„Positiver Trend“: Spahn sieht Ansatzpunkte für schrittweise Rückkehr zur Normalität

Der Gesundheitsminister macht den Deutschen vorsichtige Hoffnung auf eine Lockerung der Alltagsbeschränkungen. Die sind an klare Bedingungen geknüpft.

Jens Spahn (CDU), Bundesgesundheitsminister (Foto: Marijan Murat/dpa +++ dpa-Bildfunk +++)
Jens Spahn (CDU), Bundesgesundheitsminister (Foto: Marijan Murat/dpa +++ dpa-Bildfunk +++)

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hält erste Schritte aus dem Corona-Stillstand nach den Osterferien für möglich. „Wir sehen einen positiven Trend. Aber der muss sich verstetigen“, sagte Spahn im Interview mit dem Handelsblatt. Voraussetzung dafür sei, dass sich die Bevölkerung auch über die Feiertage an die Alltagsbeschränkungen halte.

Sollte die Entwicklung bei den Infektionszahlen anhalten, „werden wir mit den Ministerpräsidenten über eine schrittweise Rückkehr zur Normalität nach den Osterferien reden können“, sagte Spahn. In einem freiheitlichen Rechtsstaat könnten weitreichende Einschränkungen von Grundrechten „nur so lange funktionieren, wie sie verstanden und akzeptiert werden“. Deshalb sei es nicht nur wichtig, das Handeln gut zu begründen, sondern auch „eine Perspektive aufzuzeigen“.

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Innenstaatssekretär Stephan Mayer (CSU) mahnte derweil zur Vorsicht. Die öffentliche Debatte über eine Rückkehr zur Normalität sei verständlich, sagte er dem Handelsblatt. „Im politischen Bereich sollten wir uns aber zurückhalten, wir dürfen keine falschen Erwartungen schaffen.“ Mayer fordert: „Die Osterferien sollten wir auf jeden Fall abwarten und dann im Lichte der gemachten Erfahrungen entscheiden.“

Lesen Sie hier das vollständige Interview:

Herr Minister: Würden Sie die Polizei rufen, wenn Sie im Park eine Menschenansammlung sehen, die nicht aus einer Familie besteht?
Die Frage erweckt den Eindruck, als würden ganz viele gegen die Auflagen verstoßen. Das stimmt so nicht, im Gegenteil: Ich erlebe in der Bevölkerung sehr viel Einsicht und Bereitschaft, Abstand zu halten und physische Kontakte zu vermeiden. Eben weil es um den Schutz von Mitbürgern geht. Das ist gelebte Solidarität und widerspricht einem Klima, in dem wir uns gegenseitig anschwärzen.

Was macht die gegenwärtige Situation mit unserer Gesellschaft?
Wir erleben die größten Eingriffe in die Grundfreiheiten in der Geschichte der Bundesrepublik. Sie sind für einen begrenzten Zeitraum notwendig, um das Gesundheitssystem vor einer Überlastung zu schützen. Wir alle haben einige Tage gebraucht, um zu realisieren, was die Einschränkungen mit einem machen. Das gilt auch für mich persönlich. Plötzlich ist alles anders im Alltag. Man stellt sich in alltäglichen Situationen die Frage, was man noch darf. Das ist eine absolute Ausnahmesituation.

Bislang haben die Maßnahmen eine breite Unterstützung. Kann die Stimmung umschlagen?
In einem freiheitlichen Rechtsstaat können solche weitreichenden Einschränkungen nur so lange funktionieren, wie sie verstanden und akzeptiert werden. In dem Moment, in dem es viele als Zwang erleben, wird es auch Protest und Widerstand geben. Deshalb ist es wichtig, die Hintergründe transparent zu begründen und zu erklären, aber auch eine Perspektive aufzuzeigen.

Eine Perspektive wünschen sich auch Unternehmen. Wird es einen Zeitpunkt geben, an dem wirtschaftliche Risiken die gesundheitlichen Risiken überwiegen könnten?
Es gibt keinen Gegensatz zwischen Wirtschaft und Gesundheit, beides hängt zusammen. Eine erfolgreiche Wirtschaft ist eine Voraussetzung für ein leistungsfähiges Gesundheitssystem. Gleichzeitig kann mangelnder Gesundheitsschutz volkswirtschaftlichen Schaden anrichten. Außerdem: Wenn Menschen in einer Wirtschaftskrise arbeitslos werden, Selbstständige um ihre Existenz fürchten, wenn Stress durch die Doppelbelastung von Arbeit und Kinderbetreuung im Homeoffice entsteht, kann das wiederum Folgen für die Gesundheit haben.

