Pädagogin gibt Tipps - Wer Töchter erziehen will, darf nicht in die „Brave-Mädchen-Falle“ tappen

Warum Eltern die „Brave-Mädchen“-Falle vermeiden sollten<span class="copyright">Getty Images/Cavan Images RF</span>
Warum Eltern die „Brave-Mädchen“-Falle vermeiden solltenGetty Images/Cavan Images RF

Auch wenn die meisten Eltern Mädchen und Jungen gleichwertig erziehen wollen, gelingt das häufig nicht. Vielen ist gar nicht bewusst, dass sie in die „Brave Mädchen“-Falle tappen. Im Interview erklärt Pädagogin Susanne Mierau, wie Eltern ihre Töchter zu starken Persönlichkeiten erziehen können.

Viele erwachsene Frauen leiden unter einem geringen Selbstwertgefühl, haben Schwierigkeiten, sich für die eigenen Bedürfnisse einzusetzen und neigen als Mütter zu Aufopferung. Das hat viel damit zu tun, wie sie als Mädchen von ihren Eltern und nahen Bezugspersonen behandelt worden sind. Diese Prägungen geben Mütter, aber auch Väter, oft unbewusst an ihre eigenen Kinder weiter. Sie tappen in die „Brave-Mädchen“-Falle.

Die Pädagogin, Familienbegleiterin und Bestseller-Autorin Susanne Mierau erzählt im Interview mit FOCUS online, welche Auswirkungen es haben kann, wenn Eltern ihre Töchter zu „braven Mädchen“ erziehen und was sie stattdessen tun können, damit sie sich zu starken Persönlichkeiten entwickeln.

Frau Mierau, gibt es so etwas wie eine „Brave-Mädchen-Falle“ in der Erziehung? Wie äußert sich das?

Susanne Mierau: Tatsächlich haben wir das Problem weiterhin, obwohl wir unsere Kinder ja eigentlich gleichwertig erziehen wollen. Aber leider zeigt sich an vielen Kleinigkeiten, dass Mädchen immer noch eher zu „braven“ Töchtern erzogen werden. In der Corona-Zeit hat sich das noch einmal sehr deutlich offenbart. Da gab es eine Studie, die gezeigt hat, dass die Mädchen häufiger für Hausarbeiten und die Beaufsichtigung von jüngeren Geschwistern herangezogen wurden als die Jungen. Das ist etwas, was sich im Alltag immer noch mit versteckt, auch durch unbewusste Prägungen der Eltern. Und das ist nur ein Beispiel von vielen.

An welchen Beispielen kann man noch erkennen, dass Mädchen eher brav sein sollen?

Mierau: Wir haben auch eine geschlechtsspezifische Sozialisation im Bezug auf Gefühle. Wilde Jungs werden eher toleriert als wilde Mädchen. Bei den Jungs heißt es, die sind halt so, die prügeln sich halt mal, das ist ganz normal. Bei Mädchen wird viel stärker reglementiert und auch bewertet. Ein wütendes Mädchen wird vielleicht als Zicke bezeichnet. Mädchen sollen ihre Wut oder Aggression nicht so offen zeigen. Das führt dazu, dass sie sie häufig nach innen richten oder umleiten – denn das Gefühl verschwindet ja nicht einfach.

 

Welche Folgen kann es haben, wenn die Mädchen ihre Wut nicht zum Ausdruck bringen können?

Mierau: Wut nicht ausdrücken zu dürfen, kann zu einer Einschränkung des Verhaltens führen, schon bei Kindern. Konfliktbewältigungsversuche und auch Aggression werden vielleicht mehr nach innen gerichtet, was bis zu Selbstverletzung führen kann. Manchmal wird auch gelernt, Wut nicht mit Grenzsetzung zu vermitteln, sondern auf Wut mit Weinen zu reagieren, um darüber Fürsorge zu erhalten. Wenn man jedoch wütend ist, weil eine körperliche oder emotionale Grenze überschritten wurde, vielleicht eine Überlastungsgrenze, dann ist weinen vielleicht das falsche Signal. Sie wollen ja nicht getröstet werden, sondern sie wollen, dass eine Situation verändert wird.

Auch passiv-aggressives Verhalten ist denkbar. Zum Beispiel durch Lästern als Ausdruck von Aggression. Gelegentliches Lästern ist normal und dient Menschen als Verbindung, aber es kann auch eine aggressive Art haben. Wenn andere abgewertet werden müssen, um sich selbst aufzuwerten, ist Lästern bis soziale Manipulation eine Form der Aggression, die anders nicht ausgedrückt werden darf.

Was müssen Eltern denn in der Erziehung von Töchtern ganz besonders beachten?

Mierau: Sie sollten darauf achten, dass sie ihre Töchter zum Beispiel nicht nur in Situationen loben, in denen sie sich „brav“ verhalten, also zum Beispiel angepasst haben, oder für ihr Aussehen. „Du siehst aber heute süß aus“, ist zum Beispiel eine Aussage, die sich auf eine reine Äußerlichkeit bezieht und die Mädchen häufig hören. Jungs werden eher für ihre Tätigkeiten gelobt und das sollten Eltern auch bei ihren Töchtern tun. Etwa: „Deine Sandburg ist ja riesig geworden!“ oder: „Ich mag die vielen bunten Farben auf deinem Bild.“.

Darüber hinaus haben Mütter und Väter natürlich jeweils eine sehr wichtige Vorbildfunktion.

 

Welche Vorbildfunktion haben speziell Väter für ihre Töchter?

