Harmonie um jeden Preis - Generation Alpha wächst „ohne Grenzen und Strukturen auf“ - Psychologin warnt vor den Folgen
Die Generation Alpha wächst gerade erst heran: Die ersten Kinder dieser Generation sind 2010 geboren, die letzten werden 2024 zur Welt kommen. Psychologin Nicole Hanisch hat Kinder von heute in einer tiefenpsychologischen Studie untersucht. Im Interview spricht sie über ihre wichtigsten Erkenntnisse.
Wie geht es den Kindern von heute? Mit welchen Werten und Idealen wachsen sie auf und wie unterscheiden sie sich von früheren Generationen? Das Marktforschungsunternehmen InnerSense hat in Zusammenarbeit mit „Wiesmann forschen und beraten“ die Generation Alpha in einer tiefenpsychologischen Studie untersucht und Antworten auf diese Fragen gefunden.
Als Generation Alpha werden alle Menschen bezeichnet, die ab dem Jahr 2010 geboren wurden. Die Generation reiht sich in der Generationenforschung damit direkt nach der Generation Z (Geburtenjahrgänge 1995 – 2009) und vor der Generation Beta (ab 2025) ein. Für die aktuelle Studie wurden 48 Kinder zwischen neun und 14 Jahren intensiv befragt, zusätzlich waren 30 Eltern mit Kindern in demselben Alter an der Untersuchung beteiligt. Um eine möglichst gleichmäßige Verteilung in der Probandenauswahl zu erhalten, sind Familien aus dem gesamten Bundesgebiet, sowie mit unterschiedlichsten Haushaltseinkommen und Bildungsabschlüssen der Eltern ausgewählt worden.
„Wir wollten herausfinden, was diese Generation wirklich bewegt, welche Motive sie hat und wie ihr Alltag aussieht. Das kann man nur mit einer qualitativen Studie erreichen“, sagt Psychologin Nicole Hanisch, die die Studie geleitet hat, im Gespräch mit FOCUS online. Die Ergebnisse würden sich aber zum großen Teil mit den Ergebnissen aus quantitativen Befragungen zu dieser Generation decken.
Im FOCUS-online-Interview berichtet die Psychologin über die spannendsten Erkenntnisse ihrer aktuellen Forschung:
Frau Hanisch, welches Ergebnis Ihrer Studie hat Sie am meisten überrascht?
Nicole Hanisch: Mich hat sehr überrascht, wie stark die Kinder der Generation Alpha ohne Festlegungen leben. Sie wachsen in einer Welt unbegrenzter Möglichkeiten auf, in der sie kaum noch Grenzen kennenlernen. Sie haben keine festen Strukturen in ihren Tagesabläufen und entwickeln wenig Frustrationstoleranz. Viele Kinder haben daher Schwierigkeiten, ein Selbstkonzept zu entwickeln.
Welchen Eindruck haben Sie von den Eltern dieser Generation gewonnen?
Hanisch: Die Eltern haben eine Kultur entwickelt, in der sie möglichst viel für die Kinder bereitstellen wollen. Sie streben danach, ihren Kindern alle Möglichkeiten offen zu halten und sie mit allem bestmöglich auszustatten – sei es mit Smartphones, Tablets, Spielzeug oder Kleidung. Harmonie und Empathie sind die stärksten Erziehungsideale dieser Elterngeneration, was dazu führt, dass sie ungern mit ihren Kindern in Konflikte gehen, selten klare Grenzen setzen und die Kinder nicht zu Dingen verpflichten, die ihnen nicht gefallen, wie etwa regelmäßige Pflichten im Haushalt. Auseinandersetzungen und Differenzen mit den Kindern werden so gut wie möglich vermieden, es wird ein freundschaftliches Verhältnis zu den Kindern angestrebt.
Erziehung wird ausgelagert
Es ist eine Elterngeneration, die gewissermaßen aus der Distanz erzieht, da sie die echte Interaktion mit Kindern als anstrengend empfindet und daher teilweise auslagert.
Die Erziehung wird ausgelagert?
Hanisch: Ja. Zum einen fällt auf, wie stark inzwischen Medien als drittes Element in die Beziehung zwischen Eltern und Kind integriert werden. Medien wie die Toni Box, Zeichentrick-Sendungen oder YouTube-Formate werden von den Eltern gezielt als Assistenten genutzt, um die Kinder ruhigzustellen, anzuleiten und abzulenken.
Zum anderen fällt die Tendenz der heutigen Eltern auf, wesentliche Erziehungsaufgaben an externe Institutionen wie Kindergärten oder Schulen zu delegieren.
An welchen konkreten Beispielen bemerken Sie Veränderungen bei den Familien im Vergleich zu früheren Generationen?
