Ralph Thiele über Ukraine-Vormarsch in Kursk - Ex-Oberst: Putin wird in zwei Wochen mit „Vernichtungsstreitmacht“ zurückschlagen

Wladimir Putin bei einer Videokonferenz mit Alexei Smirnow zur Lage in der Kursk Region.<span class="copyright">IMAGO/ITAR-TASS</span>
Wladimir Putin bei einer Videokonferenz mit Alexei Smirnow zur Lage in der Kursk Region.IMAGO/ITAR-TASS

Der überraschende Vorstoß der Ukraine in die Kursk-Region hat den Kreml unvorbereitet getroffen. Ex-Oberst und Militärexperte Ralph D. Thiele glaubt nicht an einen durchschlagenden Erfolg der Ukrainer. Vielmehr erwartet er eine vernichtende Reaktion Putins in rund zwei Wochen.

Ein „Schlag ins Gesicht“ für Putin, zitierte die unabhängige „Moscow Times“ russische Offizielle. Die Kursk-Offensive der Ukrainer habe den Kremlchef nicht nur unvorbereitet getroffen, sondern sei auch eine persönliche Demütigung.

Welche Auswirkungen diese Demütigung auf den Krieg hat und wie Putin nun reagieren könnte, erklärt der ehemalige Oberst der Bundeswehr und Vorsitzende der Politisch-Militärischen Gesellschaft e.V., Ralph D. Thiele, im Interview mit FOCUS online. Für den Militärexperten ist klar: Das Manöver hat Schwächen auf russischer Seite gezeigt. Aber die Reaktion wird kommen - mit Verzögerung.

FOCUS online: Herr Thiele, sie haben vergangene Woche von einer dynamischen Situation in Kursk gesprochen. Wie hat sich die Lage vor Ort seither verändert?

Ralph D. Thiele: Erstaunlicherweise wenig. Weder der Westen noch die Experten und Regierungsverantwortlichen haben bislang eine klare Vorstellung von den konkreten ukrainischen Zielsetzungen. Auch Selenskyj, der sich inzwischen geäußert hat, bietet keine klaren militärischen Ziele mit seinen Aussagen. Seine Operation ist und bleibt eine Hochrisikooperation, die kontraproduktiv zur Lage an der Front ist.

Wieso kontraproduktiv?

Thiele: Ihm fehlen Personal, Qualität und Munition. Er nimmt aus vier gut aufgestellten Brigaden damit Ressourcen weg und schickt diese nach Russland, obwohl zu erwarten ist, dass sie nicht zurückkehren werden.

Kursk-Operation der Ukraine: „Verzweifelter Akt ohne Aussicht auf Erfolg“

Ist das eine strategische Entscheidung oder eher ein Verzweiflungsakt?

Thiele: Die Absicht bleibt unklar. Es scheint sich um eine Informationsoperation zu handeln, die darauf abzielt, die heimische Klientel zu beeindrucken und die schwindende Unterstützung des Westens wiederzubeleben, indem man zeigt, wozu man militärisch in der Lage ist. Selenskyj möchte sicherstellen, dass im Westen die versprochenen Lieferungen eingehalten werden.

Es ist aber aus meiner Sicht schwer verständlich, warum man teure Ausrüstung zur Vernichtung nach Russland schickt. Im besten Fall könnte es noch eine hoffnungsträchtige Interpretation geben, dass Russland einige Kräfte von der Front abzieht. Im schlechtesten Fall ist es ein verzweifelter Akt ohne Aussicht auf Erfolg.

Wie kann Putin jetzt darauf reagieren?

Thiele: Strategisch gesehen hat Putin eine einfache Aufgabe: Er muss die Situation bereinigen, endgültig klären. Wie wir wissen, handelt es sich um eine kleine Truppe, ungefähr 1000 Mann, die die Ukraine eingesetzt hat. Diese Kräfte besetzen derzeit keine großen Gebiete, sondern nur kleinere Orte und unternehmen von dort aus Patrouillen, zerstören Gerät oder nehmen Soldaten gefangen. Putin muss verhindern, dass sie jetzt weiter vordringen und den Raum vollständig absichern, insbesondere an der Grenze.