Mierau: Väter haben – sofern sie aktiv Vaterschaft leben – eine sehr wichtige Vorbildfunktion für Mädchen. Wenn sie zum Beispiel im Alltag auch Tätigkeiten übernehmen, die Fürsorge für die Familie zeigen, wie Haushaltsaufgaben und emotionale Fürsorge, wirkt sich das positiv aus.

Es macht einen Unterschied, ob ein Kind erlebt, dass sich in der Familie alle umeinander kümmern, oder ob das immer eher die Mama macht, sich anpasst und um alle kümmert. Es ist wichtig, dass Kinder erleben können, dass die Familienarbeit nicht nur die Aufgabe von Müttern ist, sondern dass es eine gemeinsame Aufgabe von allen ist. Denn sonst besteht gerade bei Mädchen die Gefahr, dass sie das „brav sein“ im Sinne von „sich um andere kümmern“ und im schlimmsten Fall „sich aufopfern“, übernehmen.

Väter haben außerdem einen großen Einfluss auf die Selbstwirksamkeit und Selbstständigkeit ihrer Töchter. Es gibt Studien, die zeigen, dass Töchter von Vätern, die ihr Selbstbewusstsein besonders gut unterstützt haben, eher MINT-Berufe* ergreifen. Was nicht bedeutet, dass die anderen Berufe schlechter sind – aber es ist natürlich von Vorteil, wenn Mädchen eine Entscheidungsfreiheit haben und nicht aufgrund geschlechtsspezifischer Prägungen eher dazu neigen, in Care-Arbeitsbereiche zu gehen.

* Anm.d.Red.:Unter MINT-Berufen versteht man weitläufig alle Berufsbilder, die sich unter den Begriffen Mathematik, Informatik, Natur- und Ingenieurwissenschaft und Technik einordnen lassen.

 

Viele Mütter neigen dazu, sich im Familienalltag eher den Bedürfnissen aller anderen anzupassen und übernehmen im Schnitt den größten Anteil der Sorgearbeit. Wirkt sich das negativ auf ihre Töchter aus?

Mierau: Ich möchte den Müttern nicht noch eine Last aufbürden, indem ich sage „ihr müsst jetzt wirklich damit aufhören“. Es geht nicht von heute auf morgen, aber wir dürfen schon einmal reflektieren und auch überlegen, wie Mütter entlastet werden können und vor allem, wo Väter sich selbständig mehr einbringen können.

Es ist schon ein Problem, dass die wenigsten Kinder regelmäßig erleben, dass ihre Mama sich ausruht. Wann sieht ein Kind mal, dass seine Mutter wirklich entspannt ein Buch liest? Viele erlauben sich das erst, wenn alle versorgt sind und der Haushalt erledigt ist – die eigenen Bedürfnisse kommen dann meist zu kurz.

Was kann den Müttern in der Situation helfen?

Mierau: Ich glaube, es ist wirklich gut, einmal zu reflektieren und in sich reinzufühlen: Was könnte ich in meinem Alltag ändern, um da ein anderes Vorbild zu sein?

In meinen Beratungen versuche ich, mit den Müttern zu schauen, wo es Möglichkeiten gibt, mehr Entspannung in ihren Alltag zu bringen und empfehle, nach Zeitfenstern zu suchen, in denen sie sich wirklich mal ausruhen – ganz egal, was noch alles auf der To-Do-Liste steht.

Wichtig ist auch, diese Dinge in der Partnerschaft zu besprechen. Zu sagen, der aktuelle Zustand ist kein gutes Vorbild für unser Kind und tut mir auch nicht gut, lass uns das anders machen, damit ich entspannter bin im Alltag.

Welche Tipps haben Sie noch für die Erziehung von Mädchen?

Mierau: Es ist schön, wenn Eltern es schaffen, ihren Töchtern eine möglichst freie Entwicklung zu ermöglichen. Das kann gelingen, indem man die eigenen Bewertungen und Handlungen kritisch reflektiert und auch auf Kleinigkeiten achtet. Brav sein hat meist etwas mit angepasst sein zu tun. Wir können uns also fragen, in welchen Situationen wir vielleicht bislang unbewusst eine Anpassung unserer Töchter eingefordert oder gefördert haben.

Kleidung kann zum Beispiel eine Rolle spielen, denn Anpassung kann auch eine Bewegungseinschränkung sein. Ein Mädchen in Skinny Jeans, wie es sie ja mittlerweile auch schon in den Kinderabteilungen gibt, kann gar nicht so wild und frei spielen. Das heißt, dass Mädchen auch teilweise schon körperlich angepasst werden, sich nicht so stark bewegen und auf dem Spielplatz eher ruhig sind. Das ist nicht wie eine Zwangsjacke, aber es macht natürlich etwas mit den Kindern, ob sie sich frei bewegen können, weil sie gemütliche Kleidung tragen, oder ob sie etwas anhaben, das ihre Bewegungsmöglichkeiten einschränkt.

Auch das, was wir über die Kleidung unserer Töchter sagen, kann Auswirkungen haben. Loben wir unsere Töchter, wenn sie sich ordentlich angezogen haben, die Kleidungsstücke zueinander passen und die Haare gekämmt sind? Dann können wir uns fragen, was wir damit ausdrücken, wenn wir diese Dinge durch unsere Bewertung hervorheben – nämlich oft Angepasstheit. Wir könnten stattdessen andere Aspekte hervorheben. Etwa: „Das sieht aber sehr gemütlich aus!“