Rücktritt der Parteiführung - „FDP täte so ein Schritt auch gut“: Nach Grünen-Beben macht Experte Ansage an Lindner
Die Grünen setzen auf einen Neuanfang: Nach den verheerenden Wahlniederlagen kündigen die Vorsitzenden Lang und Nouripour den Rücktritt an. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder ordnet ein, welche Strategie dahintersteckt – und erteilt der FDP einen Rat.
Polit-Beben bei den Grünen: Nach den jüngsten Wahlniederlagen geht ein Ruck durch die Partei. Die Co-Vorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour verkündeten am Mittwoch in Berlin: Der gesamte Parteivorstand wird im November zurücktreten .
Dieser drastische Schritt sei nicht nur als Reaktion auf die schlechten Wahlergebnisse zu verstehen, sondern auch als starkes Signal für einen Neuanfang und eine Neuausrichtung inmitten der tiefen Existenzkrise der Ampel-Koalition, erklärt der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder im Interview mit FOCUS online.
FOCUS online: Herr Schroeder, der gesamte Grünen-Vorstand tritt zurück. Kommt das für Sie überraschend?
Wolfgang Schroeder: Ja und Nein. Sie hatten schon angekündigt, dass etwas Außergewöhnliches passieren wird. Dass sie zu diesem drastischen Schritt greifen, ist überraschend. Angesichts der Lage, in der sich die Ampel-Koalition in ihrer tiefsten Existenzkrise befindet und das Ende nahe zu sein scheint, wollen die Grünen vermutlich nicht nur reagieren, sondern selbst Zeichen setzen – in Bezug auf den Kurs, die Personen und die gesamte Aufstellung.
„Die Grünen wollen zeigen, dass sie bereit sind, sich zu verändern“
Welches Signal geht von dem Rücktritt aus?
Schroeder: Ja, klar. Ist natürlich zu einfach, nur in der FDP ein Problem für das Funktionieren der Koalition zu sehen. Sicherlich haben die beiden anderen Parteien, auch ihren Anteil an der Instabilität dieser Regierung.
Wie soll dieser Rücktritt bei den Wählerinnen und Wählern ankommen? Liegt dahinter eine Strategie?
Schroeder: Sicherlich ist er ein klares Signal dafür, dass ein „weiter so“ nicht möglich ist. Die sichtbarste Form für eine Partei ist eine Neuaufstellung des Personals. Insofern senden die Grünen das Signal: „Seht her, wir erkennen, dass es so nicht weitergeht, und ändern uns.“ Damit bildet sie auch einen scharfen Kontrast zur FDP, die von Anfang an die größten Schwierigkeiten mit der Ampel hatte, nicht nur weil sie sich als Korrektiv verstand, sondern auch weil sie selbst die geringste Souveränität in Bezug auf ihre Identität, Ziele und Partner hat.
Die FDP scheint einerseits mit der Politik der Ampel nicht einverstanden zu sein; sieht einerseits die selbst mitverantwortete Politik als eine der Ursachen für die wirtschaftlich-gesellschaftlichen Schwierigkeiten, will andererseits aber die Regierung auch nicht verlassen. Dieser ambivalente, ja eigentlich paradoxe Zustand der Unentschlossenheit ist problematisch, weil nicht nur die Regierung, sondern indirekt die gesamte Republik in Geiselhaft einer ambivalenten Partei genommen wird, die es in drei Jahren nicht vermocht hat, eine eigene positive Identität in dieser Regierung auszubilden. Im Gegensatz dazu wollen die Grünen klar zeigen, dass sie bereit sind, sich zu verändern, während die FDP an alten amivalenten Mustern festhält.
„Der FDP täte so ein Schritt auch gut“
Hat das heutige Grünen-Beben also den Druck auf die FDP erhöht?
Schroeder: Die Grünen signalisieren mit diesem Wechsel, dass sie Probleme sehen und erkennen, dass es so nicht weitergeht. Sie ziehen daraus Konsequenzen, anders als die FDP, die im Vergleich dazu als eine mutlose und risikoaverse Partei erscheint. Diese Partei hat nach dem Motto „Besser nicht regieren als schlecht regieren“ 2017 vollkommen recht gehabt. Die FDP ist aus meiner Sicht programmatisch und handwerklich nicht regierungsunfähig.
Es ist eine sehr konsequente und verantwortliche Entscheidung der Grünen, die anderen Parteien nun zum Handeln auffordert. Die FDP kritisiert – aus ihrer Sicht durchaus nachvollziehbar, zieht aber keine Konsequenzen daraus. Dagegen konzedieren die Grünen den entstandenen Vertrauensverlust in ihre Politik und ziehen ihre Spitzenpolitiker auf der Parteiebene zurück. Sie anerkennen damit, dass sie gegenwärtig nicht den nötigen Rückhalt und die Unterstützung haben, die für einen erfolgreichen Wahlkampf und Neuanfang notwendig ist.
Der FDP täte so ein Schritt auch gut. Das ist allerdings in einer Partei, die von einer Person in Regierung und Partei dominiert wird, um ein Vielfaches schwieriger. Insofern zeigt die jetzige Situation auch, dass die umfängliche Dominanz und Abhängigkeit von Lindner den Manövrierspielraum der FDP enorm einengt.
„Rücktritt ist auch als Teil des Beginns des Wahlkampfes zu sehen“
Verschaffen sich die Grünen damit jetzt mehr Spielraum, den Wahlkampf mit Annalena Baerbock und Robert Habeck vorzubereiten?
Schroeder: Dieser Rücktritt ist auch als Teil des Beginns des Wahlkampfes zu sehen, der möglicherweise mit neuen Gesichtern und einer anderen inhaltlichen Ausrichtung verbunden sein könnte.
Welche Positionen und Grundsätze müssen die Grünen aus Ihrer Sich denn jetzt anpassen?
Schroeder: Ähnlich wie die FDP ist die Marke der Grünen beschädigt durch die alltägliche Regierungsarbeit. Auch wenn sie an ihren langfristigen Zielen wie der Klimawende und nachhaltigen ökologischen Erneuerung von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat festhalten, müssen sie die Wege, Instrumente und vor allem die Geschwindigkeit neu justieren.
Wenn sie ihre Kommunikation mit der Bevölkerung effektiver gestalten wollen; dann heißt dies auch die Bedürfnisse einer alternden Gesellschaft besser zu berücksichtigen. Das bedeutet, dass sie das Tempo und die Zugänglichkeit ihrer politischen Ziele neu abstimmen müssen, um das Zusammenspiel zwischen Klima-, Ökologie-, sozialen und ökonomischen Zielen zu verbessern.