Wie Putin sein Land verändert - Ganz anders als Sowjet-Diktatoren: Putin verwirrt sein Land mit einer perfiden Taktik

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Mit dem Krieg in der Ukraine hat Kremlchef Wladimir Putin nicht nur das Leben der Ukrainer, sondern auch das der Russen und Russland selbst drastisch verändert. Im Interview mit FOCUS online erklärt der Russland-Experte Alexander Libman, wie Putin eine Nation des Misstrauens formt.

Seit mehr als zweieinhalb Jahren herrscht Krieg in der Ukraine. Der russische Machthaber Wladimir Putin hat mit seinem Einmarsch nicht nur die Ukraine, sondern auch sein eigenes Land stark verändert. Wirtschaftlich, politisch und in den Köpfen der Menschen ist ein neues Russland entstanden.

Der Russland-Experte Alexander Libman gibt im Interview mit FOCUS online tiefe Einblicke in ein Land, das im Kriegsmodus ist. Der Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Osteuropa und Russland erklärt, wie Putin eine Nation des Misstrauens formt.

FOCUS online: Herr Libman, zunächst die große Frage: Warum das Ganze? Warum führt die russische Machtelite diesen Krieg gegen die Ukraine wirklich?

Alexander Libman: Zunächst muss man sagen, dass Russland und Putin mit einem ganz anderen Krieg gerechnet haben. Jetzt hat Putin es, anders als erwartet, mit einem langen und großen Krieg zu tun. Das Kernproblem ist, dass der Krieg offensichtlich sowohl von Vorsatz als auch von massiven Fehleinschätzungen der russischen Führung getragen wurde.

Außer den Fehlkalkulationen von Putin gibt es zwei wichtige Faktoren für die Erklärung dieses Kriegs. Zum einen geht es um die Überzeugungen Putins und eines sehr kleinen Kreises um ihn herum. Putin hat Russland im Laufe der Zeit immer mehr in einer langfristigen Konfrontation mit dem Westen gesehen, aus der er immer weniger Auswege sah. Man kann darüber streiten, warum das so ist, aber wichtig ist, dass es seine Wahrnehmung war.

Und zum anderen hat er – wahrscheinlich schon immer – die Vorstellung, dass die Ukraine keine eigenständige Nation ist, sondern ein künstliches Konstrukt, das von der kommunistischen Regierung in den 1920er Jahren geschaffen wurde.

„Krieg gegen die Ukraine war in der russischen Bevölkerung nicht populär“

Hat er deshalb schon vor dem Ukraine-Krieg immer wieder versucht, Einfluss auf sein Nachbarland zu nehmen?

Libman: Es gab Zeiten, da hat Putin versucht, die Ukraine eher durch wirtschaftlichen Druck auf seine Seite zu ziehen. Es gab Perioden, in denen er versucht hat, Allianzen mit den ukrainischen Eliten zu schmieden. Und es gab schließlich Minsk II (Anm.: Minsker Friedensabkommen).

Mit Minsk II hoffte Putin, genau das zu bekommen, was er wollte: eine Ukraine, in der er mitreden kann, in der er das Sagen hat, da die Separatistengebiete schließlich eingegliedert werden sollten, aber trotzdem de-facto von Russland dominiert bleiben sollten. Und eine Ukraine, die zumindest neutral ist in den Beziehungen zwischen dem Westen und Russland oder sogar in der russischen Einflusssphäre bleibt.

Schwingt bei Putin und seinem elitären Zirkel auch eine Angst vor innerer Instabilität und internationaler Marginalisierung mit, die letztlich zu politischer Paranoia geführt hat?

Libman: Ich würde diesen Krieg nicht als innenpolitisch motiviert betrachten. Das ist ganz anders als bei der Annexion der Krim. Da ist die innenpolitische Logik viel plausibler, weil die Annexion in der russischen Bevölkerung unglaublich populär war. Putin konnte mit einer schnellen und verlustarmen Operation innenpolitisch punkten.

Der Krieg gegen die Ukraine hingegen war in der russischen Bevölkerung nicht populär. Die russische Bevölkerung hat am Anfang einen großen Massenkrieg in keiner Weise unterstützt. Die erste Reaktion auf den Krieg war ein tiefer Schock in weiten Teilen der russischen Bevölkerung. Auch wirtschaftlich waren keine Vorteile von dem Krieg zu erwarten.

