Olympia-Kolumne von Pit Gottschalk - Nachdem ich einen Punkt gegen Timo Boll machte, habe ich nie wieder Tischtennis gespielt
FOCUS-online-Kolumne Pit Gottschalk schaut ganz genau hin, wenn der Weltstar von Borussia Düsseldorf zum siebten Mal in seiner Karriere bei Olympia auftritt. Er hatte sich mal mit Timo Boll zu einem Duell an der Tischtennisplatte verabredet - und zahlte ordentlich Lehrgeld.
Wenn ich nur einen einzigen deutschen Sportler bei Olympia sehen dürfte, würde ich mit meiner Antwort keine Sekunde zögern. Meine Antwort wäre: Timo Boll. Bei seinem Namen dürfen wir Deutschen gerne ein schlechtes Gewissen haben: Wir wussten und wissen seine Bedeutung fürs Tischtennis und den deutschen Sport nicht immer ausreichend zu würdigen.
Darum zur Erinnerung: Er nimmt in Paris 2024 zum siebten Mal (!) an Sommerspielen teil. Das haben vor ihm nur drei Landsleute geschafft: der Sportschütze Ralf Schumann sowie die Reitsportler Isabell Werth und Ludger Beerbaum. Bei Google habe ich schnell nachgeschaut, wann Timo Boll erstmals Weltranglistenerster war: 2003 - über zwei Jahrzehnte ist das jetzt her.
Timo Boll, Mr. Olympia
Und jetzt geht er in Paris wieder an den Start - mit 43 Jahren! Die Mannschaft braucht ihn und seine Erfahrung. Ich werde mir seine Spiele natürlich anschauen. Wenn ich Timo Boll bei Olympia sehe, wird mir ganz mulmig. Denn ich kam mal auf die verrückte Idee, mich mit ihn an der Tischtennisplatte zu messen. Echt wahr: Ich hatte geglaubt, dass ich einen Ballwechsel hinkriege.
Die Idee entstand so. Als ich vor wenigen Jahren meinen alten Wiener Freund, einen bekannten Fernsehmann, in dessen Wochenendhaus auf dem Land besuchte, wartete im Schuppen eine kleine Überraschung auf mich. Eine nagelneue Tischtennisplatte. 20 Jahre hatte ich nicht mehr gespielt. Allein der Anblick lockte mich aus der Reserve.
Ich wusste nur: Meine Rückhand war nicht schlecht, die Vorhand praktisch nicht vorhanden, mein Ehrgeiz aber ungebrochen. Tatsächlich fegte ich die Gäste des Hauses reihenweise aus dem Schuppen. Einen einzigen Satz gab ich übers Wochenende ab. Und nur, weil ich noch nicht eingespielt war. Ich kostete meinen Triumph unangemessen aus.
Mein Tischtennis-Ehrgeiz wurde geweckt
Dummerweise weckte ich damit den Ehrgeiz meines Wiener Freundes. Im Jahr darauf wollte ich ihn überrumpeln und legte mir einen Semiprofischläger zu, um meine Defensivkunst mit noch mehr Schnitt in den Bällen zu verfeinern. Leider bekam ich zu spät mit, dass sich mein Freund Trainingsstunden in der Tischtennis-Akademie gegönnt hatte.
Seine Revanche endete in meinem Desaster: Nicht einen Satzgewinn konnte ich an jenem Sommerwochenende verbuchen. Mein Nimbus der Unbesiegbarkeit war dahin, meine Laune am Tiefpunkt. Wer mich auch nur ein bisschen kennt, ahnt schon, was kam. Ich suchte nach einer Konterchance. Unterricht in Hamburg: kaum möglich. Nur unterklassiges Personal dort…
Meine Retourkutsche wurde erst möglich, als ich nach Düsseldorf zog. Dort beheimatet: Borussia Düsseldorf, das Bayern München des Tischtennis. Der Superstar heißt dort: Timo Boll. Ich wollte Nachhilfe bei ihm. An einem Samstag im Sommer 2016 war es endlich so weit. Timo Boll war gerade aus Rio zurückgekehrt. Mit Olympia-Bronze und Originalbällen im Gepäck.
Ich ließ meine Verbindungen spielen und fuhr – mit der Terminbestätigung – ins Deutsche Tischtennis-Zentrum. Nun, ich komme ja eher vom Fußball. Also fragte ich eine Kollegin, eine ausgewiesene Tischtennis-Expertin in meiner damaligen Redaktion, ob sie mich zum Termin begleiten und mitspielen wolle. Ein verhängnisvoller Fehler. Sie sagte Ja.
In der Hand ein Olympia-Schläger von Timo Boll
Pünktlich waren wir in der Halle. Timo Boll kam, lächelte freundlich, keine Spur von Jetlag. Das Interview dauerte eine gute Stunde. Dann ging es in die Trainingshalle. Mal sehen, was er so drauf hat, dachte ich. Er war ja am Nacken verletzt. Meine Kollegin ging zuerst zu ihm an den Tisch. Und es dauerte so ungefähr vier Ballwechsel, dass ich dachte: Was hast du dir nur eingebildet?