Wie realistisch ist es, dass Putin dies jetzt mit Blick auf die Ostfront umsetzen wird und kann?

Thiele: Putin verfügt über ein großes Portfolio an Truppen in der Nähe, nicht direkt vor Ort, aber in der Kursk-Region. Diese Truppen sind größtenteils unerfahren im Kampf, während die ukrainischen Truppen Kampferfahrung haben, was ihnen einen gewissen Vorteil verschafft. Putin müsste eine größere Masse an Soldaten und Waffen einsetzen, um ein überlegenes Verhältnis zu schaffen. Die Ukraine hofft deshalb, dass Putin Truppen aus der Region Donbass abzieht, wo die heftigsten Kämpfe stattfinden.

Dazu wird es aber nicht kommen?

Thiele: Dieses Szenario erscheint unwahrscheinlich aus Putins Sicht, da er dort Erfolge erzielt. Sobald das Gebiet gesichert ist, kann er die ukrainischen Kräfte bei Kursk vernichten oder gefangen nehmen. Die Ukraine hofft möglicherweise, dass sich ein harter Kern der Truppe vorher eingräbt und öffentlichkeitswirksam Widerstand leistet, ähnlich wie in Mariupol. Doch letztlich scheint das aussichtslos.

„Operation unterstützt Putins Narrativ eines hybriden Angriffs des Westens und der Nato“

Sie sprachen davon, dass die Kursk-Operation auch informationstechnische Gründe hat. Erzielt der ukrainische Vormarsch auf russischem Territorium denn bei den Russen Wirkung oder gelingt es der Propaganda, den Angriff aus den Berichten fernzuhalten?

Thiele: Nein, man berichtet darüber, was für Putin nützlich ist. Es unterstützt das Narrativ, dass Russland Opfer eines hybriden Angriffs des Westens und der Nato ist. Das ist die einheitliche Lesart von Putin und Xi. Ein größerer Teil der Welt, einschließlich der BRICS-Staaten und der Shanghai Kooperationsorganisation, schließt sich dieser Sichtweise an und distanziert sich nicht von Russland.

Das ignoriert der Westen oft. Und das Beweismaterial, beispielsweise zerstörte amerikanische Stryker-Fahrzeuge oder deutsche Marder, dienen jetzt Putins Narrativ. Er kann jetzt zeigen, dass Russland de facto angegriffen wird, und das bietet ihm wiederum die Möglichkeit, seine Spezialoperation als präventive Maßnahme darzustellen.

Also stärkt der Kursk-Vormarsch in gewisser Weise Putin?

Thiele: Die Berichterstattung schweißt die russische Bevölkerung zusammen, da sie das Leid der Zivilisten zeigt. Und der Vorstoß hilft Russland Unterstützung auf den neuen wirtschaftlichen Märkten einzuholen. Russland musste seine Wirtschaft von Westen auf Ostasien umstellen. Die Bilder und Berichte bestärken nun Putins Position.

„An der Grenze fehlen den Russen hochmobile Truppenpakete“

Was heißt das jetzt für die Fronten und künftige Kriegshandlungen?

Thiele: Ich beginne mal mit der Ukraine: Hier gibt es gibt durchaus auch positive Aspekte, da die Ukraine diesmal erfolgreich ein effektives Streitkräftepaket zusammengestellt und eingesetzt hat, das Elemente der Luftkriegführung – insbesondere Drohnen – , Artillerie, Infanterie und elektronischer Kampfführung vereint.

Das ist neu und beeindruckend. Allerdings wurden dafür bestehende Brigaden geplündert, was bedeutet, dass diese Ressourcen jetzt an anderen Fronten fehlen.

Und Ressourcen sind gerade auf ukrainischer Seite knapp.

Thiele: Richtig. Das ist kritisch, da die Ukraine ohnehin schon einen Mangel an gut ausgerüstetem Personal hat, weil der Westen nicht zeitgerecht liefert. Die Personalsituation, die ohnehin schwach war, wurde somit weiter geschwächt.

Und wie sieht es auf der russischen Seite aus?

