Pharmaindustrie sucht intensiv nach Covid-19-Therapien – Doch es gibt ein großes Problem

Hunderte Studien belegen, dass die Branche ihren Kampf gegen das Virus stark ausgeweitet hat. Welches Medikament hat die besten Aussichten?

Das Blut wird  auf Antikörper gegen das Coronavirus getestet. Foto: dpa
Das Blut wird auf Antikörper gegen das Coronavirus getestet. Foto: dpa

Wohl noch nie in ihrer Geschichte hat sich die Pharmabranche so schnell und intensiv auf eine neue Krankheit fokussiert wie nun im Fall der Coronavirus-Pandemie. Allein seit Ende Februar hat sich die Zahl der gelisteten Covid-19-Studien auf einer der weltgrößten Datenbanken, clinicaltrials.gov, auf etwa 340 versechsfacht.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO listet in ihrer Datenbank sogar mehr als 600 Studien, darunter alleine gut fünf Dutzend Impfstoff-Projekte. Alles in allem werden nach Schätzung der Pharma Intelligence Sparte des britischen Informations-Konzerns Informa rund 140 verschiedene Wirkstoffe auf ihr Potenzial im Kampf gegen Covid-19 untersucht.

Praktisch alle etablierten Pharmahersteller und zahllose Biotechfirmen sowie akademische Forschungsinstitute arbeiten inzwischen in der ein oder anderen Form an Therapien gegen die durch Covid-19 ausgelöste Lungenkrankheit.

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Doch ungeachtet der Menge an Studien und Projekten gilt weiterhin: Eine wirksames Mittel gegen Covid-19 muss noch gefunden werden.

Durchschlagende Erfolge und harte klinische Daten sind nach wie vor Mangelware. Und das gilt auch für jene Medikamente, die zuletzt bereits für Furore sorgten und Hoffnungen weckten – darunter vor allem der einst von Bayer entwickelte Malariawirkstoff Chloroquin (Markenname Resochin) und das davon abgeleitete Hydroxychloroquin, das japanische Grippemittel Favipiravir (Avigan), das Aidsmittel Kaletra von Abbvie und der vom US-Biotechkonzern Gilead entwickelte Wirkstoff Remdesivir.

Zu klein und zu schlecht strukturiert

Diese Substanzen zeigten bei Tests in chinesischen Kliniken zwar positive Signale. Die Studien gelten indessen fast durchweg als zu klein und zu schlecht strukturiert, um wirklich aussagefähige Resultate abzuleiten.

Das Interesse richtet sich daher nun vor allem auf mehrere, deutlich größere internationale Testreihen, die Ende März gestartet wurden und jeweils Tausende von Patienten einschließen sollen.

Dazu gehört insbesondere die von der WHO initierte Studie Solidarity und die vom französischen Forschungsinstitut Inserm koordinierte Studie Discovery. Beide Studienprogramme testen die Medikamente Chloroquin/Hydroxychloroquin, Remdesivir, Kaletra und das Multiple-Sklerosemittel Beta-Interferon untereinander und im Vergleich zur Standardbehandlung.

Erste Resultate aus diesen Studien könnten nach Erwartung von Fachleuten immerhin gegen Ende April vorliegen und dann validere Aussagen im Hinblick auf erfolgversprechende Behandlungsstrategien liefern.

Vor allem zwei Herausforderungen deuten sich dabei für die antiviralen Therapien an: Zum einen sprechen die bisherigen Erfahrungen dafür, dass solche Wirkstoffe möglichst frühzeitig während der Erkrankung eingesetzt werden sollten, um die Ausbreitung des Coronavirus zu bremsen. In dieser Phase jedoch zeigen fast alle Infizierte nur leichte Symptome und es ist kaum erkennbar, bei wem schwere Krankheitsverläufe zu erwarten sind.

Hinzu kommt das Problem, dass die antiviralen Mittel zum Teil mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden sind und damit gerade bei den besonders gefährdeten älteren Patienten letztlich nur beschränkt einsatzfähig sind.

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Keines dieser bereits vorhandenen Medikamente wurde speziell gegen das Coronavirus entwickelt. Die Zulassungen beziehen sich vielmehr auf Krankheiten wie Aids, Influenza, Malaria, oder Ebola. Außerhalb von regulären Studien können sie daher nur im Rahmen einer „Off Label“-Verschreibung, also ohne offizielle Zulassung für dieses Therapiegebiet, bei Härtefällen eingesetzt werden.

Viele Ärzte zeigen sich angesichts der bisher noch schwachen Datenlage weiterhin skeptisch. „Es gibt insgesamt sehr wenig belastbare Evidenz hinsichtlich der Effektivität“, sagt Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft.

Ludwig warnt davor, eine dieser Arzneien schon als Wundermittel im Kampf gegen Corona zu bezeichnen. Grundsätzlich sollten sie nur in klinischen Studien eingesetzt werden oder ausnahmsweise bei Härtefällen.

