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Physik-Nobelpreis: Winzige «Chamäleons des Alls» enttarnt

Bekanntgabe der Physik-Nobelpreisträger in Stockholm: Der Japaner Takaaki Kajita (l) und der Kanadier Arthur McDonald haben durchschaut, wie sich die Neutrinos tarnen. Foto: Fredrik Sandberg

Die unvorstellbar winzigen Teilchen fliegen durch das All und durchdringen alles - Menschen, Mauern und sogar die Erde.

Dabei können wir die vielen Milliarden Neutrinos, die jede Sekunde unseren Körper durchqueren, nicht spüren. Und selbst vor ausgefeilten Messgeräten konnten sich die «Chamäleons des Alls», wie das Nobelkomitee sie nennt, lange Zeit verbergen. Der Japaner Takaaki Kajita (56) und der Kanadier Arthur McDonald (72) haben durchschaut, wie sich die Neutrinos tarnen. Sie belegten damit, dass diese neutralen Teilchen eben doch eine Masse besitzen, was lange bezweifelt wurde. Das ist in diesem Jahr den Physik-Nobelpreis wert.

«Das Thema war überfällig», meint Manfred Lindner vom Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg. «Wie das Universum heute aussieht, hängt mit den Neutrinos und ihrer Masse zusammen.» Bereits 2002 erhielten der US-Amerikaner Raymond Davis und der Japaner Masatoshi Koshiba den Physik-Nobelpreis, weil sie mit ausgefeilten Detektoren Neutrinos nachgewiesen hatten. Neutrinos entwickelten sich schon beim Urknall. Heute entstehen sie in der Sonne, in unserer Atmosphäre, aber auch in unserem Körper, etwa wenn ein Kaliumatom zerfällt.

Kajita und McDonald zeigten nun, wie sich die Teilchen tarnen: Sie können ihre Identität - oder in der Physikersprache ihre Generation - ändern. Die Entdeckung habe das Verständnis über die Materie maßgeblich beeinflusst, schreibt das Nobelkomitee.

Um die Jahrtausendwende bewies das Team um McDonald im Sudbury Neutrino Observatory, dass Neutrinos, die von der Sonne kommen, ihren Typ wechseln können. Über 60 Milliarden Neutrinos von der Sonne erreichen in jeder Sekunde einen Quadratzentimeter der Erdoberfläche. Einen ähnlichen Wechsel wies das Team um Kajita mit dem japanischen Riesendetektor Super-Kamiokande für Neutrinos nach, die in der Erdatmosphäre entstehen.

«Zusammen haben beide Experimente ein neues Phänomen nachgewiesen: die Neutrino-Oszillation», schreibt das Nobelkomitee. Das bedeutet: Die Teilchen wechseln periodisch ihre Identität. Und wer so etwas tut, muss Masse haben. Das war bedeutend für das Standardmodell der Materie, denn dies basierte lange Zeit auf masselosen Neutrinos. Ihr Modell war also noch nicht vollständig, mussten die Physiker nun eingestehen.

Noch heute basteln sie an einem neuen Standardmodel, in dem Neutrinos nun eine Masse besitzen. Elementarteilchen-Physiker Prof. Arnulf Quadt, Vorstandsmitglied der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG), bezeichnete die Arbeit der beiden Nobelpreisträger 2015 als «wirklich fundamental». Ihm zufolge ist sie aber erst der Anfang: «Was ist eigentlich die Masse? Das ist die nächste heiße Frage.»

Zahlreiche Forscher weltweit machen nun Jagd auf Neutrinos. Einige haben sich schon an den unmessbar leichten Teilchen verhoben: 2011 hatten Physiker am europäischen Kernforschungszentrum Cern in Genf verkündet, einige Neutrinos seien schneller als Licht. Das hätte das Weltbild der Physiker erschüttert, denn die Lichtgeschwindigkeit gilt nach Einsteins Relativitätstheorie als absolute Tempogrenze im Universum. Einige Zeit später mussten sie einräumen, dass unter anderem ein defektes Glasfaserkabel sie in die Irre geführt hatte.

Nobelpreisstiftung

Daten und Fakten zum Physik-Nobelpreis