Dennoch: Wie lange kann es sich Deutschland leisten, seine Wirtschaft weitgehend lahmzulegen?
Zunächst einmal: Wir haben VW oder Daimler ja nicht per Staatsverfügung stillgelegt. Das war eine Entscheidung der Unternehmen, weil die Absatzmärkte in der Krise wegbrechen. Die internationalen Märkte werden wahrscheinlich länger gestört bleiben, auch wenn sich das Wirtschaftsleben bei uns schrittweise wieder normalisiert. In anderen Bereichen haben Entscheidungen des Staats eine große Rolle gespielt: in der Gastronomie zum Beispiel, im Tourismus, im Luftverkehr.

Mit welchen Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum rechnen Sie?
Kurzfristig erwarten uns harte Einschnitte und Wachstumseinbußen. Das sehen wir schon an den starken Inanspruchnahmen von Kurzarbeit und staatlichen Liquiditätshilfen. Die Frage, welchen Schaden die Wirtschaft langfristig nimmt, hängt von der Dauer der Einschränkungen ab. Das lässt sich nach zwei Wochen noch nicht abschließend beziffern.

Welche Branchen könnten denn am ehesten wieder loslegen?
Eine Bedingung für die Rückkehr in das Arbeitsleben ist, dass man die Fabrik oder das Geschäft sicher für Mitarbeiter und Kunden organisieren kann. Unternehmen oder Branchen, die nachweisen können, dass sie die Hygiene- oder Abstandsregeln sicherstellen, könnten leichter zurück in den Alltag. Diesen Weg wollen wir im Dialog mit allen Bereichen der Wirtschaft gehen. Fest steht auch: Überall, wo Menschen sich privat nahe kommen – bei Großveranstaltungen wie Fußballspielen oder in Klubs –, wird es noch eine längere Zeit dauern, bis wieder Normalität einkehrt.

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In Deutschland fehlt Schutzausrüstung für Ärzte und Pfleger. Die Regierung will die heimische Produktion ankurbeln. Warum erst jetzt?
Dass eine Pandemie, die globale Verbreitung einer hochansteckenden Krankheit, dazu führt, dass erst weltweit die Produktion einbrechen und dann die Nachfrage nach Schutzmasken explodieren würde, haben wir alle jederzeit in der Theorie herleiten können. Aber in der Praxis war kein Land der Welt auf diese Extremlage eingestellt.

Nun ja, einige waren besser als andere gerüstet.
Ich kenne nicht ein einziges Land, dass ausreichend medizinische Schutzmasken bevorratet hatte. Deswegen gibt es jetzt einen Wettkampf aller Staaten. Wir erleben zwei Seiten der Marktwirtschaft: einerseits einen Markt, der überhitzt und in dem ein Cent-Produkt plötzlich mehrere Euro kostet. Andererseits erleben wir die Soziale Marktwirtschaft in ihrer ganzen Stärke, weil Unternehmen – Lufthansa, VW, BASF, Otto und andere – sagen: Wir wollen helfen, nicht mit Gewinnabsicht, sondern für das Gemeinwohl.

Dieser Wettkampf wird selbst unter Mitgliedstaaten der Europäischen Union geführt. Zeigt diese Krise nicht auch: In Europa denkt im Notfall jeder an sich selbst?
Diese Epidemie ist eine Herausforderung für die EU. Sie ist für alle Mitgliedstaaten nicht leicht zu bewältigen, auch für Deutschland nicht: Wir sind solidarisch, versorgen beispielsweise Patienten aus anderen EU-Staaten. Gleichzeitig müssen wir immer darauf achten, dass wir genug Ressourcen behalten, um für unsere Bürger zu sorgen.

Ein Zeichen der Solidarität könnten in diesen Zeiten auch gemeinsame Anleihen aller Euro-Länder sein. Warum sträubt sich die Bundesregierung gegen Corona-Bonds?
Natürlich sehen wir, dass Länder wie Spanien und Italien, die bereits vor der Krise eine schwierige Haushaltslage hatten, jetzt finanziellen Spielraum brauchen. Aber wir dürfen nicht nur an die nächsten drei Wochen oder sechs Monate denken. Was wir jetzt beschließen, muss für den Euro-Raum auch langfristig funktionieren.

Schreckensbilder wie aus italienischen Krankenhäusern sind uns in Deutschland bisher erspart geblieben. Warum kommen wir scheinbar glimpflicher durch die Pandemie?
Weil wir sehr viel getestet und früh die ersten Fälle erkannt haben. So konnten wir eine schnelle Ausbreitung des Virus verhindern. Das hat uns Zeit verschafft. Die haben wir genutzt, um Schutzausrüstung zu beschaffen und unsere Krankenhäuser vorzubereiten. Wir haben derzeit 10.000 freie Intensivbetten. Das hat kein anderes Land der Welt. Das ist eine gemeinschaftliche Leistung und liegt auch an der guten Arbeit der Ärzte in den Praxen. In manchen Ländern wurde die Ausbreitung des Virus erst erkannt, als die Patienten in den Krankenhäusern eingeliefert wurden.

