Olympia-Kolumne von Pit Gottschalk - Was „männliche“ Boxerin Imane Khelif erlebt, geht uns Deutsche doppelt an
Seit bei Olympia die Boxwettkämpfe laufen, sieht sich die Algerierin Imane Khelif Unterstellungen über ihr Geschlecht ausgesetzt. FOCUS-online-Kolumnist Pit Gottschalk erträgt die Häme aus dem rechten Lager nicht - und sieht die Olympiabosse um IOC-Präsident Thomas Bach in der Pflicht.
Im Video oben: Welche Medaillen können heute gewonnen werden
Wir wissen nicht viel von Imane Khelif, aber so viel dann doch: Sie ist 25 Jahre alt und in Tiaret in Algerien geboren, sie ist Boxerin und eine Frau. Das letzte Wort ist besonders wichtig. Seit bei Olympia die Boxwettkämpfe laufen, zweifeln Rechtsausleger, die Trump toll finden und Fake News lieben, ihr Geschlecht an und halten sie „für einen Mann, der Frauen schlägt“.
Jeder Punktsieg im Boxring wird ihr als Hinweis auf Männlichkeit ausgelegt. Ja, sie schlägt härter als andere Frauen. Aber TV-Moderator Stefan Raab hat das schon bei seinen Boxkämpfen gegen Regina Halmich erleben müssen: Ein gekonnter Faustschlag ist keine Frage des Geschlechts, sondern von Technik und Training. Die Frau hat ihn, den Mann, im Boxring windelweich gekloppt.
Der Unterschied zwischen „transsexuell“ und „intersexuell“
Ich gebe zu: Ich lernte in der Debatte um Imane Khelif Begriffe, die ich vorher vielleicht gehört, aber niemals durchdacht habe. Zum Beispiel den Unterschied zwischen „transsexuell“ und „intersexuell“. An die exakte Definition traue ich mich nicht heran. Meistens liegt man ungewollt entweder wissenschaftlich daneben oder empathisch. Wir wissen einfach zu wenig darüber.
Und keinesfalls möchte man jene mit Vorlagen bedienen, die jede gesellschaftliche Veränderung als Untergang des Abendlandes empfinden und „woke“ als Schimpfwort verwenden. In den USA reicht republikanischen Wahlkämpfern die Willensbekundung, dass man trotz Gleichberechtigung keine Männer beim Frauenschwimmen will - schon brechen Jubelstürme los. Was für Zeiten.
In Deutschland entdeckten rechte Blödelbarden ein altes Foto, das Imane Khelif mit einem im Kampfsport üblichen Tiefschutz zeigt. In diesem Milieu wird aus dem Tiefschutz schnell „ein Hodenschutz“, um mit der Andeutung Zweifel am Geschlecht zu streuen oder zu verstärken. So geht das die ganze Zeit und ist kaum zu ertragen. Die Sportlerin hat, solange es keine gegenteiligen Beweise gibt, ja nicht betrogen
Aus zwei Gründen betrifft uns der Fall Khelif
Was Imane Khelif erlebt, geht uns Deutsche doppelt an. Zum einen: Wir müssen einsehen, dass unsere gelernte Einteilung in zwei Geschlechter in ganz wenigen Fällen einfach scheitert. Zum anderen: Die Debatte, wie wir damit umgehen (zum Beispiel beim Sport), wird uns nur gelingen, wenn wir zu einem Mindestmaß an Sachlichkeit und echten Fakten zurückkehren.
Zu dieser Faktenlage gehört: Imane Khelif hat nichts Verbotenes getan. Die Natur hat ihrem Frauenanteil im Körper einen hohen Anteil Männlichkeit beigemischt, was ihr die Zuteilung „intersexuell“ einbrachte. Dafür kann sie nichts. Sie wollte nur boxen. Die Regelhüter oder die Statuten waren ihrem Fall nicht gewachsen - und erlaubten ihre Olympia-Teilnahme.
Grenzfälle kommen selten vor. Die südafrikanische Mittelstreckenläuferin Caster Semenya war der vielleicht prominenteste Fall, wie das Regelwerk an seine Grenzen stößt. Bei der Geburt hatte man sie als „weiblich“ eingestuft. Alle medizinischen Untersuchungen zu überhöhtem Testosteron und XY-Chromosomen bewiesen kein eindeutig männliches Geschlecht. Sie ist: intersexuell.
Als sie große Wettkämpfe gewann und 2016 wie 2012 Olympiagold, wollten oberste Sportgerichte Klarheit über Grenzwerte beim Testosteronspiegel herstellen und verkeilten sich mit staatlichen Gerichten über Fragen von Diskriminierung und Chancengleichheit. Das alles geht zu Lasten von Sportlerinnen wie Imane Khelif: Sie wird angefeindet, obwohl sie eine Startberechtigung hat.
Das IOC muss eine Lösung finden
Die hat sie weder ergaunert noch erschlichen. Gleichwohl muss man die Protestnoten ihrer Gegnerinnen ernst nehmen, die das Testosteron hinter den Fäusten spüren. Die Italienerin Carini will eine Schlagstärke “wie noch nie" empfunden haben. Der Chef des Boxweltverbandes, ein Russe namens Umar Kremlew, bot ihr 100.000 Euro Entschädigung an. Gottseidank: vergeblich.
So eine Art Schweigegeld ist so ziemlich das Letzte, was diese Debatte braucht. Aber es reicht auch nicht, wenn IOC-Präsident Thomas Bach auf die bestehenden Teilnahmekriterien verweist, die Imane Khelif erfülle. Man kann, um im Jargon zu bleiben, so ein Thema nicht „durchboxen“. Sein IOC muss hier schon Stehvermögen zeigen und Regeln aufstellen, um Rechtsausleger zu entgiften.
Die entscheidende Frage ist doch: Wie geht das IOC mit Intersexualität um? Alle bisherigen Antworten führten zu Häme und Verunglimpfung. Im Moment steht Imane Khelif schutzlos in der Öffentlichkeit und muss über sich ergehen lassen, dass man ihr den Halbfinaleinzug madig macht und ihr das Personalpronomen „er“ zuschreibt. Darum nochmals: Imane Khelif ist, nach allem was man bisher weiß, eine Frau.