Thiele: Für die Russen hat das Manöver auch Auswirkungen. Sie haben den Angriff der Ukrainer nicht vorausgesehen und entsprechend nur unzureichende Vorkehrungen getroffen. An der Grenze fehlen ihnen hochmobile Truppenpakete, um schnell reagieren zu können. Stattdessen bombardieren sie das ukrainische Hinterland, um Verstärkungen und Logistik zu behindern. Aktuell müssen sie mühsam vor Ort Kräfte zusammenziehen, darunter viele unerfahrene Soldaten.

Die zentrale Frage ist, ob sie erfahrene Kampftruppen von der Front abziehen werden, was jedoch strategisch unklug wäre. Putins Erfolg an der Front zu unterbrechen, um eine relativ kleine Bedrohung von 1000 Mann zu bekämpfen, wäre kontraproduktiv.

„Nun wird Putin eine solide Vernichtungsstreitmacht aufbauen“

Heißt das unterm Strich, dass Putin die Ukraine erstmal machen lassen muss?

Thiele: Na ja, er braucht eben Zeit. Das heißt, er lässt sie jetzt tatsächlich ein bisschen gewähren. Nach der ersten Überraschung und der Frage, wen man dort einsetzen kann, hat der schnelle Anmarsch nicht wie geplant geklappt. Russische Verstärkungstruppen wurden auf dem Weg zum Einsatz offenbar durch ukrainische HIMARS Angriffe heftig dezimiert.

Nun wird Putin eine solide Vernichtungsstreitmacht aufbauen, wofür etwa zwei Wochen benötigen werden. In dieser Zeit können die Ukrainer nicht viel ausrichten, da ihre Vorräte zur Neige gehen und es keine wichtigen militärischen Ziele in der Region gibt. Putin kann diese Zeit propagandistisch nutzen, wie ich bereits beschrieben habe.

Was passiert, wenn das Manöver für die Ukraine erfolgreich ist?

Thiele: Wenn das Manöver erfolgreich ist, könnte Selenskyj angespornt werden, ähnliche Einsätze an verschiedenen anderen Orten zu starten, um Putin das Leben schwer zu machen. Der Informationserfolg ist bereits da – alle sind wachsam in der Ukraine und auch im Westen. Dennoch ist der militärische Erfolg fragwürdig, da die personellen Verluste für die Ukraine aufgrund der bestehenden Mängel weitaus schwerer wiegen als für Russland.

Die Gefahr besteht, dass die Lage noch instabiler als bisher schon werden könnte. Militärisch gesehen könnte der schlimmste Fall sein, dass die Front bricht und der Einsatz knapper Ressourcen in der Kursk Region am Ende nur mediale Wirkung hat.

Und welchen Effekt hat die Operation bereits jetzt auf Putin? Die „Moskau Times“ sprach von „einem Schlag ins Gesicht“ für den Kreml-Chef.

Thiele: Für Putin bedeutet das, dass er seine Aufstellung an der Grenze verbessern muss. Hier hat sich eine Schwäche offenbart. Sein ursprünglicher Plan, schnell die Ukraine zu übernehmen, scheiterte, und auch sein Rachefeldzug verlief nicht wie geplant. Jetzt kommt hinzu, dass er den Selbstschutz vernachlässigt hat und nun weitaus mehr Ressourcen bereitstellen muss, um die lange Grenze zur Ukraine hinreichend zu schützen.

Welche strategischen Lehren kann Selenskyj jetzt schon aus der Situation ziehen?

Thiele: Selenskyj möchte im Kontext der Kursk-Operation von den westlichen Verbündeten nun endlich die Freigabe weitreichender Waffen für den ukrainischen Einsatz auch weit hinter den russischen Linien und in Russland selbst, z.B. die Freigabe der Taurus-Raketen durch Deutschland.

Die Botschaft an die Verbündeten ist jedoch, dass sie Überraschungen mit Selenskyj einkalkulieren müssen. Das macht sie zögerlicher, ihm Freibriefe für weitreichende Waffensysteme zu erteilen. Kriegstaktisch ist es clever, unvorhersehbar zu bleiben, doch genau dies könnte die Verbündeten abschrecken. Sie wollen mitreden.

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