„Politik transparent - die Expertise von Thomas Jäger“ - Schock im Kreml - mit der Kursk-Offensive hat die Ukraine drei Effekte erzielt

Auf diesem vom russischen Verteidigungsministerium am Sonntag, den 11. August 2024, veröffentlichten Video nimmt ein mit einem Tarnnetz bedeckter Panzer der russischen Armee in einem Gebiet der russischen Region Kursk Stellung.<span class="copyright">Foto: Uncredited/Russian Defense Ministry Press Service/AP/dpa</span>
Auf diesem vom russischen Verteidigungsministerium am Sonntag, den 11. August 2024, veröffentlichten Video nimmt ein mit einem Tarnnetz bedeckter Panzer der russischen Armee in einem Gebiet der russischen Region Kursk Stellung.Foto: Uncredited/Russian Defense Ministry Press Service/AP/dpa

Bisher hat die Ukraine nicht klar gemacht, welche Ziele sie mit der Kursk-Offensive verfolgt - und es wäre auch falsch gewesen, sich auf bestimmte Ziele festzulegen. Drei Effekte hat der Vorstoß aber jetzt schon.

Mit der Operation in Kursk gelang der Ukraine die vierte erfolgreiche Offensive gegen Russland in diesem Krieg. Die erste drängte die russischen Streitkräfte, die Kiew einnehmen wollten, in den ersten Kriegswochen zurück.

Der zweite und dritte Vorstoß befreite Territorien in Charkiw und Cherson, die Russland besetzt hatte. Danach gerieten die ukrainischen Streitkräfte in die Defensive.

Die erwartete Offensive im Osten der Ukraine 2023 misslang. Ausbleibende Unterstützung an Waffen und Munition erschwerten die Verteidigung. Mit der Offensive in Kursk gewann die Ukraine die Initiative im Krieg zurück.

Gegenwehr Russlands steht bis heute nicht

Die Planungen und den Beginn der Offensive in Kursk hielt die Ukraine geheim. Entsprechend stark war das Moment der Überraschung, das im Krieg stets eine wichtige taktische Bedeutung hat. Die Gegenwehr Russlands war nicht organisiert und steht bis heute nicht.

So kann die Ukraine die Offensive fortsetzen und die sich ermöglichenden Konsequenzen für ihre Kriegsführung nutzen. Welche Ziele sie damit verfolgt, wurde nie öffentlich erklärt, und es wäre auch falsch gewesen, sich auf bestimmte Ziele festzulegen.

Denn erstens sind es mehrere – und manche hat die Ukraine schon erreicht – und zweitens können sich diese im Verlauf der Operation verändern, je nachdem, wie stark und effektiv das eigene Vorrücken und im Widerstreit das Gegenhandeln Russlands ausfällt.

Die Ukraine hat bereits drei Effekte erreicht

Erreicht hat die Ukraine schon drei Effekte. Erstens hat sie mit einem Schlag im Informationsraum wieder die Initiative erlangt. Auch wenn sich an der Lage im Donbas nichts geändert hat, so zieht die Offensive in Kursk derzeit die Aufmerksamkeit auf sich.

Nicht nur die Aufmerksamkeit der russischen Entscheider, sondern auch die der Unterstützer der Ukraine. Mit der Offensive wurde die Moral der Truppe und das Selbstbewusstsein im Land, die beide unter ständigem Druck durch russische Angriffe stehen, erheblich gestärkt.

Ob das so bleibt, hängt davon ab, wie die gesamte Operation ausgeht. Parallel wurde in Russland durch den Angriff die Befürchtung befeuert, dass der Einsatz von Wehrpflichtigen im Krieg, den Putin bisher ausschloss, nunmehr umgesetzt wird.

Je nach Verlauf könnten auch Erwartungen an eine weiter Mobilmachung steigen. Jetzt schon sind die Prämien für Freiwillige enorm gestiegen.

Grenzregime war deutlich zu schwach ausgestattet

Ein anderer Effekt steht hingegen schon fest. Denn zweitens endet mit der Offensive in Kursk die Zeit, in der Russland die lange Grenze zur Ukraine als schlummernde Grenze betrachten kann, die nur mäßig Aufmerksamkeit und Mitteleinsatz erfordert.

Das Grenzregime war deutlich zu schwach ausgestattet, teilweise mit Wehrpflichtigen besetzt. Das wird Russland ändern und die effektive Sicherung der langen Grenze zur Ukraine wird erhebliche Mittel an Ausrüstung und Personal erfordern.

Die Kosten dafür hatte der Kreml nicht einkalkuliert, sondern wog sich in Sicherheit, hier nicht gefährdet zu sein. Was zukünftig für Grenzsicherung eingesetzt werden muss, Soldaten, Ausrüstung, Rubel, wird an anderer Stelle fehlen.

Der dritte Effekt ist, dass die Überraschung im Kreml als Schock ankam und das Vertrauen der politischen Führung in die militärische Führung nicht nur weiter erschüttert haben mag, sondern das Misstrauen nun handlungsbestimmend wird.

Russland zieht aus unterschiedlichen Bereichen Truppen zusammen

Indem Putin parallel zu den existierenden Strukturen der Sicherheitsorgane – an der Grenzsicherung ist neben dem Militär auch der Inlandsgeheimdienst beteiligt – einen neuen Grenz-Zaren einsetzt, der auch die Zurückschlagung der ukrainischen Streitkräfte koordinieren soll, dokumentiert dies.

