Politik-Experte kritisiert Esken und Merz - Staatsversagen bei Solingen-Tat könnte AfD „in glaubwürdigere Position bringen“
Vor den Ost-Wahlen hat die AfD ihr Potenzial nahezu ausgeschöpft. Politikwissenschaftler Schroeder warnt davor, dass die Populisten durch den Solingen-Anschlag trotzdem profitieren könnte – vor allem durch fragwürdige Reaktionen anderer Parteien.
FOCUS online: Herr Schroeder, der mutmaßlich islamistische Anschlag in Solingen überschattet gerade die anstehenden Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen . Inwiefern wird er sie denn beeinflussen?
Wolfgang Schroeder: Rückführungen, Grenzkontrollen, Waffengesetze und so weiter sind jetzt die bestimmenden Themen. Einerseits erleben wir einen Überbietungswettbewerb, was jetzt alles verboten und geändert werden soll. Andererseits gibt es aber auch einige, die das als nicht vorhersehbar und nicht verhinderbar bezeichnen und deshalb möglichen Handlungsbedarf ablehnen. Die Entscheidung der Wählerinnen und Wähler, die oft erst kurz vor dem Tag der Abstimmung getroffen wird, findet jetzt unter dem Einfluss dieser grausamen Tat statt. AfD und BSW profitieren von der Themensetzung.
Wie denn?
Schroeder: Das Thema Migration wird normalerweise sehr diffus und abstrakt diskutiert. Jetzt gibt es aber einen konkreten Fall, in dem nachvollziehbar ist, wie staatliches Versagen möglicherweise dazu beigetragen hat, dass die Gefahr sehr konkret wird. Diejenigen, die sich für mehr Restriktionen und veränderte Gesetze in der Asylpolitik aussprechen, haben nun eine bessere Begründungsfähigkeit auf ihrer Seite. Die AfD könnte das in eine glaubwürdigere Position bringen, auch für diejenigen, die Probleme mit Migration und Integration bislang für übertrieben hielten.
„Gewaltiger Stimmenzuwachs für die AfD eher unwahrscheinlich“
Was bedeutet das konkret für die Wahlergebnisse dieser beiden Parteien? Manche sprechen schon davon, der Anschlag könnte die AfD zur absoluten Mehrheit führen.
Schroeder: Eine wirklich seriöse Prognose lässt sich nicht formulieren. Das hängt auch davon ab, wie die verbleibenden Tage bis zu den Wahlen verlaufen – also welche Erkenntnisse es über den Anschlag gibt und wie sich die Debatte darüber weiterentwickelt. Durch die Briefwahlen haben viele schon gewählt. Dann kommt hinzu, dass die Werte für die AfD gemessen an ihrem Potenzial bereits sehr hoch liegen. Es spricht deshalb einiges dafür, dass ein gewaltiger Stimmenzuwachs für die AfD eher unwahrscheinlich ist. Letztendlich kommt es aber darauf an, ob die AfD mit ihrer migrationsablehnenden Themensetzung noch neue Wählergruppen für sich erschließen kann und wie die anderen reagieren.
Schauen wir auf die Äußerungen der AfD nach dem Anschlag. Parteichefin Alice Weidel fordert einen kompletten Einwanderungs- und Einbürgerungsstopp für mindestens fünf Jahre – eine weitere Verschärfung ihrer Position. Verfängt das überhaupt noch, wenn sich die AfD mit immer noch härteren Forderungen überschlägt?
Schroeder: Dass sich durch diesen maximalistischen Überbietungswettbewerb, der ja von naiven Vorstellungen und Forderungen getragen wird, das Wählerpotential vergrößert, würde ich angesichts des in diesem Segment weit ausgeschöpften Potenzials eher nicht sehen.
„Purer Populismus für einen CDU-Vorsitzenden problematisch“
CDU-Chef Friedrich Merz sagt aber auch, Zuspitzung sei „richtig und notwendig“. Teilweise ist jetzt wieder zu hören, die Partei spiele mit ihren Forderungen nach einem Aufnahmestopp für Syrer und Afghanen der AfD in die Karten. Die Rechtspopulisten hätten die CDU nun genau dort, wo sie die Partei haben wollen. Wie sehen Sie das?
