Psychologe erklärt Nagelsmanns Tränen - Warum Männer beim Fußball weinen dürfen - und sonst die „Weichei“-Falle droht
Psychologen wünschen sich weniger Aufheben um das Weinen von Männern - es sollte viel normaler werden. Bundestrainer Julian Nagelsmann taugt dennoch zum Vorbild, weil er öffentlich Gefühl gezeigt hat.
Die „Rede an die Nation“ von Fußball-Bundestrainer Julian Nagelsmann hat über das Wochenende hinaus für ein großes Medienecho gesorgt. Auch seine Tränen bleiben in der Berichterstattung nicht unbeachtet: Die „Bild“-Zeitung sprach etwa vom „bewegenden Tränen-Auftritt“, bei der „Welt“ heißt es gar, Nagelsmann habe den Kampf gegen die Tränen verloren. Unisono scheint man sich auch außerhalb des Springer-Konzerns einig zu sein, dass der Auftritt des Bundestrainers nach dem Aus für die deutsche Elf in der Europameisterschaft „emotional“ war. Dürfen Männer jetzt endlich weinen?
Björn Süfke ist Psychologe und hat sich auf die Beratung von Männern spezialisiert. Beim Thema Nagelsmann ist er zwiegespalten: Einerseits ärgert es ihn „grundsätzlich“, dass dessen Tränen im Jahr 2024 überhaupt noch eine Nachricht wert sind. Andererseits freue er sich, dass der Bundestrainer mit seiner Vorbildfunktion Gefühle gezeigt habe. „Das ist ein Schritt in die richtige Richtung“, sagt Süfke. Denn dass Männer weinten, sei immer noch „erschreckend schwach“ ausgeprägt - sei es nun aus Rührung, Traurigkeit, Verzweiflung oder Freude.
Fußball als Gefühls-Refugium für Männer
Einem Nagelsmann falle es vielleicht leichter, zu weinen, als manch anderen Männern: „Wenn Sie viele Männlichkeitsnormen erfüllen, können Sie es sich eher leisten, unkonventionell zu sein“, erklärt Süfke. „Wenn nicht, dann ist es viel schwieriger, sich das zu erlauben.“ Fußball sei darüber hinaus für viele Männer nach wie vor ein „Refugium“; dort werde ihnen zugestanden, Gefühle zu haben und sie zu zeigen. Der Psychologe vermutet sogar, dass dies ein Faktor für den großen Erfolg von Fußball sein könnte: Männer dürften beim Fußball ausleben, was sie fühlten.
Wenn ein gestandener Mann etwa beim Abstieg seines Fußballclubs weint, ist das gesellschaftlich akzeptiert. Weint er aus Rührung am letzten Kita-Tag seinen Kindes, läuft er eher Gefahr, als „Weichei“ abgestempelt zu werden. Einer Studie der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft aus dem Jahr 2009 zufolge weinen Frauen bis zu 64 Mal im Jahr, Männer höchstens 17 Mal. Allerdings tun sich die Unterschiede demnach erst im fortgeschrittenen Alter auf - so weinten bis zum 13. Lebensjahr Jungen und Mädchen etwa gleich häufig, heißt es von der Fachgesellschaft für Augenheilkunde. Später ändere sich dann das Bild.
Süfke ist wie Matthias Stinn froh, dass es „immerhin“ das Refugim Fußball gebe. Stinn ist ebenfalls Psychotherapeut und bietet in Gummersbach Männergruppen an; erst vor kurzem hat er zudem die Plattform „Mehr für alle - gesundes Empowerment für Männer“ ins Leben gerufen. „Fußball ist ein Raum, in dem Männer mit klassischer männlicher Sozialisation Gefühle zeigen“, sagt Stinn. Das reiche aber nicht aus: „Jungen und Männer sind in verschiedenen Beziehungen und erleben auch da intensive Gefühle und haben auch da Bedürfnisse“, so Stinn. „Wir müssen Räume öffnen, damit auch der Steffen oder der Kadir nicht den Fußball brauchen, um emotionalen Relief (zu deutsch: Entlastung, Anm. d. Redaktion) zu spüren.“
„Gefühle zeigen ist kein Selbstzweck“
Beide Experten beobachten, dass es in der heutigen Gesellschaft einerseits eine Bewegung gibt, die es Männern erlaubt, ihre Gefühle zu zeigen. „So 10 bis 15 Prozent der Männer sind aufgeschlossen und leben zum Beispiel sehr gleichberechtigte Partnerschaften“, sagt Süfke. Am anderen Ende des gesellschaftlichen Spektrums finde aber zugleich eine Retraditionalisierung statt, die auch antifeministische Positionen einnehme. „Bei jeder erfolgreichen Bewegung gibt es die Menschen, die an Altem festhalten wollen“, sagt Süfke.
Therapeut Stinn ist davon überzeugt, dass es wichtig ist, Jungen und Männern klar zu machen, warum es Sinn ergibt, sich emotional mitzuteilen. „Es ist kein Selbstzweck, man macht es nicht, weil es en vogue oder schick ist“, betont Stinn. „Ein Mann, der Zugang zu seinen eigenen Gefühlen hat, hat schönere Beziehungen, intensiveren Sex und tiefere Beziehungen zu seinen Kindern und in Freundschaften.“ Es brauche ermutigende Narrative für Männer, damit diese vom „Sockel des Patriarchats“ stiegen, sagt Stinn und zitiert damit den Schweizer Männlichkeitsexperten Markus Theunert.
Dabei gehe es um viel mehr als Weinen - dennoch lade er Männer gerne dazu ein, auch das mal auszuprobieren: „Weinen tut gut, es schafft Erleichterung, man fühlt sich gesehen“, zählt Stinn auf. Und zwar nicht nur beim Fußball. Stinn rät: „Versucht es mal, wenn ihr mit einem langjährigen Freund über eure Partnerschaft redet oder über die Beziehung zu eurem Vater.“