Aus militärischer Sicht wäre einer der positiven Effekte für die ukrainische Kriegsführung, wenn Russland nun Truppen aus dem Donbas abziehen würde, um sie in Kursk einzusetzen. Denn das würde den Krieg verlagern und die ukrainischen Gebiete im Osten entlasten.

Derzeit sieht es nicht so aus, als ob dies erfolgt. Russland zieht aus unterschiedlichen Bereichen Truppen für die Gegenwehr in Kursk zusammen, verfolgt dabei parallel das Ziel, den Druck auf die ukrainische Verteidigung im Donbas unvermindert aufrechtzuerhalten.

Ob dies so bleibt, wird von der Kampfkraft der russischen Truppen in Kursk abhängen, denn die Rückeroberung des russischen Gebiets muss für Putin eine zeitkritische Priorität sein.

Ob russische Position Bestand hat, hängt auch von Druck auf Putin ab

Parallel dazu wurde gemutmaßt, dass die Ukraine durch die Einnahme von russischem Territorium ihre Verhandlungsposition stärken könnte, quasi als Austausch von Land gegen Land.

Russland hat diese Mutmaßung umgehend zurückgewiesen, indem Putin erklärte, dass er mit niemandem verhandeln werde, der Zivilisten angreift und ein Atomkraftwerk bedroht. In Parenthese: Putin meint damit nicht sich, obwohl er die erste Person ist, die einem dabei einfällt.

Sekundiert wurde die Aussage mit dem Hinweis, dass das großzügige Angebot Putins, die Ukraine solle die annektierten Gebiete räumen, sich entwaffnen und die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit westlichen Staaten einstellen, also konkret gesagt: kapitulieren, nun nicht mehr gültig sei. Jetzt werde um jeden Quadratmeter gekämpft.

Ob diese russische Position Bestand hat, hängt davon ab, wie erfolgreich die Ukraine agiert, wie stark das System Putin unter Druck gerät und ob es im Kreml Überraschungen gibt. Nichts deutet darauf hin, aber dann wären es ja auch keine Überraschungen.

Offensive in Kursk hat Wirkung entfaltet

Doch ist die Annahme weiterhin gültig, dass der Krieg in der Ukraine seine Form ändern wird, wenn Putins Herrschaft ernsthaft gefährdet ist und er seine Soldaten im eigenen Land braucht.

Der Marsch auf Moskau, als Prigoschin aller Welt dokumentierte, dass Putin die Herrschaft entglitten war, hatte keine nachhaltigen Wirkungen, weil er nur einen Tag dauerte und dann mit dem Ableben der Anführer geschlossen wurde. Die Offensive in Kursk hat hier jetzt schon stärkere Wirkungen entfaltet.

Schließlich hat die ukrainische Offensive widerlegt, dass mit der Ausweitung der Verteidigung auf russisches Gebiet – sei es als temporäre Landnahme, sei es als gezielter Schlag gegen militärische Ziele – die russische Seite unverzüglich eskalieren werde.

Das war zu erwarten, denn Putin hat nur zwei Möglichkeiten der Eskalation: horizontal könnte er den Krieg durch den Angriff auf ein weiteres Land eskalieren; vertikal könnte Putin den Krieg durch den Einsatz von Nuklearwaffen eskalieren.

Beides liegt nicht im russischen Interesse und ist deshalb derzeit unwahrscheinlich. Die Nukleardrohungen, die besonders in Deutschland wirkten, sind weder politisch noch militärisch begründet, sondern eine Maßnahme im Informationskrieg.

Ukraine will sich erfolgreich verteidigen

Auch wenn die Ukraine für die zeitweise Besetzung russischen Territoriums militärische Strukturen aufbaut, so verfolgt sie nicht das Ziel der Annexion. Das ist der fundamentale Unterschied zu Russland.

Russland will die Ukraine besetzten, sich ukrainisches Land aneignen, die Ukraine als Staat zerstören und sich Land und Menschen einverleiben. Die Ukraine will eine erfolgreiche Verteidigung zur Wiederherstellung ihrer territorialen Integrität ausführen. Größer könnte der Unterschied zwischen dem Vorgehen der beiden Seiten nicht sein.

Bisher ist die Offensive in Kursk aus ukrainischer Sicht erfolgreich verlaufen. Aus russischer Sicht hat sie ein eklatantes politisches Führungsversagen offengelegt. Die Sicherheitsmängel an der Grenze sind für einen kriegführenden Staat geradezu grotesk, so nachlässig wurde die Grenze geschützt.

Plant die Ukraine einen Doppelschlag gegen Putin?

Welche weiteren Folgen die Offensive für den weiteren Kriegsverlauf haben wird, ist derzeit noch nicht abzusehen. Das hängt davon ab, wie Russland nun vorgeht und wie erfolgreich es sein wird. Schließlich hängt es auch davon ab, in welchem Zeitrahmen sich Russlands Reaktion bewegt.

Möglicherweise wird die Ukraine, um die Initiative auszubauen, auch an anderen Stellen zuschlagen, etwa die Krim und vor allem die Kertsch-Brücke anvisieren.

Sollte diese zeitnah zerstört werden können, wäre dies ein Doppelschlag gegen Putin, der weiterhin die ukrainischen Fähigkeiten herunterspielt und suggeriert, er habe alles unter Kontrolle. Dass dies nicht stimmt, hat die Ukraine erneut unter Beweis gestellt.