Die zwei schlugen sich mit der Vorhand rücksichtslos schnell die Bälle um die Ohren. Für einen Moment fasste ich den Gedanken, heimlich die Halle zu verlassen. Es stellte sich nämlich heraus, dass meine Kollegin mal in der Verbandsliga gespielt hat. Timo Boll lobte sie: „Du hast Talent.“ Was sollte der Weltstar von mir denken, wenn ich anschließend im Vergleich Pingpong spiele?
Wie kann ich den Schaden begrenzen? Tja, ich machte mich nützlich. Ich sammelte die Bälle ein. Befeuerte die beiden, dass sie möglichst lange spielen, damit die Zeit verstrich. Überlegte, ob ich nicht eine Verletzung vortäuschen könnte. Leider ist Timo Boll so nett, dass er jedes Zeitgefühl für seinen nächsten Termin missachtete und irgendwann zu mir sagte: „Jetzt sind Sie dran.“
Timo Boll drückte mir seinen Original-Schläger in die Hand, mit dem er in Rio im Halbfinale gegen den Japaner Jun Mizutani verloren hatte. Wer noch nie einen Profischläger in der Hand hatte, sollte Folgendes wissen: Im Tischtennis sind das Waffen. In der Hand eines Amateurspielers fliegen die Bälle mit diesen Schlägern nicht mehr übers Netz – die Bälle schießen.
„Episches“ Tischtennis-Duell mit Timo Boll
Bei mir: übers Ziel hinaus. Das Ergebnis: Timo Boll ist ziemlich gut beim Fangen zu lang geratener Returns. Irgendwann schaltete er ebenfalls auf Pingpong um. Jetzt kam meine Rückhand zum Einsatz. Er schlug die Bälle in mein linkes Feld, so dass ich mit Konzentration und Schweißausbrüchen die Bälle erstens erwischte und zweitens zielsicher auf seine Tischseite brachte.
Ja, im hohen Bogen – aber immerhin. Timo Boll sagte wohlwollend: „Sie haben einen gewissen Touch.“ Das Kompliment ist ähnlich vergiftet wie die Bemerkung nach dem ersten Date: „Du bist nett.“ Ich setzte meinen Tunnelblick auf und täuschte Ernsthaftigkeit bei meinem Tun vor. Ich nenne es: offensive Schadensbegrenzung. Timo Boll nennt es wohl: ganz nett.
Jedenfalls passierte etwas, das ich nicht für möglich hielt. Eine meiner endlos hohen Bogenlampen fand exakt diese eine Kante, gegen die jeder noch so große Weltklassespieler beim Tischtennis wehrlos ist. Der Ball sprang von der Tischkante ins Nirgendwo, unerreichbar für die Krake mit dem Deutschland-Adler auf der Brust.
Ein Punkt gegen Timo Boll - mein letzter Schlag
Ich riss die Arme hoch, setzte zur Ehrenrunde an, als mir noch rechtzeitig die Peinlichkeit des Augenblicks bewusst wurde und ich die Chance zum Abgang erkannte. „Wunderbar so!“, sagte ich zu Timo Boll, „besser kann es nicht mehr werden. Hören wir auf!“ Er lächelte gnädig und signierte mir den mitgebrachten Tischtennis-Schläger aus dem Sportgeschäft.
Hätte er zum Weitermachen animiert, hätte ich Monty Python bemühen müssen und geantwortet: „Okay, sagen wir: Unentschieden!“ Wir gaben uns die Hand. Natürlich wird man als Sportreporter niemals auch nur annähernd das Level eines Leistungssportlers erreichen. Dennoch ist der Schlagabtausch mit Spitzenathleten aus zwei unterschiedlichen Gründen zu empfehlen.
Erstens: Man lernt Demut vor dem Sportler. Wenn man wie ich ständig mit den Protagonisten des Fußballs abhängt, rutscht man zwangsläufig in den Sog dieser millionenschweren Branche. Alle anderen Sportarten, siehe Einschaltquoten im Fernsehen, wirken klein. Ich jedenfalls weiß Timo Bolls Leistung seit unserem Duell bei Borussia Düsseldorf ganz anders zu schätzen.
Zweitens: Die Lehrstunde bei einem Weltstar weckt das Verständnis für Sportarten und verbreitert das Sportwissen. Er zeigte mir an seinem Schläger Griff, Belag und Lage in der Hand, damit ich begriff, dass man so ein Spezialwerkzeug für kein Geld im Handel erstehen kann. In seinem Sportgerät steckt jahrelange Erfahrung und Verbesserung; es ist seine verlängerte Hand.
An das alles werde ich denke, wenn ich Timo Boll nächste Woche bei Olympia sehe. Und ziehe innerlich vor ihm und seiner Karriere den Hut. Sportlich spielt er in einer Liga mit Sven Hannawald, Michael Schumacher, Dirk Nowitzki und Boris Becker. Ich weiß das heute. Und habe seit 2016 nie wieder Tischtennis gespielt. Ich komme mir an der Tischtennisplatte heute dilettantisch vor.