Parteien zerfleischen sich - Sieben Ideen sollen Thüringen für AfD-Sieg rüsten - doch jetzt kommt alles anders
Thüringen bereitet sich auf einen möglichen Wahlsieg der AfD vor. Sieben Vorschläge liegen auf dem Tisch, um das Bundesland zu wappnen und Chaos zu verhindern. Doch jetzt entbrennt bei den etablierten Parteien ein bizarrer Streit um den Anti-AfD-Fahrplan.
Eigentlich herrscht in Thüringen große Einigkeit: Ein chaotischer Zustand, weil die AfD bei der Landtagswahl stark abschneidet, soll unbedingt vermieden werden. Den Politikerinnen und Politikern in dem Bundesland kam es deshalb gerade recht, dass sie im April eine Schritt-für-Schritt-Anleitung präsentiert bekamen, wie Verfassung und Institutionen AfD-fest gemacht werden können.
Der Jurist und Journalist Maximilian Steinbeis hatte monatelang mit seinem Team untersucht, was passieren würde, wenn Demokratiefeinde an die Macht kämen. „Weil autoritär-populistische Parteien häufig Demokratie und Rechtsstaat aushöhlen, ohne gegen geltendes Recht zu verstoßen, werden Gegenmaßnahmen oft zu spät eingeleitet“, notierten sie damals.
In einem Papier gaben die Projekt-Mitarbeiter der Politik deshalb sieben konkrete Handlungsempfehlungen mit, ohne sich in langen Ausführungen zu verlieren.
Die mediale Resonanz war groß, Steinbeis und sein Team erhielten viel Lob. Doch dass die Umsetzung der Vorschläge kein Selbstläufer werden würde, deutete sich schon an, als Steinbeis die Ergebnisse des Projekts im Landtag vorstellte – und lediglich ein Abgeordneter gekommen war, ausgerechnet von der AfD.
Vier Monate später, kurz vor der Landtagswahl, sieht die To-do-Liste des Projekts immer noch jungfräulich aus: Kein einziger der sieben Punkte ist vollständig abgehakt.
Ein beispielloser Streit zwischen allen Beteiligten in Thüringen
Dabei klingen die meisten Vorschläge ziemlich einfach umsetzbar. So sollte zum Beispiel in der Geschäftsordnung des Landtages konkretisiert werden, wer den Parlamentspräsidenten vorschlagen darf. Oder in der Verfassung Klarheit geschaffen werden, wie der Ministerpräsident gewählt wird. Oder die Verfassung so zu ändern, dass ein Ministerpräsident alleine nicht das Ende des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einleiten kann.
Sicher, für jedes dieser Vorhaben hätte es eine Mehrheit gebraucht, teilweise sogar mit zwei Dritteln der Landtagsabgeordneten. Mit einer Minderheitsregierung, wie Linken-Politiker Bodo Ramelow sie derzeit in Thüringen anführt, ist das eine Herausforderung. Doch trotz der schwierigen Mehrheitsverhältnisse hat man schon herausfordernde Situationen wie die Corona-Pandemie gemeistert. Und wenn es um die Verteidigung der Demokratie geht, sollten da nicht ohnehin alle zusammenstehen?
Hört man sich in der Thüringer Politik um, bleibt von dieser idealistischen Vorstellung wenig übrig. Über die geplanten Änderungen ist ein beispielloser Streit losgebrochen, zwischen rot-rot-grüner Koalition und Opposition, aber auch innerhalb der Koalition.
Die AfD-Machtübernahme beginnt beim Landtagspräsidenten
Eine Kontroverse spinnt sich um die Wahl des Landtagspräsidenten. Der „Verfassungsblog“, dessen Chefredakteur Steinbeis ist, hatte schon im vergangenen Jahr einen Text veröffentlicht, der erklärte, „warum die Machtübernahme durch die AfD schon früher beginnen könnte, als viele glauben“. Die könnte nämlich ganz ohne Regierungsbeteiligung schon in Gang gesetzt werden, wenn die AfD bei der Wahl vor allen anderen Parteien landet. Dann steht ihr nämlich nach dem herkömmlichen Verständnis der Posten des Parlamentschefs zu.