Daher sehe ich keinen Vorteil für das Regime, einen so großen Angriff auf die Ukraine zu starten, ginge es darum, das Regime zu stabilisieren. Die außenpolitische Logik spielt hier schon eher eine große Rolle. Eine andere Frage ist, inwieweit diese Logik die Realität widerspiegelt. Oder geht es eher um politische Paranoia, etwa die Vorstellung, dass der Westen bewusst versucht, Russland zu destabilisieren.

„Seit Kriegsausbruch wurden in Russland ca. 17.000 Menschen politisch verfolgt“

Nun war Russland schon vor dem 24. Februar 2022 eine harte Autokratie, in der Menschen- und Freiheitsrechte stark eingeschränkt waren. Wie hat sich das politische System unter Putin seit Kriegsbeginn weiter deformiert?

Libman: Das Überraschende ist, dass die Veränderungen in Russland deutlich kleiner sind, als viele das vermutet haben. Russland war nicht nur eine harte Autokratie, es war eine Autokratie, die mit relativ geringem Repressionsdruck und meist durch Informationsmanipulation die Bevölkerung zu Gehorsam gebracht hat. Putins Regime ist sehr gut in Propaganda und benötigt somit weniger direkte Repressionen und braucht eigentlich keine staatliche Ideologie, um seine Position durchzusetzen.

Dennoch ist während eines Krieges jede Form von Dissens in Russland unzulässig. So sind die Repressionen in Russland nach dem Kriegsanfang natürlich gestiegen. Nach einigen Schätzungen hat man heute in Russland mehr politische Gefangene als in den Breschnew-Zeiten. Seit dem Kriegsausbruch wurden in Russland rund 17.000 Menschen vom Staat aus politischen Gründen strafrechtlich verfolgt oder anderen repressiven Maßnahmen ausgesetzt. Und so gibt es im heutigen Russland neue repressive Gesetze und Fälle, bei denen Menschen aus absolut willkürlichen Gründen sehr hohe Gefängnisstrafen bekommen.

Haben Sie Beispiele?

Libman: Neulich wurde ein russischer Staatsbürger zu fünf Jahren Gefängnisstrafe verurteilt, nur weil er ein Interview bei Radio Liberty gegeben hat, in dem er sich kritisch zu den Handlungen der russischen Armee geäußert hat. Eine andere Frau wurde zu mehreren Jahren Haft verurteilt, weil man auf ihrem Handy eine Überweisung von 52 Dollar an eine ukrainisch-freundliche Stiftung festgestellt hat.

Die Zahl der Menschen, die direkte Opfer der Repressionen sind, bleibt jedoch relativ gering im Verhältnis zur russischen Bevölkerung. Es handelt sich also bei Weitem nicht um Massenrepressionen.

„Die meisten akzeptieren das Regime, bleiben aber ideologiefrei“

Wie hat sich die russische Propaganda seit dem Krieg verändert?

Libman: Für die Propaganda gilt: Putins Regime ist jetzt etwas ideologischer geworden, insbesondere in der Verfolgung von LGBTQ-Personen und Versuchen, Ideologie in das Schulbildungssystem einzubringen. Es gibt jetzt ideologischen Unterricht in russischen Schulen und an den Universitäten; Putin hat sich neulich dafür ausgesprochen, ähnlichen Unterricht auch in Kindergärten einzuführen.

Trotzdem hat diese Ideologisierungsbewegung, die man Anfang des Krieges beobachtet hat, zum Teil ins Leere geführt. Die meisten Menschen in Russland akzeptieren das Regime, bleiben aber ideologiefrei und ziehen sich in ihr privates Leben zurück, anstatt einer staatlichen Ideologie zu folgen.

Wie sieht der Alltag der Menschen heute aus? Kommt man in Russland überhaupt am Krieg noch vorbei?

Libman: Ja und nein. Russland ist ein großes Land. Es hängt wirklich massiv davon ab, wo man ist. Es gibt Teile von Russland, wo der Krieg deutlich spürbar ist. Beispielsweise in Belgorod, eine Stadt, die regelmäßig von ukrainischem Territorium aus beschossen wird. In diesen Gebieten ist der Krieg allgegenwärtig. In anderen Teilen des Landes, wo die Bereitschaft, in die Armee einzutreten, geringer und die Mobilisierung nicht so stark ist, spüren die Menschen den Krieg weniger. Die meisten Menschen versuchen, ihren Alltag so zu gestalten, wie es vor dem Krieg war, und der Staat spielt da mit.