Forcierung des Einsatzes

Solche Bedenken halten Patienten, Kliniken und Politiker nicht davon ab, den Einsatz der Mittel zu forcieren. US-Präsident Donald Trump etwa empfahl – mangels Alternativen – mehrfach den Einsatz von Chloroquin und Hydroxychloroquin bei schwerkranken Covid-19-Patienten. Rund 20 US-Bundesstaaten ordneten inzwischen die Bevorratung der beiden Wirkstoffe an.

In Deutschland hat das Bundesgesundheitsministerium die zentrale Beschaffung sowohl von chloroquinhaltigen Arzneimitteln, als auch der Wirkstoffe Kaletra, Avigan und Foipan (Camostat) eingeleitet. Diese Mittel sollen den Kliniken bei Bedarf für individuelle Heilversuche zur Verfügung gestellt werden.

Mehrere Hersteller haben inzwischen die Produktion von Chloroquin hochgefahren und umfangreiche Lieferungen angekündigt, so neben Bayer etwa Novartis sowie die Generikahersteller Teva und Mylan.

Gilead kündigte an, von seinem noch gar nicht zugelassenen Anti-Virus-Medikament Remdesivir bis Oktober genügend Wirkstoffe für 500.000 Behandlungen und bis Jahresende für eine Million Patienten zu produzieren, obwohl es bisher noch keine Zulassung gibt.

Immunsystem im Fokus

Neben diesen antiviralen Wirkstoffen sind zudem eine Reihe etablierter Medikamente zur Regulierung des Immunsystems in den Fokus gerückt. Hintergrund ist die Erfahrung, dass bei schweren Krankheitsverläufen bei Covid-19 am Ende vor allem eine Art Überreaktion des Immunsystems das entscheidende Problem darstellt.

Immunzellen schütten dann Entzündungsfaktoren im Übermaß aus, was zum Organversagen führen kann. In dieser Phase kann es wichtiger sein, diese schweren Entzündungsreaktionen zu bremsen als das Virus zu bekämpfen.

Inzwischen prüfen Kliniken und Pharmafirmen daher eine Reihe bereits zugelassener Substanzen, die das Immunsystem dämpfen, damit es nicht zu einer Überreaktion kommt.

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Der Schweizer Konzern Roche etwa testet sein Rheumamittel Actemra in mehreren Covid-19-Studien. Sanofi und Regeneron sind mit ihrem, ebenfalls gegen Rheuma zugelassenen Medikament Sarilumab am Start.

Das deutsche Biotechunternehmen Inflarx begann vor wenigen Tagen erste klinische Tests mit seinem Wirkstoffkandidaten IFX-1, der ebenfalls gegen schwere Entzündungen eingesetzt werden soll, bisher aber noch keine Zulassung hat.

Aber auch für diese immun-modulatorischen Ansätze fehlen bislang noch valide klinische Daten, die darüber Aufschluss geben könnten, ob diese Mittel tatsächlich Wirkung zeigen. Zudem sind diese Therapien aus medizinischer Sicht auch kritisch zu sehen, weil im Prinzip ja eine Reaktion des Immunsystems zur Bekämpfung gegen das Coronavirus hervorgerufen werden soll. Das Immunsystem zu stark zu bremsen, könnte daher auch kontraproduktiv sein.

Neue antivirale Medikamente

Eine dritte Verteidigungslinie gegen das Coronavirus erhoffen sich Pharmaexperten von neuen antiviralen Medikamenten, die sich bisher noch in früheren Forschungsphasen befinden. Klinische Daten für die meisten dieser Projekte dürften aber frühestens in der zweiten Jahreshälfte oder erst 2021 vorliegen.

Zu den interessanten Produktkandidaten zählt hier etwa der Wirkstoff APN01, den das Wiener Biotechunternehmen Apeiron in Kürze an rund 200 Patienten in Deutschland, Österreich und Dänemark testen will. Dabei handelt es sich um eine gentechnische Variante des Rezeptors ACE2, der sich auf vielen Körperzellen findet und vom Coronavirus als Eintrittsvehikel genutzt wird.

Mit freizirkulierendem ACE2, so die Hoffnung, könnten die Viren abgefangen werden, bevor sie sich in den Zellen vermehren. „Wir versperren dem Virus die Tür und schützen die Organe“, beschreibt Apeiron-Gründer Josef Penninger den Mechanismus bildlich.

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Besonders großes Potenzial im Kampf gegen Covid-19 sehen Pharmaexperten für Wirkstoffe auf Basis von Antikörpern. Auch hier geht es primär darum, Viren möglichst daran zu hindern, gesunde Körperzellen zu befallen.

Bei Antikörpern handelt es sich um komplizierte Eiweißsubstanzen (Proteine), die sich besonders zielgenau an andere Moleküle binden. Auch das menschliche Immunsystem nutzt Antikörper zur Abwehr von Fremdstoffen und Keimen.

Der US-Gesundheitsexperte und frühere Chef der Zulassungsbehörde FDA, Scott Gottlieb, bescheinigt dem Ansatz daher „die womöglich besten Chancen, bis Herbst eine wirkungsvolle Therapie gegen Covid-19 zu liefern“.