Der könnte, schreibt Steinbeis, die Wahl des Ministerpräsidenten maßgeblich beeinflussen. Er könnte beschlossene Gesetze einfach nicht mehr im Amtsblatt veröffentlichen, so dass sie kein geltendes Recht werden. Er könnte im Namen des Landtages „rechtsextreme Delegationen aus Deutschland und aller Welt als Gäste empfangen“. Er könnte selbst auf Reisen gehen und „eine Art informelle thüringische Nebendiplomatie starten“.
„Nicht ausreichendes Verständnis von wehrhafter Demokratie“
Der Landtagspräsident wird von der stärksten Fraktion vorgeschlagen und muss von der Mehrheit der Abgeordneten gewählt werden. Fällt er durch, gibt es zwei Szenarien: Die AfD könnte als stärkste Kraft immer weitere Kandidaten präsentieren, bis einer gewählt ist oder der Landtag im Chaos versinkt, weil er nicht arbeitsfähig wird. Oder man verständigt sich darauf, wie das Thüringen-Projekt vorschlägt, dass auch die anderen Fraktionen das Vorschlagsrecht erhalten.
In der rot-rot-grünen Koalition sieht man diese Möglichkeit gegeben, auch ohne explizit die Geschäftsordnung des Landtages anzupassen. Für Benjamin-Immanuel Hoff, Chef der Staatskanzlei und Vertrauter von Ramelow, gab es eine solche Verständigung.
Das Thema ist für ihn damit aber nicht erledigt. Der Linken-Politiker fürchtet, dass CDU und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) darauf beharren könnten, dass der Posten des Parlamentschefs der AfD im Falle eines Wahlsieges zusteht. „Das ist ein nicht ausreichendes Verständnis von wehrhafter Demokratie“, betont Hoff im Gespräch mit FOCUS online.
Alles klar bei der Wahl des Ministerpräsidenten – oder nicht?
Während in diesem Punkt die Konfliktlinie zwischen Koalition und Opposition verläuft, ist die Gemengelage bei einer anderen Frage komplizierter. Wie schon nach vergangenen Landtagswahlen dürfte auch im September die Mehrheitsfindung in Thüringen schwierig werden, eine erneute Minderheitsregierung ist denkbar. Weil sie keine absolute Mehrheit im Landtag besitzt, wird der Ministerpräsident voraussichtlich in den ersten beiden Wahlgängen durchfallen, weil er diese benötigt. Entscheidend wird dann der dritte Wahlgang.
Über ihn gibt es schon lange Streit. Die Frage: Ist ein allein antretender Kandidat gewählt, wenn er 40 Ja-Stimmen erhält und 50 Nein-Stimmen? Oder braucht er mindestens 46 Ja-Stimmen gegen 44 Nein-Stimmen, um gewählt zu sein?
Die einen, wie Hoff, sehen die Frage in der Verfassung klar beantwortet. Andere, wie zum Beispiel die CDU und Innenminister Georg Maier von der SPD, halten die Formulierung im Gesetz für uneindeutig. Über diesen Streit ist es fast schon egal geworden, ob die Formulierung tatsächlich wasserdicht ist oder nicht – denn durch ihn hat man der AfD Angriffsfläche geboten, bei einem möglichen dritten Wahlgang mit dieser Unklarheit zu spielen.
SPD und Linke machen sich gegenseitig Vorwürfe
Die Vorwürfe, die sich Linke und SPD in dieser Sache machen, sind heftig. Bei den Sozialdemokraten ist man der Meinung, Ramelow und sein Vertrauter Hoff würden eine zentrale Frage für die Verteidigung der Demokratie als juristische Spitzfindigkeit abtun.
Hoff hingegen schreibt in einem Papier, das FOCUS online vorliegt, dass „wissentlich oder aus fehlender Kenntnis heraus unrichtige Sachverhalte aus der Regierung heraus kommuniziert werden“. Der „vermeintliche Zweifel“ an dem Verfassungspassus sei „aus der absolut überwiegenden Sicht der Rechtswissenschaft ein Scheinproblem“.