Wie meinen Sie das?

Libman: Die Position des Staates scheint zu sein, dass man den Menschen erlaubt, sich zurückzuziehen und ihr privates Leben zu führen, solange sie die Politik der Regierung nicht öffentlich infrage stellen. Das wird genehmigt.

Putins Verwirrungstaktik

Inwiefern ist es Russinnen und Russen überhaupt möglich, Zugang zu unabhängigen Informationen zu erhalten, um sich selbst ein Bild von diesem Krieg zu machen?

Libman: Es ist derzeit nicht ganz unmöglich, Zugang zu unabhängigen Informationen zu erhalten. Der Staat versucht diesen Zugang aber zu erschweren: Die meisten oppositionellen oder regimekritischen russischen Medien sind verboten und ihre Webseiten werden in Russland blockiert. Facebook und Instagram sind blockiert, der Zugang zu YouTube wurde massiv verlangsamt. Trotzdem können die meisten russischen Bürger, wenn es um Informationen geht, auf die eine oder andere Weise Zugang bekommen, etwa durch VPN.

Das Erstaunliche ist aber, dass das Regime in der jetzigen Situation so stabil ist, weil es die eigene Bevölkerung gar nicht überzeugen muss. Es schafft eine Situation, in der die Informationen so umgedeutet werden, dass sie im Interesse des Regimes sind. Viele Russen glauben, dass die Informationen, die sie von westlichen Quellen bekommen, nicht unbedingt vertrauenswürdiger sind als die vom russischen Staat. Die meisten haben die Position: „Wir wissen gar nicht, was wirklich passiert. Nichts ist klar.“

Klingt nach einer Verwirrungstaktik: Alles kann falsch sein, alles kann richtig sein?

Libman: Genau, das ist die grundsätzliche Position des Regimes. Es betont immer wieder, dass es viele verschiedene komplexe Faktoren gibt. Für die meisten Menschen bedeutet das einfach, dass sie auch bei Konfrontation mit bestimmten Informationen nicht wissen, was sie daraus machen sollen. Das ist etwas, was das Regime sehr gut beherrscht.

Es ist ein großer Unterschied zu sowjetischen Zeiten. Damals setzte das Regime auf ein Narrativ und wollte, dass alle daran glauben. Im Laufe der Zeit war es einfach unmöglich, diesen Glauben aufrechtzuerhalten, weil er offensichtlich realitätsfremd war, und das führte schließlich zum Ende des sowjetischen Systems. Heute braucht es Putin nicht, dass die Menschen ihm voll glauben, es genügt ihm, dass die Menschen nicht wissen, wem sie glauben sollen.

Putin formt also eine Nation voller Misstrauen und hüllt sie in einen Nebel der Unwissenheit. Welche Folgen hat das?

Libman: Jetzt scheint es das Regime tatsächlich geschafft zu haben, dass die Menschen depolitisiert sind, aber zu Gunsten des Regimes depolitisiert.

Die jetzige Wahrnehmung des Krieges sieht in Russland in der Folge derzeit so aus: Sehr viele sehen den Krieg nach wie vor als eine Katastrophe, etwas, das nicht hätte passieren sollen. Wenn sie die Leute in Russland fragen, ob sie Frieden wollen, werden die meisten sagen: Ja, so schnell wie möglich. Die Menschen gehen jedoch davon aus, dass der Krieg irgendwelche Gründe hat, sie verstehen diese Gründe nicht, aber der Krieg ist nun mal da.

Die meisten Russen glauben, dass sie die Lage nicht beeinflussen können. Ein Szenario, das die Menschen um jeden Preis vermeiden wollen, ist die Niederlage Russlands. Die meisten würden sagen, dass ein Verlust des Krieges noch schlimmer wäre als der jetzige Zustand. Unter diesen Bedingungen entscheiden sich viele dafür, sich für „unsere Jungs“ in der Armee einzusetzen; es gibt eine starke zivilgesellschaftliche Unterstützung der Truppen an der Front.

Das Regime hat es geschafft, die Menschen zu überzeugen, dass sie nicht gegen die Ukraine kämpfen, sondern gegen den Westen, insbesondere die USA. Die westliche Rhetorik und Sanktionen haben dazu beigetragen, dass die Argumente des Regimes in dieser Hinsicht überzeugend klingen.