveaus ist es auch denkbar, dass es sich um Insidertäter handelt.

Was hier aber viel wichtiger ist: Generell brauchen wir ein neues Konzept, um unsere militärischen und kritischen Infrastrukturen zu schützen. Das bedeutet mehr Technik, Sensorik und spezialisierte Teams. Wachsamkeit allein reicht nicht aus; wir brauchen technologische Ausstattung und gut ausgebildete Zugriffsteams, die schnell und effektiv handeln können, um Schäden zu verhindern.

Das heißt also, dass diese Fälle eine Art Weckruf zur Wachsamkeit waren, unabhängig davon, ob es sich tatsächlich um russische Sabotage handelt?

Thiele: Ja, das war sozusagen ein Wachsamkeitskick. Unabhängig davon, ob es sich um russische Sabotage handelt, müssen wir uns für diese Thematik wappnen. Es gibt auch andere Akteure wie Chinesen oder Islamisten, die zu solchen Taten fähig sind.

„Die Russen sind nicht so schnell – ihre Führung agiert langsam“

Verwunderlich ist und bleibt aber das Timing: Mögliche Sabotageaktionen in Deutschland kurz nach dem ukrainischen Vorstoß in Kursk? Das erweckt den Verdacht, dass es eine Reaktion sein könnte.

Thiele: Die Russen sind nicht so schnell. Ihre Führung agiert langsam, bedacht und befehlstaktisch. Allerdings laufen russische hybride Operationen in Europa nun bereits etliche Wochen. Die Nato warnte zunächst vor einer vermuteten Zunahme hybrider Tätigkeiten der Russen, und kurze Zeit später dann vor tatsächliche Aktivitäten in Schweden, Finnland oder London – übrigens auch in Bayern.

Das bedeutet, solche hybriden Operationen sind Teil eines Eskalationsplans Putins. Mein Bauchgefühl und die europäische sowie weltweite Wahrnehmung legen nahe, dass dies bislang nicht zum aktuellen Portfolio hauptamtlicher russischer Spione oder Spezialkräfte gehört. Es könnte sich ändern, aber zum jetzigen Zeitpunkt sehe ich das nicht.

Was denken Sie, wie Putin jetzt weiter vorgehen wird, sowohl in der Ukraine als auch im Hinblick auf hybriden Krieg in anderen Ländern?

Thiele: In der Ukraine ist das Bild aus meiner Sicht ziemlich klar. Es gibt mehrere 100.000 Kämpfer auf beiden Seiten der Front und rund 1000 ukrainische Kämpfe in der Kursk Region, was im Vergleich eine relativ kleine Dimension darstellt. Putin führt den Krieg in der Ukraine konsequent weiter und macht dort Fortschritte, zum Beispiel Richtung Pokrowsk im Osten der Ukraine, wo seine Truppen nur noch zehn Kilometer entfernt sind.

Das bedeutet, dass die Stadt nun in Artillerie-Reichweite kommt und eine große Gefahr besteht, dass die Front implodiert, falls die Ukrainer sie nicht halten können. Die Aktionen in Kursk dienen dazu, sowohl russische Verbände von der Front abzulenken als auch mediale Aufmerksamkeit auf diese Region zu lenken.

Zwischenzeitlich läuft das hybride russische Engagement mit Auskundschaften, Brandstiftungen, Cyberangriffen und kleineren Sabotageaktionen bei unseren europäischen Nachbarn an. Der Schwerpunkt bewegt sich dabei von Ost- und Südosteuropa in Richtung Westen. Bislang zeigt uns Putin lediglich seine hybriden „Marterinstrumente“. mit denen er uns dann später im Zuge einer weiteren Eskalation des Konfliktes wohl heftiger quälen wird.

„Am Ende werden die Ukrainer sich zurückziehen oder sie werden vernichtet“

Der Kursk-Plan , geht er Ihrer Meinung nach auf?

Thiele: Die Ukrainer machen insbesondere im Bereich der elektronischen Kriegsführung gute Arbeit, indem sie die Kommunikation der Russen stören. Das ist problematisch, da deren Befehlsstruktur sehr streng hierarchisch ist und jeder Befehl durch die Kette übermittelt werden muss. So fällt es den Russen bislang schwer, ihre Einheiten effektiv zu führen. Allerdings gibt es östlich von Sudscha anscheinend bereits erste russische Erfolge gegen die ukrainischen Invasionskräfte.

Insgesamt nutzen die Ukrainer eine flexible Taktik, bei der sie sich bei Sudscha einigeln und von dort aus mobile Einsätze durchführen. Sie erkunden die Umgebung, nehmen Soldaten gefangen und versuchen, Schwachstellen auszunutzen. Obwohl dies aus russischer Perspektive ärgerlich ist, hat es bislang keine entscheidende militärische Bedeutung.

Die Russen agieren zwar weiterhin behäbig mit einer schlechten Führungsstruktur, aber am Ende des Tages werden die Ukrainer entweder gezwungen sein, sich zurückzuziehen oder sie werden gefangen genommen beziehungsweise vernichtet. Das passiert auf Kosten einer personellen und materiellen Unterdeckung an der Hauptfront, wo sie weiterhin unterlegen sind.