Nach einigen Hin und Her sondierte Hoff schließlich, ob man als Koalition schließlich doch noch zusammen mit der CDU eine gemeinsame Neuformulierung des Paragrafen umsetzen könnte. Doch die Partei von Mario Voigt, der Ramelow nach der Wahl ablösen will, wollte die Regelung so anpassen, dass sie die Bildung einer Minderheitsregierung verkompliziert.
Das wiederum wollte die Linke nicht. „Die Mütter und Väter der Thüringer Verfassung haben sie so gestaltet, dass auch in schwierigen Situationen eine Regierungsbildung möglich ist. Das war geradezu prophetisch“, erklärt Hoff. Dass die Ablehnung auch damit zusammenhänge, dass eine solche Regelung rückblickend auch die Minderheitsregierung von Ramelow infrage stellen könnte und eine Neuauflage erschweren würde, verneint der Chef der Staatskanzlei deutlich.
Allerorts Bedauern über das Scheitern
Warum es denn nicht einmal gelinge, eine Mehrheit für eine wehrhafte Demokratie zu finden? Zum einen sei die Zeit knapp gewesen, so Hoff. Zwischen Vorstellung des Thüringen-Projekts und der parlamentarischen Sommerpause vor dem Wahlkampf lagen nur wenige Monate. Steinbeis räumt das ein, betont aber, selbst unter enormem Zeitdruck an den Vorschlägen gearbeitet zu haben.
Hoff nennt noch einen grundsätzlicheren Punkt: „Immer wenn es um Machtpolitik geht, wird es schwer, Entscheidungen über Parteigrenzen hinweg zu treffen“, so Hoff. „Das bedauere ich sehr.“
Von Bedauern ist nun häufig die Rede. Der justizpolitische Sprecher der CDU-Fraktion in Thüringen, Stefan Schard, schreibt auf Anfrage von FOCUS online beispielsweise: „Wir bedauern es, dass Rot-Rot-Grün nicht bereit war, weitergehende Vorschläge der CDU-Fraktion zur Klarstellung der Regelungen zur Ministerpräsidentenwahl zu beschließen.“
Was passiert unter einer AfD-Regierung mit dem Verfassungsschutz?
Während in Thüringen weiter gestritten und bedauert wird, wurden andernorts möglicherweise Tatsachen geschaffen. Wie das „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ berichtet, soll in Thüringen, Sachsen und Brandenburg der Landesverfassungsschutz vom Informationsfluss der anderen Verfassungsschutzämter abgeschnitten werden, wenn die AfD regieren sollte.
Nach Informationen von FOCUS online ist im Thüringer Innenministerium ein solches Vorhaben aber nicht bekannt. Dass es künftig dazu kommen wird, ist dennoch nicht undenkbar – wo doch in Thüringen selbst nur wenig Vorkehrungen gegen eine AfD-Regierung getroffen wurden.
„Glaube, dass Thüringen jetzt besser vorbereitet in diese Wahl geht“
Steinbeis als Vater des Thüringen-Projekts findet das „enttäuschend“. Als Misserfolg sieht er seine Arbeit dennoch nicht. „Die Empfehlungen waren nur ein Teil“, betont der Jurist. „Wir haben auch weit über 100 Gespräche mit Politik, Verwaltung und Justiz geführt. Wir haben die möglichen AfD-Szenarien erklärt und wie man sich jenseits von Verfassungsänderungen individuell wappnen kann.“
Steinbeis und seine Mitstreiter hätten eine große Nachfrage dieses Wissens verspürt. „Ich glaube, dass Thüringen jetzt tatsächlich besser vorbereitet in diese Landtagswahl geht.“
Sollte nach dieser alles reibungslos laufen und die Linke noch einmal an einer Regierung beteiligt sein, will Staatskanzleichef Hoff die Vorschläge des Verfassungsblogs wieder aus der Schublade holen: „Wir würden zum Beispiel den Verfassungsgerichtshof so aufstellen, dass es bei der Neuwahl von Richterinnen und Richtern keine Blockade geben kann. Und wir würden im Landtag den eindeutigen Beschluss fassen, dass Staatsverträge wie mit ARD, ZDF und MDR nicht vom Ministerpräsidenten allein gekündigt werden können.“
Auf der To-do-Liste wäre dann zumindest ein Anfang gemacht.