Svea rechnet mit NRW ab - „Ich habe den Eindruck, als würde über dem ganzen Bundesland eine Wolke liegen“

Svea ist vom Ruhrgebiet nach Hamburg gezogen.<span class="copyright">privat/dpa</span>
Svea ist vom Ruhrgebiet nach Hamburg gezogen.privat/dpa

Svea (29) kommt aus dem Ruhrgebiet, hat aber immer gespürt: Ihr Platz ist eigentlich woanders. Mit dem Umzug nach Hamburg kam für die Projektmanagerin in einer Social-Media-Agentur ein völlig neues Lebensgefühl.

FOCUS online: Vor gut einem Jahr sind Sie nach Hamburg gezogen. Ursprünglich kommen Sie aus NRW.

Svea: Richtig, geboren bin ich in Herten, aufgewachsen in Gelsenkirchen…

… wo vor kurzem die englische Fußballnationalmannschaft ihr Trainingscamp hatte. Ein Spieler nannte die Stadt ein „Drecksloch“.

Svea: Das ist ein hartes Wort. Gelsenkirchen hat schon auch ein, zwei schöne Ecken. Aber ich kann verstehen, was der Spieler wohl gemeint hat. Insgesamt wirkt die Stadt wenig freundlich. Die Menschen dort machen einen unglücklichen Eindruck. Das wurde vor einiger Zeit auch statistisch belegt. Der Erhebung zufolge soll Gelsenkirchen die unglücklichste Stadt Deutschlands sein.

Was meinen Sie, wenn Sie sagen, die Stadt wirkt unfreundlich?

Svea: Schon, wenn man nur durchläuft: Die Architektur ist unschön anzusehen, man findet viele verranzte Gebäude. In einigen Stadtvierteln leben gefühlt kaum noch Menschen, man sieht eingeschlagenen Fensterscheiben. Es gibt einige junge Leute, die sich für die Stadt engagieren – aber das erscheint aussichtslos.

Was hat dazu geführt, dass Sie von Gelsenkirchen nach Hamburg gewechselt sind?

Svea: Moment, Gelsenkirchen war nur eine Zwischenstation. Ich bin dann nach Bochum gegangen und habe schließlich in Essen gelebt.

Sie haben das Ruhrgebiet also mehr oder weniger einmal komplett durch.

Svea: So ungefähr, ja.

War es in Essen denn besser?

Svea: Es war nicht so schlimm wie in Gelsenkirchen, aber auch nicht wirklich toll. Ich war an der Uni, habe BWL studiert. Die Leute, mit denen ich in dieser Zeit zu tun hatte, waren vergleichsweise jung und kamen von überall her. Das hat die Atmosphäre insgesamt etwas aufgelockert. Ansonsten trifft man in NRW einen besonderen Schlag Mensch, so mein Eindruck.

Können Sie das konkretisieren?

Svea: Vielleicht gibt es Menschen, die so wie es dort ist, glücklich sind. Horizonterweiterung scheint allerdings häufig ein Fremdwort zu sein. Am deutlichsten wurde es für mich, als ich nach der Uni für ein spezielles Studienprogramm zur Polizei gegangen bin.

Okay, bei der Polizei hat man es jetzt nicht unbedingt in erster Linie mit dem Typ Bürger zu tun, der alles richtig macht. Aber ich würde schon sagen, dass ich in dieser Zeit eine gute Menschenkenntnis entwickelt habe.

Vieles hat sich für mich bestätigt. Die Menschen im Ruhrgebiet neigen dazu, sich schnell zufrieden zu geben. Viele wollen oder können sich schlicht nicht vorstellen, dass etwas nicht stimmt und dass im Grunde so viel mehr möglich ist.

„Ich habe den Eindruck, als würde über dem ganzen Bundesland eine Wolke liegen“

In Bezug auf die Menschen, mit denen Sie bei der Polizei zu tun hatten, meinen Sie?

Svea: Tatsächlich habe ich das schon kollektiv so wahrgenommen – jenseits der ganzen spezifischen Themen rund um Kriminalität also. So was wie häusliche Gewalt zum Beispiel gibt es überall.

Aber für mich kommt in NRW gefühlt noch was obendrauf. Diese Lust nach mehr, die fehlende Lebenslust. Wenn ich jetzt ins Ruhrgebiet komme, habe ich manchmal den Eindruck, als würde über dem ganzen Bundesland eine Art Wolke liegen.

Und darunter?

Svea: Eben: Die vielen perspektivlosen, verlorenen Seelen. Menschen, die irgendwie stagnieren, nicht weiterkommen sich nicht von der Stelle bewegen. Ich finde das sehr bedrückend. Nicht zuletzt, weil es mich daran erinnert, wie ich selbst in meinem Potenzial gehemmt war.

Das klingt, als hätten Sie lange nicht realisiert, dass Sie der Heimat eigentlich den Rücken kehren wollen?

Svea: Tatsächlich habe ich schon immer gewusst, dass das Ruhrgebiet nicht meins ist und dass ich hier nicht alt werden will. Aber verschiedene Faktoren habe mich davon abgehalten, wegzugehen.

Unter anderem Partnerschaften mit Menschen, die unbedingt bleiben wollten. Nach einer Trennung hat mich schließlich nichts mehr gehalten. Auch nicht die Ausbildung bei der Polizei, die ich erst zu zwei Dritteln beendet hatte. Ich habe sie abgebrochen.

Woher wussten Sie, dass Sie nach Hamburg wollen?