Schroeder: Man kann bei einigen führenden Unionspolitikern eine Übernahme der AfD-Positionen in einzelnen Bereichen erkennen. Offenbar glaubt man in der CDU, dass man damit der Stimmung entspricht – ich würde das als situativen Opportunismus bezeichnen. Vernünftig wäre es genau zu prüfen, was passiert ist, was die staatlichen Stellen falsch gemacht haben und ob dies ein Einzelfall ist, oder ob sich darin eine Struktur identifizieren lässt, die neue Perspektiven im Sinne einer besseren Prävention ermöglicht. Konkret würde dies bedeuten, dass man die eigene Rückführungspolitik und ihre Fehler kritisch auf den Prüfstand stellt.
Das muss natürlich diskutiert werden, um die Politik der Rückführungen auch gegenüber der eigenen Gesellschaft plausibler zu gestalten. Ich sehe aber auch die Gefahr, ob ein Moment maximaler Emotionalisierung der richtige Zeitpunkt ist, um dies zu klären. Vermutlich braucht man dafür mehr Zeit, die aber jetzt vor den Wahlen nicht da ist. Also ein klassisches Dilemma.
Und am Ende gilt dann wieder der oft gesagte Satz …
Schroeder: … dass die Menschen lieber das Original wählen, also die AfD, richtig. Würde sich die CDU mit den Rechtspopulisten in dieser Stimmungslage gemein machen, läuft sie Gefahr, ihren Markenkern als Rechtsstaatspartei mit Maß und Mitte zu verlieren. Dann bleibt purer Populismus, der in der Situation emotional verführerisch ist, für einen CDU-Vorsitzenden mittelfristig aber problematisch.
Wer den Anschlag verharmlost, verschafft der AfD Rückenwind
SPD-Chefin Saskia Esken hat gesagt, aus dem Solingen-Anschlag lasse sich „nicht viel lernen“, weil der Täter nicht polizeibekannt war. Ist das nicht zynisch, den Opfern gegenüber ?
Schroeder: Man muss bei Äußerungen kurz nach solchen Anschlägen vorsichtig sein, dass man vorhandene Emotionen und Ressentiments nicht verstärkt. Es ist nachvollziehbar, dass es bei den Menschen nach so einem Vorfall den Wunsch nach einem starken Staat gibt, der hart sanktioniert und uns vor allem beschützt – das ist aber in dieser einfachen Variante letztlich ein Kinderglaube. Insofern hat Frau Esken einen Punkt, zumal die Aufarbeitung des Anschlags gerade erst beginnt und es noch einige Unklarheiten gibt.
Klar muss aber auch sein, dass man in Ruhe analysieren muss, was besser laufen kann. Und lernen kann man daraus viel. Vor allem, wenn sich herausstellen sollte, dass der Einzelfall der nicht gelungenen Abschiebung einem Muster folgt, dass durch die Behörden bisher nicht aufgelöst werden konnte. Das alles hätte die SPD-Chefin deutlicher machen können.
Wir sehen, es ist nicht einfach, als Politiker nach einem solchen Anschlag zu kommunizieren. Welche Strategie würden sie Politikern und Politikerinnen vor den Wahlen im Osten empfehlen?
Schroeder: Der Anschlag sollte weder bagatellisiert werden, noch als Ausgangspunkt für einen Überbietungswettbewerb in Richtung neuer Verbote und Gesetze ausgebeutet werden. Das würde nicht nur AfD und BSW Rückenwind verschaffen, sondern auch die Politikverdrossenheit bei den anderen Wählern befördern. Es hilft auch nicht wirklich weiter, das Ganze als zu komplex zu bezeichnen und als nicht verhinderbar zu erklären.
Vielmehr sollte man klarmachen, dass man alles daran setzt, aus diesem schrecklichen Attentat zu lernen. Vor allem hinsichtlich begründeter und bisher nicht gelungener Abschiebungen. Aber ebenso klar sollte auch sein, dass es absolute Sicherheit nicht geben kann, egal wie viele Gesetze man ändert. Und trotzdem sollte man vernünftige Präventionsmöglichkeiten diskutieren, um alles daranzusetzen, ähnliche Anschläge in Zukunft zu verhindern.