Neumann warnte noch am Freitag - Terror-Experte sah Anschlag kommen: „Das ist Teil einer neuen Welle“

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Terror-Experte Peter R. Neumann.Ina Fassbender/dpa

Vor wenigen Tagen warnte der renommierte Terrorismusexperte Peter R. Neumann vor einer steigenden Terrorgefahr in Deutschland. Kurz darauf erschütterte der Anschlag in Solingen das Land. Im Interview erläutert der Experte, warum sich diese Entwicklungen abzeichneten und wie einfach sich Täter heute radikalisieren.

FOCUS online: Herr Neumann, erst am Freitag sagten Sie in einem Interview mit der NZZ , dass sich in Bezug auf die Terrorgefahr in Deutschland „etwas Größeres“ ankündigt. Nur einen Tag später dann: der Anschlag in Solingen. Woher kam Ihre beunruhigend genaue Prophezeiung?

Peter R. Neumann: So etwas hat sich angebahnt. Wir haben in den letzten zehn, elf Monaten beobachtet, dass sich die Anzahl der vereitelten und durchgeführten Terroranschläge dramatisch erhöht hat: Es gab in dieser Zeit insgesamt 27 geplante Anschläge in Westeuropa, 6 davon wurden tatsächlich ausgeführt. Das ist im Vergleich zu den Zahlen von 2022 eine Erhöhung um das Vierfache.

Ein beunruhigender Trend. Was bedeutet so eine Entwicklung Ihrer Meinung nach für die Sicherheitslage in Deutschland?

Für mich ist der Anschlag in Solingen möglicherweise Teil einer neuen Terrorwelle in Westeuropa und auch in Deutschland. Diese Terrorwellen der Terrormiliz Islamischer Staat beginnen oft nicht mit dem ganz großen Anschlag, sondern kündigen sich langsam an. Das war in den frühen 2000er und 2010er Jahren ähnlich. Wir sind nun wieder an einem Punkt, an dem die Dschihadisten sehr viel aktiver werden. Das war nur eine Frage der Zeit.

Hamas-Offensive auf Israel: Ein Motivationsschub für Dschihadisten

Der letzte Anschlag in Deutschland, den der IS für sich deklariert hat, war der am Berliner Breitschaltplatz, 2016. Das liegt schon eine ganze Weile zurück…

Stimmt. Es ist auch tatsächlich so, dass der IS in den letzten Jahren in einer Krise steckte und zumindest im Westen fast überhaupt nicht mehr aktiv war. 2019 wurde das sogenannte Kalifat in Syrien und im Irak zerschlagen. Das hat die Unterstützer der Terrormiliz auch hier in Europa sehr stark deprimiert und verunsichert.

Was hat sich daran jetzt geändert?

Einen starken Effekt hatte tatsächlich der Angriff der Hamas auf Israel im Oktober 2023. Das war für viele Dschihadisten ein großer Motivationsschub. Auch wenn die Hamas mit dem IS erstmal nichts zu tun hat, versucht der IS den Konflikt massiv für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Nach dem Motto: Wir führen einen globalen Glaubenskrieg gegen alle Ungläubigen auf der ganzen Welt. Diese Art von Aufruf wurde virtuell überall verbreitet. Und dem ist ganz offensichtlich auch der Attentäter von Solingen gefolgt.

Terrorismusexperte: Teenager und Kinder radikalisieren sich heute über TikTok

In Ihrem neuen Buch schreiben Sie, dass vor allem TikTok und Telegram einen großen Einfluss auf die Radikalisierung der Täter haben…

Auf jeden Fall. Man kann natürlich nicht genau sagen, inwieweit das bei dem 26-jährigen Syrer in Solingen der Fall war. Was man aber insgesamt sieht- und das war vor 10 Jahren noch anders- ist, dass wir es mit extrem jungen Menschen, oft Teenagern oder auch Kindern zu tun haben, die sich über die sozialen Plattformen radikalisieren.

Bei dem Fall in Solingen soll der Täter ja auch vorher noch mit einem 15-jährigen Kontakt gehabt haben. Früher war es so, dass es meistens noch eine Offline-Quelle, wie einen Prediger oder eine radikale Gruppe brauchte, die den Täter endgültig zu einem Anschlag anstiftete. Heute sehen die jungen Menschen TikTok-Videos, wo explizit gezeigt wird, wie man jemandem mit einem Messer in den Hals sticht.

„Das Messer ist dem IS nicht heilig“

Apropos Messer: In Deutschland diskutiert man ja bereits seit Monaten über ein Messerverbot. Diese Diskussion wird nun sicher noch einmal heftiger geführt werden. Was halten Sie davon?

Für mich ist das eine Scheindebatte von Politikern, die sich nicht mit den wahren Problemen auseinandersetzen wollen. Denn Messer lassen sich überhaupt nicht effektiv verbieten, sie sind in jedem Haushalt zu finden.

Außerdem ist das Messer dem IS nicht heilig. Der Sprecher des IS hat vor Kurzem sogar selbst erklärt: Wie ihr die Ungläubigen tötet, ist uns egal. Wenn es mit Messern geht, dann mit Messern. Aber wenn ihr mit Autos in Menschenmengen fahren wollt, dann macht das so. Sich jetzt in Diskussionen über verschiedene Messertypen zu verstricken, bringt uns nicht weiter.

Was sollte man Ihrer Meinung nach stattdessen tun?

Das Problem ist doch, dass junge Muslime nach Deutschland kommen, um hier Schutz zu suchen, sich dann plötzlich gegen die Gesellschaft richten und auf Menschen einstechen. Und das hat weniger mit dem Messer zu tun als damit, was im Kopf dieser jungen Täter vorgeht.

Ganz offensichtlich reicht das, was wir in Bezug auf Integration dieser Menschen tun, nicht aus. Wir müssen uns folgende Frage stellen: Wollen wir mehr tun, um diese Menschen hier zu integrieren oder schaffen wir das nicht und müssen uns dafür entscheiden, weniger Leute aufzunehmen. Aber diese Entscheidung müssen die Politiker dann auch treffen, statt sich weiterhin in Details über Klingenlängen zu verlieren.

Herr Neumann, vielen Dank für das Interview.