Bei den Protesten in Budapest geht es um mehr als das Überstundengesetz

Im Protest gegen das umstrittene Überstundengesetz drohen Ungarns Gewerkschaften der Regierung mit einem Generalstreik. Die Demonstrationen richten sich vor allem gegen Orbán.

Der Sitz der ungarischen Metallgewerkschaft Vasas unweit des Budapester Zentrums hat den Geist alter Zeiten inne. In die ärmliche Straße der pittoresken Hauptstadt verirrt sich kein Tourist. Hinter der tristen Fassade des Gebäudes verbirgt sich ein Zentrum des Widerstands gegen das umstrittene Überstundengesetz der rechtspopulistischen Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán.

Inmitten des jahrzehntealten Mobiliars vor den holzvertäfelten Wänden sitzt Lívia Spieglné Balogh. Die Vizepräsidentin der ungarischen Metallgewerkschaft Vasas und ihre Kollegen im Gewerkschaftsbund MASZSZ proben den Aufstand gegen den seit 2010 regierenden Orbán.

Die Arbeitnehmervertretungen drohen mit einem Generalstreik im neuen Jahr. „Wir sagen Ja zum Generalstreik. Das ist unsere letzte Chance, unsere Kraft zu demonstrieren“, sagt Spieglné Balogh dem Handelsblatt. „Wir wissen, dass das nicht einfach wird“, fügt die 42-jährige Juristin hinzu. „Ein Teil unserer Mitglieder verlangt von uns, dass wir das Land stilllegen.“

Das Überstundengesetz, das in der vergangenen Woche verabschiedet wurde, erlaubt Unternehmen in Ungarn ab Anfang 2019, die Mitarbeiter auf jährlich 400 Überstunden zu verpflichten – statt wie bisher maximal 250. Für Ausgleich oder Bezahlung der Überstunden können sich Arbeitgeber statt einem Jahr in Zukunft sogar drei Jahre Zeit lassen.

Von der Opposition wird die neue Regelung als „Sklavengesetz“ bezeichnet. „Wir sind an der Grenze, was Arbeitnehmer ertragen. Mehr geht nicht mehr“, warnt Gewerkschafterin Spieglné Balogh. Bei der Abstimmung kam es im Budapester Parlament zu tumultartigen Szenen. Auf der Straße reißen seitdem die Proteste nicht ab, beteiligt sind sowohl die rechtsextreme Jobbik, Gewerkschaften, liberale Nichtregierungsorganisationen als auch linke Parteien.

Die Gewerkschaften fordern von dem Orbán-treuen Staatspräsidenten János Áder, die kontroverse Novellierung des Arbeitsgesetzes nicht zu unterzeichnen. Bislang hat sich Áder noch nicht zu der umstrittenen Überstundenregelung geäußert. Am Mittwoch läuft die einwöchige Frist ab. Politische Beobachter sehen aber nur geringe Chancen, dass das Orbán-treue Staatsoberhaupt die Gesetzesänderung noch stoppen wird.

Ungarn leidet unter einem Arbeitskräftemangel. Nach Ansicht der Gewerkschaft Vasas könnte das neue Überstundengesetz das Problem noch verschärfen. „Die Arbeitnehmer stimmen mit den Füßen und wandern aus, wenn die Arbeitsbedingungen nicht stimmen. Eine Änderung der Überstundenregelung ist daher dringend notwendig“, sagt Spieglné Balogh. „Wir wünschen uns, dass sich die Regierung mit uns an einen Tisch setzt, um unsere Probleme zu verstehen.“

Dazu ist Ministerpräsident Orbán bislang aber nicht bereit. Aus seiner Sicht ermöglicht die Gesetzesänderung jedem Ungarn die Möglichkeit, mehr zu arbeiten und mehr zu verdienen, sagte der Premier zuletzt im regierungsfreundlichen Privatsender ATV. Die Regierung sieht in der neuen Überstundenregelung sogar ein wirksames Mittel gegen den Fachkräftemangel.

Der Protest gegen die Überstundenregelung entwickelt sich unterdessen zunehmend zu einer Staatskrise. Zuletzt besetzten 13 Oppositionspolitiker die Sendezentrale des staatlichen Rundfunks MTV in Budapest. Der öffentlich-rechtliche Sender gilt als Propagandasender der rechtsnationalen Regierung. Die Opposition wirft MTV vor, einseitig zu Gunsten der Regierung von Orbán zu berichten.