Hanisch : Ein gutes Beispiel sind die Mahlzeiten. Dass Kinder gemeinsam mit ihren Eltern die gleichen Speisen essen, wird immer seltener. Das hat auch damit zu tun, dass die Kinder inzwischen zunehmend selber bestimmen dürfen, was sie haben möchten. Das heißt, dass in vielen Familien inzwischen jeder das essen darf, was er mag und auch wann er mag, sodass gemeinsame Mahlzeiten immer seltener werden. Die Eltern versuchen alle Bedürfnisse in Einklang zu bringen, damit unbedingt Harmonie herrscht. An den Mahlzeiten kann man also gut beobachten, wie Eltern Konflikte mit ihren Kindern zu umgehen versuchen.
Sind Konflikte denn wichtig für die kindliche Entwicklung?
Hanisch : Ja, denn in Konflikten können Kinder Grenz-Erfahrungen machen und normalerweise fordern sie das auch heraus. Aus der Entwicklungspsychologie ist bekannt, dass Kinder an Grenzen erfahren: Das bin ich – und das bin ich nicht. Wenn Kinder ohne Konflikte aufwachsen, weil Widerstände ihnen einfach genommen werden, dann haben sie Probleme damit, ein Selbstkonzept zu entwickeln. Sie können sich selbst nicht richtig kennenlernen. Diese Kinder sind auf der Suche. Auf der Suche nach sich selbst und auf der Suche nach Begrenzung. Sie müssen für nichts mehr kämpfen. Und das ist auch der Grund, warum zum Beispiel beim Gaming Kampfspiele beliebt sind, oder warum bei Gruppenbildungen nach klaren Abgrenzungen gesucht wird, etwa Mädchen gegen Jungs.
Wie viel Freiheit haben Kinder der Generation Alpha? Immer mehr Eltern setzten ja auf Smartwatches, mit denen die Kinder auch getrackt werden können.
Hanisch : Ja, diese Uhren sind beliebt, viele Eltern kaufen ihren Kindern aber auch schon früh Handys, damit sie wissen, wo sie sind und sie erreichen können. Also lassen die Kinder dann manchmal ihre Handys extra zu Hause liegen oder versuchen, die Trackingfunktion auszuschalten. Das sind immer die ersten Sachen, die sie lernen, denn Kinder wollen ja auch mal unbeobachtet sein. Man könnte die Kinder auch einfach fragen, was sie vorhaben und wo sie hingehen. Aber wenn die Antworten nicht gefallen, entsteht ein Konflikt – und den wollen viele Eltern gerne vermeiden. Sie setzen lieber auf Kontrolle statt Interaktion.
Wirkten die untersuchten Kinder denn glücklich auf Sie?
Hanisch : So richtig zufrieden wirkten sie nicht. Sie bekommen zwar viel bereitgestellt, haben Auswahlmöglichkeiten und Entscheidungsfreiheiten – trotzdem sind sie seelisch hungrig. Um noch mal auf das Beispiel Essen zurückzukommen: Die Kinder bekommen zwar das, was sie mögen, bereitgestellt – aber sie wünschen sich eigentlich, dass sie mit ihren Eltern zusammen essen können. Es fehlt ihnen die Interaktion und die Auseinandersetzung mit den Eltern. Das, was Beziehungen spürbar macht. Zwar ist Empathie ein Ideal, dem viele Eltern folgen. Doch echte Empathie wird in vielen Familien gar nicht gelebt.
Kinder lernen heute auf Youtube
Wie meinen Sie das?
Hanisch : Empathie entsteht durch Interaktion. Indem Kinder lernen, eine andere Perspektive einzunehmen. Da ist ein anderer Mensch und der will andere Dinge als du selbst. Hier sind wir auch wieder beim Thema Grenzen: Wenn niemand mir seine Grenze aufzeigt, dann fehlt mir diese Erfahrung, diese Perspektive. Und hier spielt auch die Mediennutzung eine Rolle. Selbst wenn die Kinder zu Hause sind, sind sie nicht mehr so stark in Interaktion mit ihren Eltern. Früher wurde vorgelesen, heute wird die Toni Box abgespielt. Früher hat man zusammen gekocht oder gebacken – heute lernen Kinder das bei Sallys Backwelt auf Youtube.
Was folgt daraus?
Hanisch : In der Folge haben wir eine Generation, die zwar sehr viele Möglichkeiten hat, aber wenig Orientierung und Unterstützung durch die Eltern erfährt. Die Kinder und Jugendlichen haben wenig Gefühl für die Realität und auch für die Begrenzung anderer. Ihnen fehlt auf der einen Seite ein Selbstkonzept und auf der anderen Seite die Fähigkeit, sich mit anderen auseinanderzusetzen. Sie haben nicht gelernt, mit Schwierigkeiten und Frustrationen gut umzugehen. Sie sind gut ausgerüstet mit Technik und mit Idealen. Aber sie sind nicht gut gerüstet für das, was kommt.
Gibt es auch etwas Positives über die Generation Alpha zu sagen?
Hanisch : Es ist eine sehr weltoffene und tolerante Generation. Diversität wird heute schon in Kinderzeiten sehr stark vermittelt.