Wenn wir gut aufgestellt sind: Warum warten wir dann noch mit der Lockerung von Maßnahmen? Österreich hat das bereits angekündigt.
Wir dürfen nicht vergessen, dass wir im Krankheitsverlauf immer mit einem Zeitverzug von zehn bis 20 Tagen nach Infektion rechnen müssen, bis ein Patient Intensivmedizin braucht. Noch ist es zu früh für eine Entwarnung. Wir sehen einen positiven Trend. Aber der muss sich verstetigen. Deshalb ist es wichtig, über Ostern konsequent zu bleiben. Auch wenn es bei dem Wetter schwerfällt: Wir sollten zu Hause bleiben und auf Familienbesuche verzichten, damit die Infektionskurve nicht wieder ansteigt.

Und wenn sich der Trend verstetigt?
Sollte das der Fall sein, werden wir mit den Ministerpräsidenten über eine schrittweise Rückkehr zur Normalität nach den Osterferien reden können. Wichtig ist mir dabei das Wort „schrittweise“. Dass von einem Tag auf den anderen wieder alles so sein wird wie vorher, das wird nicht funktionieren.

Eine Pandemie lässt sich nicht durch politischen Beschluss beenden. Wie werden wir ein neue Infektionswelle verhindern können?
In der nächsten Zeit wird es vor allem darum gehen, durch breites Testen die Infizierten schnell ausfindig zu machen und zu isolieren. Und dann deren Kontaktpersonen nachzuverfolgen und auch zu isolieren. Nur so können wir Infektionsketten unterbrechen.

Aus diesem Grund sollen die Deutschen bald eine Corona-App auf ihrem Smartphone haben.
Natürlich könnte man das auch die Gesundheitsämter per Telefon machen lassen. Diese Detektivarbeit bedeutet aber einen großen Personalaufwand. Und ein gutes Gedächtnis der Infizierten, sie müssten sich an alle Kontakte erinnern. Effektiver wäre die digitale Lösung.

Die Nutzung der App soll freiwillig sein. Wird es da nicht zwangsläufig Lücken geben, wenn sich nicht alle das Programm installieren?
Das ist richtig. Aber ich setze auf die Einsicht der Bevölkerung. Die Botschaft ist: Der Weg raus aus den Beschränkungen des Alltags ist leichter, wenn so viele Bürgerinnen und Bürger wie möglich bei der App mitmachen.

Debattiert wird auch darüber, das Tragen eines Mundschutzes verpflichtend zu machen. Was halten Sie von einer Maskenpflicht?
Mein Eindruck ist, dass die meisten Bürgerinnen und Bürger dafür offen sind, freiwillig solche Alltagsmasken zu tragen, wenn sie eng mit anderen Leuten zusammen sind. Je verfügbarer diese Masken im Alltag sind, desto mehr Menschen werden sie tragen. Auch eine Alltagsmaske muss man aber richtig tragen und regelmäßig waschen. Sonst nützt sie nicht.

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Auch hier setzen Sie auf Freiwilligkeit?
Zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls. Angesichts der Kontaktbeschränkungen, die wir schon haben, brauchen wir keine Pflicht.

Wie lange werden wir denn noch in einer Pandemiezeit leben?
Eher Monate als Wochen. Maximal so lange, bis ein Impfstoff da ist. Aber es liegt auch an uns selbst. Wenn wir uns anschauen, wo sich besonders viele Leute angesteckt haben, dann waren das Feste, Konzerte oder Fußballspiele. Also Anlässe, bei denen Menschen über einen längeren Zeitraum sehr nah beieinanderstanden, ausgelassen waren und im Zweifel alle aus demselben Glas getrunken haben. Wir können alle durch einfache Regeln – Abstand halten, Hände waschen, den Handschlag gibt es ja fast schon gar nicht mehr – einen sehr großen Unterschied machen und das Risiko einer dynamischen Ausbreitung des Virus erheblich reduzieren. Das heißt: Mit entsprechender Vorsicht ist mehr Normalität bald wieder möglich. Aber auf Partys aller Art werden wir wohl leider länger verzichten.

Und auf Parteitage? In Ihrer Partei gibt es ja noch eine ungeklärte Machtfrage.
Parteitage gehören sicher nicht zu den Veranstaltungen, die in den nächsten acht Wochen stattfinden werden. Bei den Bürgern wie bei Parteimitgliedern sind diese parteipolitischen Dinge auch sehr in den Hintergrund gerückt.

Herr Minister, vielen Dank für das Interview.