"Perverse Auswüchse" in der Produktion: Sarah Wiener fordert Umdenken beim Fleischkonsum

Billigfleisch ist aktuell ein heiß diskutiertes Thema - auch in der "phoenix runde" am Mittwoch: Köchin und EU-Politikerin Sarah Wiener beschreibt, wie Fleisch so billig werden konnte und fordert eine Neuaufstellung des Systems.

Die Corona-Pandemie bringt immer wieder erschreckende Zustände ans Licht: Der Ausbruch des Virus im Schlachtbetrieb Tönnies machte deutlich, welchen Arbeits- und Wohnbedingungen die Mitarbeiter ausgesetzt sind und welche Folgen das für das Billigfleisch in der Produktionskette hat. In der aktuellen Ausgabe der Talkshow "phoenix runde" diskutierte Moderatorin Anke Plättner über das Thema "Corona im Schlachthof - Billiges Fleisch, zu hoher Preis?" unter anderem mit Köchin und EU-Politikerin Sarah Wiener.

Die 57-Jährige sprach sich für ein besseres System und bessere Bedingungen aus: "Ich glaube, dass wir als Gesellschaft an einem Punkt sind, wo wir noch mal weiterdenken müssen. Wir brauchen tatsächlich kreislaufgebundene Systeme und bodengebundene Tierhaltung und wir müssen die ganze Sache tatsächlich noch mal neu und nachhaltiger denken. Nicht nur für die Tiere, sondern gerade auch für die Bauern und die Menschen, die in dieser Industrie arbeiten."

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Anfangs erklärte die Köchin, wie das Fleisch überhaupt so billig werden konnte. "Fleisch als kostbarstes Lebensmittel hat sehr an Wert eingebüßt", so Wiener. "Früher war Fleisch ein Statussymbol. Ich glaube, deswegen wollten dann viele Fleisch essen, um zu zeigen, das kann ich mir jetzt leisten."

In ihrer eigenen Familie sei Fleisch nur selten gegessen worden, da die Familie arm war. "Mit der Preisverteilung, mit dem Dumping, und auch mit der Massentierhaltung ist dann Fleisch auch für jeden erschwinglich gewesen und das hat dann perverse Auswüchse mit den Jahren angenommen, was Tierwohl, was Quälerei, was Qualzucht, was Tierhaltung anbelangt. Es ist ein bisschen aus dem Ruder gelaufen." Inzwischen sei Fleisch nicht mehr ein kostbares Mittel zum Leben, sondern ein Produkt für den unfairen Welthandel, der vom Staat subventioniert werde.

Müssen es 64 Kilo Fleisch im Jahr sein?

Doch die Problematik liege auch an dem Unwissen des Konsumenten. "Der Essende kann überhaupt nur entscheiden, was er für ein Fleisch essen möchte, wenn er wirklich aufgeklärt ist und wenn die Kette transparent ist. Das ist aber nicht der Fall", erklärte Wiener. "In den letzten Jahrzehnten ist uns weisgemacht worden, wir essen so sicher, so köstlich, so qualitativ hochwertig wie es nur geht, und unser Fleisch ist das beste. Ich bin sicher, dass sehr viele Millionen Menschen bis vor kurzem nicht wussten, wie es in diesem Agrarsystem zugeht, gerade in der Fleischhaltung."

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Am Ende hat Wiener noch einige Lösungsvorschläge parat, wie das System sowohl für Menschen als auch für Tiere nachhaltiger und besser gestaltet werden kann. "Wir müssen tatsächlich zukunftsgewandt optimistisch dieses System noch mal ganz anders aufstellen, und zwar dezentral, regional, kurze Wege, faire Preise", so die 57-Jährige. Dabei sollte auch eine Rolle spielen, wie viel Fleisch überhaupt konsumiert wird: "Natürlich müssen wir in einer endlichen Welt auch überlegen, ob wir wirklich alle 64 Kilo Fleisch im Jahr essen müssen und essen sollen."

Trotz der Missstände blickt sie positiv in die Zukunft. "Ich bin optimistisch, dass die Krise nicht nur eine Krise ist, sondern auch eine echte Chance zu einer Transformation, und ich hoffe, dass jetzt sehr viele Akteure das erkennen und sagen: 'Gut, wie müssen wir es machen? Setzen wir uns ernsthaft hin und reden wir ohne Vorurteile daran, wie wir es besser machen können.'"

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