Mehrere Antikörper-Kooperationen

Biotechnisch hergestellte Antikörper werden in der Pharmazie bisher vor allem in der Therapie von Krebs- und Autoimmunerkrankungen intensiv genutzt. Aber auch im Bereich der Infektionskrankheiten arbeiteten Pharma- und Biotechfirmen in den vergangenen Jahren verstärkt an Antikörpern, so etwa zur Behandlung von Sars- oder Ebola-Infektionen.

Vor allem aus diesen Projekten heraus haben Biotechfirmen wie Vir und Regeneron inzwischen auch erste Wirkstoffkandidaten gegen Covid-19 herausgefiltert, die nun im Laufe des Sommers auch klinisch getestet werden sollen. Der britische Pharmariese Glaxo-Smithkline engagierte sich vor wenigen Tagen über eine Allianz mit Vir auf dem Feld.

Boehringer Ingelheim, die Nummer zwei der deutschen Pharmabranche, kooperiert unter anderem mit dem Braunschweiger Biotechunternehmen Yumab, um ebenfalls Antikörper gegen das Coronavirus zu entwickeln.

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Ebenfalls auf Antikörpern basieren Immunglobuline zur Behandlung von Covid-19-Erkrankungen: In diesem Fall geht es um Mixturen von Antikörpern, die aus dem Blutplasma von Menschen gewonnen werden, die eine Infektion mit dem Erreger komplett überstanden haben. In ihrem Blut finden sich in der Regel bis zu 100 verschiedene Antikörper, die an das Virus binden.

Die maßgeblichen Hersteller von solchen Plasmaprodukten haben sich unter Führung von Takeda und CSL inzwischen in einer Allianz verbündet, um ein „Hyperimmun-Immunglobulin-Arzneimittel“ für die Behandlung von Personen mit schwerwiegenden Covid-19-Komplikationen zu entwickeln.

Ein solches Produkt erfordert möglichst viele Plasmaspenden von Rekonvaleszenten, und daher auch ein großes Netzwerk an Sammelstellen. Von deutscher Seite sind vor wenigen Tagen auch die Unternehmen Biotest und Octapharma der Allianz beigetreten. Biotest hat außerdem die klinischen Tests mit seinem Immunglobulin Trimodulin um Covid-19-Patienten erweitert. Das Produkt hat nach Angaben des Unternehmens das Potenzial, die Todesfallraten bei invasiv beatmeten Patienten zu senken.

Ein weiteres Konzept besteht darin, Antikörper nicht direkt einzusetzen, sondern deren Produktion in den Körperzellen der Patienten anzuregen. So arbeiten unter anderem mehrere US-Forschungsinstitute daran, mit Hilfe von Boten-Nukleinsäuren, sogenannter Messenger-RNA (mRNA), Zellen zur Produktion von Antikörper gegen das Coronavirus anzuregen. Die genetische Blaupause für solche Antikörper will man ebenfalls aus den Antikörpern von Konvaleszenten ermitteln.

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Auf ein vergleichbares Konzept setzen die Münchner Ethris und die Züricher Neurimmune mit ihrer vor wenigen Tagen vereinbarten Allianz im Bereich der Covid-19-Forschung. Auch sie wollen einen Wirkstoff aus mRNA entwickeln, der die körpereigene Produktion von Antikörpern anregt.

Ziel ist es hier allerdings, die mRNA per Spray direkt in die Lunge zu bringen, sodass die Antikörper direkt am Ort des Geschehens gebildet werden. Im vierten Quartal hofft man, die ersten klinischen Versuche zu starten.

Fünf Dutzend Impfstoff-Projekte

Antikörper sind letztlich auch der Dreh- und Angelpunkt bei den inzwischen mehr als fünf Dutzend Impfstoff-Projekten. In diesem Fall geht es darum, in den körpereigenen B-Zellen des Immunsystems die Produktion von Antikörpern gegen das Coronavirus auszulösen.

Dazu wird inzwischen eine ganze Palette von etablierten und neuartigen Impfstoff-Konzepten getestet, darunter der Einsatz von modifizierten Viren, abgetöteten Viren, Proteinen und Proteinfragmenten sowie ebenfalls mRNA.

Mit an vorderster Front der mRNA-Projekte agieren dabei die deutschen Biotechfirmen Biontech und Curevac. Engagiert auf dem Gebiet ist ferner das Deutsche Zentrum für Infektionsforschung, das an zwei Impfstoffkandidaten auf Basis von modifizierten Pocken- und Masern-Viren arbeitet.

Nach Angaben der WHO wurden jedoch bislang erst für zwei von insgesamt 62 Impfstoffprojekten klinische Versuche aufgenommen, das heißt erste Tests am Menschen gestartet.

Dabei handelt es sich um ein Projekt des Pekinger Instituts für Biotechnologie und um einen Impfstoffkandidaten der US-Biotech-Firma Moderna. Auch für diese Produkte dürften letztlich erst im kommenden Jahr die ersten validen Daten zu Sicherheit und Wirksamkeit vorliegen. Ungeachtet aller Initiativen bleibt im Kampf gegen das Coronavirus daher weiterhin Geduld gefragt.

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