Svea: Meine Familie ist sehr Ostsee- und Nordsee-affin, wir waren hier früher viel im Urlaub. Auch in Hamburg. Schon als Jugendliche habe ich gemerkt, wie wohl ich mich im Norden fühle. Man spürt sofort: Die Nähe zum Wasser macht was mit einem. Und auch die frische Luft. Im Ruhrgebiet steht die Luft – so wie gefühlt alles andere auch.

„Es war magisch, hier anzukommen“

Was hat noch für Hamburg gesprochen?

Svea: Die Architektur! Ich bin ein sehr ästhetischer Mensch und bewege mich gerne in einer schönen Umgebung. Gerade die alten Bauten in Hamburg werden mit viel Liebe zum Detail gepflegt. Egal, in welchem Stadtgebiet man sich befindet: Alles ist voller Stuck und Deko.

Vor vielen Häusern gibt es Vorgärten, die einladend wirken und beispielsweise hübsch mit Wildblumen bepflanzt sind. Von NRW kenne ich sowas nicht. Da scheint die Einstellung vorzuherrschen: Das ist ein Haus, da wohnt man drinnen – fertig.

Und was passiert nun in Hamburg mit den Häusern – außer dass man in ihnen wohnt?

Svea: Man zelebriert das Leben. Mein Eindruck: Hier zeigt man gerne, was man hat. Dabei geht es nicht ums Geld, sondern um Kunst, Kreativität – um ein Lebensgefühl, wie gesagt. Wenn man durch die Straßen läuft und in eine Wohnung schaut, sieht man viel spannendes Design.

Das ist übrigens noch so ein Unterschied zu NRW: Die großen, einladenden Fenster, in die die Leute gerne kleine Stehlampen stellen. Eyecatcher, die wie zum Hinschauen einladen. In NRW sind die Fenster dagegen klein.

Wie ging es Ihnen, nachdem Sie umgezogen waren? Die Hanseaten gelten ja nicht gerade als offen…

Svea: Ich weiß, man sagt den Leuten hier sogar nach, sie seien verschlossen und unterkühlt. Das kann ich überhaupt nicht bestätigen! In Hamburg ist richtig was los, die Leute sind offen und gern draußen, die Stadt lebt.

Und sie hat mich gefühlt mit offenen Armen entgegengenommen, vom ersten Moment an. Es war wirklich magisch, hier anzukommen. Dass ich mit einem Mann liiert bin, der seit 15 Jahren hier lebt, hat sicher auch dazu beigetragen.

Kam mit dem Umzug also gleich eine neue Liebe?

Svea: Die kam schon vorher. Daher habe ich dem Ruhrgebiet am Ende übrigens noch schneller den Rücken gekehrt als eigentlich geplant. Viele der tollen, tiefgehenden Freundschaften, die ich jetzt habe, sind komplett unabhängig von meiner Partnerschaft entstanden. Vermutlich strahlt man das aus, wenn man glücklich und damit offen für Kontakte ist. Und das war ich hier wie gesagt vom ersten Moment an.

„Ich hätte früher kommen sollen“

Sie sind im Frühling nach Hamburg gekommen. Der Frühling steht ja insgesamt für Aufbruchstimmung. Wie ging es Ihnen im Herbst?

Svea: Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Manche sagen, die Winter in Hamburg seien grau und hässlich. Für mich nicht. Zur Weihnachtszeit war die Stadt wunderschön geschmückt. Ich liebe die typischen skandinavischen Papiersterne, die die Leute dann in die Fenster hängen.

Ich liebe auch den Wind, der hier fast immer geht. Das ist zu jeder Jahreszeit toll und obwohl ich ansonsten eher verfroren bin, macht es mir nichts aus. Vielleicht weil er einen unbewusst permanent ans nahe Meer erinnert?

Sind Sie da oft?

Svea: Klar, wie überhaupt am Wasser. Zum Meer fahren wir 45 Minuten, für ein Bad in der Elbe brauchen wir an einem Sommerabend nur 25 Minuten. An einem der zahlreichen Kanäle rund um die Alster sind wir im Handumdrehen.

Da gibt es Stege mit hübschen Restaurants, die zu jeder Jahreszeit beinahe Urlaubsfeeling aufkommen lassen. Nicht zu vergessen die Kanäle, die direkt durch die Innenstadt fließen. Wie gesagt: Mit mir macht das was, wenn ich am Wasser bin.

Schließlich besteht der Mensch ja anscheinend zu rund 99 Prozent aus Wasser und so ist es eigentlich kein Wunder, dass ich mich hier in Hamburg durch und durch in meinem Element fühle. Und rückblickend fast alles richtig gemacht habe.

Warum nur fast?

Svea: Ich hätte früher kommen sollen! Das hätte mir einiges im Leben erspart. Es stimmt einfach nicht, dass es egal ist, wo man ist. Menschen werden von ihrem Umfeld geprägt und geformt.

Kann ein Umzug Probleme lösen?

Svea: Die Probleme, die man hat, nimmt man natürlich immer ein Stück weit mit. Tatsächlich fällt mir hier aber alles viel leichter. Ich habe eine gute und schöne Lebensbasis - und schaue damit anders in die Zukunft. NRW hätte ich mir zum Beispiel nie vorstellen können, mal Kinder zu haben.

Dabei bin ich eigentlich ein Familienmensch. Apropos: Meine Mama und ihr Mann besuchen mich häufig - wobei Besuch eigentlich das falsche Wort ist. Inspiration, das trifft es besser. „Wenn wir in Rente sind, kommen wir ganz“, hat meine Mama beim letzten Mal gesagt.

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