Rangelei im Rundfunkgebäude

Am Wochenende verschafften sie sich illegal Zugang zu dem Rundfunkgebäude und verbrachten dort die Nacht zum Sonntag. Am Montagabend kam es zu einer Demonstration vor dem Sendersitz, bei der die Oppositionspolitiker ihre Besetzung aufgaben. Ziel der Aktion war es, eine Resolution in der Nachrichtensendung des staatlichen Rundfunks zu verlesen. Sicherheitskräfte verhinderten dies jedoch. Dabei kam es vereinzelt zu Rangeleien.

Ein Ende der Proteste ist nicht in Sicht. Der Opposition geht es mittlerweile längst nicht mehr nur um das Überstundengesetz. Sie fordert auch unabhängige Gerichte, Bildungsinstitutionen und Medienfreiheit sowie ein Ende der Korruption und Vetternwirtschaft.

Am vergangenen Sonntag gab es mit 10.000 Teilnehmern die bisher größte Demonstration gegen das „Sklavengesetz“ und damit gegen die Regierung von Orbán, die im Budapester Parlament über eine Zwei-Drittel-Mehrheit verfügt. Orbán regiert das Land seit 2010.

Der drohende Generalstreik ist für die deutschen Unternehmen in Ungarn von großer Bedeutung. Insbesondere die deutsche Autoindustrie hat in dem EU-Land in den vergangenen Jahren stark investiert.

Die Metallgewerkschaft Vasas besitzt nach eigenen Angaben über 23.000 Mitglieder, darunter in zahlreichen deutschen Unternehmen wie Mercedes-Benz, Continental, ZF, Schaeffler und anderen Automobilzulieferern. Der größte ungarische Gewerkschaftsverbund, zu dem Vasas zählt, hat etwa 100.000 Mitglieder.

Unterstützung erhalten die ungarischen Gewerkschafter von der IG Metall. Sie und die Gesamtbetriebsräte aus der deutschen Automobilindustrie und von Siemens sehen die Pläne zur Ausweitung von Überstunden in Ungarn sehr kritisch.

„Angeblich wollen ungarische Beschäftigte mehr Überstunden machen. Dies ist ein Indikator für zu niedrige Einkommen“, heißt es in der gemeinsamen Erklärung. Nach ungarischen Gewerkschaftsangaben verdient ein Metallarbeiter in der Autoindustrie monatlich 300.000 bis 320.000 Forint (920 Euro bis 990 Euro), brutto ohne Zuschläge und Bonus.

Der Organisationsgrad ist in den Betrieben traditionell niedrig. Bei den deutschen Automobilzulieferern sind es laut Vasas in der Regel 15 bis 20 Prozent. Bei Mercedes-Benz in Kecskemét liegt der Anteil bei mehr als 30 Prozent. BMW hatte zuletzt angekündigt, im ostungarischen Debrecen eine neue Autofabrik errichten zu wollen. Die Münchner wollen rund eine Milliarde Euro in die 203.000 Einwohner große Stadt an der Grenze zu Rumänien investieren. Mehr als 1000 Mitarbeiter sollen dort jährlich bis zu 150.000 Autos produzieren.

Auch Bosch hatte angekündigt, in Ungarn erneut expandieren zu wollen. Der Stuttgarter Konzern wird Ende 2019 die neue Fabrik mit 1200 zusätzlichen Arbeitskräften eröffnen. Volkswagen hingegen prüft den Bau einer neuen Autofabrik in Rumänien oder Bulgarien. In diesen beiden osteuropäischen EU-Ländern sind die Gehälter noch niedriger. In Ungarn ist die VW-Tochter Audi mit einem großen Werk in der westungarischen Stadt Györ präsent.

Unternehmen greifen angesichts des leergefegten Arbeitsmarktes mittlerweile bereits auf ukrainische Leiharbeiter zurück. Zuletzt reagierten Firmen mit großzügigen Lohnerhöhungen, um ihre ungarischen Fachkräfte zu halten. Mercedes-Benz wird die Löhne innerhalb der nächsten beiden Jahre um 35 Prozent anheben, lobt Gewerkschafterin Spieglné Balogh. „Es waren lange und harte Verhandlungen. Doch ich bin stolz auf unsere Funktionäre“, sagt die 2009 amtierende Vizepräsidentin der Metallgewerkschaft.

Die ungarische Wirtschaft brummt. Für dieses Jahr wird ein Anstieg des Bruttoinlandsprodukts von insgesamt 3,8 Prozent erwartet. Die ungarische Regierung rechnet trotz des Fachkräftemangels mit einem Wachstum bis zum Jahr 2022 von jährlich vier bis 4,2 Prozent.