Ralph D. Thiele im Interview - „Rückenmark gekappt“: Experte erklärt, was Pager-Explosion mit der Hisbollah macht
Mit gezielten Angriffen auf Pager und Walkie-Talkies hat Israel die Hisbollah in Panik versetzt. Die Angriffe im Libanon lassen die Miliz stark geschwächt und desorganisiert zurück und bieten "einen Einblick in eine dystopische Zukunft“, meint der Militärexperte Ralph Thiele im Interview mit FOCUS online.
FOCUS online: Herr Thiele, Pager und Funkgeräte sind im Libanon explodiert und haben 12 Menschen getötet und 2700 weitere verletzt. Sie waren Berichten zufolge mit etwa drei Gramm hochexplosivem Sprengstoff und einem elektronischen Schalter, um die Explosion auszulösen, präpariert worden. Das Ziel: Kämpfer der Hisbollah. Der Auslöser wurde offenbar in Israel betätigt. Wie bewerten Sie den Angriff Israels auf die islamistische Miliz?
Ralph Thiele: Das ist ein sehr gezielter, direkter Angriff auf eine Tätergruppe. Täter, die immer wieder Raketen in Ballungsräume israelischer Zivilisten schießen, wurden von Israel diesmal direkt ins Visier genommen.
Bei den Angriffen starben Medienberichten zufolge auch ein kleiner Junge und ein Sanitäter.
Thiele: Es ist klar, dass die Israelis nicht gezielt Kinder angegriffen haben. Die Pager und später die Walkie-Talkies wurden gezielt Hisbollah-Mitgliedern zur Verfügung gestellt, das heißt, die Frage muss eigentlich lauten: Warum haben Väter oder Mütter ihre Kinder in Hisbollah-Operationen eingebunden und damit dem Risiko eines Angriffs ausgesetzt? Hier sehe ich die Verantwortung eher bei den Eltern. Und es kann natürlich nicht ausgeschlossen werden, dass sich darunter auch Sanitäter befinden. Die Nähe von Krankenhäusern zu Kommandoposten in Gaza ist ja bereits bekannt. Eine Verwicklung von Sanitätern und Hisbollah-Kämpfern kann nicht ausgeschlossen werden. Fakt ist: Die Pager wurden gezielt an Kader der Hisbollah verteilt, ebenso die Walkie-Talkies.
Pager und Funkgeräte explodieren: „Rückenmark und Nervenstränge der Hisbollah sind gekappt“
Ist das Vorgehen mit völkerrechtlichen und kriegsrechtlichen Abkommen gedeckt, oder bewegt sich Israel außerhalb?
Thiele: Das ist akademisch eine interessante Frage. Vom Kriegs- und Völkerrecht geschützt sind zivile Schutzbedürftige und Kombattanten in Uniform. Kämpfende Partisanen in ziviler Kleidung haben schon immer eine schwache Rechtsposition. Das fortwährend mit Raketen und anderen Waffen angegriffene Israel hat das Recht zur Verteidigung. Ein indiskriminierender Angriff der Israelis wäre nicht gedeckt. Aber Israel hat hier exklusiv Führungskader der angreifenden Hisbollah angegriffen. Wenn diese z.Z. die Führungs- und Informationssysteme ihrer militanten Angriffsformationen in der Familie weitergeben, sehe ich die Verantwortung bei denjenigen, die diese Systeme – in dem Fall Pager und Walkie-Talkies – ggf. Schutzbedürftigen zur Nutzung überlassen.
Wie unterscheiden sich beide Attacken voneinander?
Thiele: Die Aktion mit den Walkie-Talkies war noch differenzierter als bei den Pagern. Bei den Walkie-Talkies hat man ganz gezielt Personen ausgewählt. Deswegen sind nicht alle Walkie-Talkies im Libanon hochgegangen, sondern gezielt individuell. Das nennt man im IT-Jargon „Micro Targeting“, was heute über Cyber- und elektronische Geräte sehr präzise gemacht werden kann.
Die Attacken sind Teil einer sehr fortschrittlichen Art der Kriegsführung. Wie schätzen Sie den psychologischen Effekt bei Israels Feinden ein?
Thiele: Generell gilt für moderne Kriegsführung, und das betrifft auch Terroristen oder Hisbollah-Kämpfer: Das Rückgrat bzw. die Nervenstränge sind entscheidend. Diese Nervenstränge, also die Kommunikation, wurden jetzt entfernt bzw. zerstört. Das heißt, sie haben noch Glieder, Muskeln und andere Körperteile, auch der Kopf ist noch da, auch wenn Israel immer wieder auf Führungsmitglieder abzielt. Doch die Verbindung durch das Rückenmark und die Nervenstränge wurde gekappt.
Also ein herber Schlag für die Hisbollah?
Thiele: Das ist desaströs. Nicht nur psychologisch, weil die Fragen aufkommen: Explodiere ich? Mein Kind? Meine Frau? Haben sie auch meine Handy-IP-Adresse? Wissen die Israelis, dass ich dazugehöre? Insbesondere die Funktionsfähigkeit der Miliz ist schwer getroffen. Deren Kommunikationsstränge befähigen zu schneller Reaktion und gezieltem Agieren.
Die Hisbollah und auch die Hamas nutzen eine Hit-and-run-Strategie: Raketen abfeuern und verschwinden, weil sie wissen, dass die Israelis kommen und ihre Abschussstellungen vernichten. Diese Geschwindigkeit muss orchestriert werden, und diese Fähigkeit ist jetzt zerstört. Die Hisbollah ist jetzt auf veraltete Kommunikationsmittel wie aus dem Mittelalter angewiesen. Brieftauben und reitende Boten lassen grüßen. Das ist sowohl psychologisch als auch funktional ein erheblicher Schlag.
Eskaliert jetzt der Nahost-Konflikt? „Ich bin von einem solchen Angriff nicht überzeugt“
Was folgt jetzt auf den israelischen Cyber-Doppelschlag gegen die Hisbollah? Kommt jetzt der große militärische Schlag?
Thiele: Ich bin von einem solchen Angriff nicht überzeugt. Einige sagen, es könnte nun eine militärische Lawine folgen, aber wenn das geplant gewesen wäre, hätte es sich angeboten, dies kurz vor oder nach den Explosionen zu tun. Der Effekt der aktuellen Attacken ist bereits ein erheblicher, wenn man bedenkt, dass eine Tätergruppe gezielt und im weiten Rahmen verletzt oder im Ausnahmefall auch getötet werden kann - bei dem ersten Angriff gab es neben den Toten allein 200 Verbrennungen dritten Grades und Amputationen .
Erleben wir gerade ein neues Zeitalter der Kriegsführung?
Thiele: Vieles der Vorbereitungsarbeit solcher Angriffe wird zunehmend durch Künstliche Intelligenz erledigt. Dadurch wird der Prozess dynamischer und schneller. Das heißt, nicht nur die Israelis werden solche Attacken ausführen können, sondern auch andere Akteure wie Russen, Chinesen und diverse Organisationen. Sie alle werden das hybride Spektrum nutzen. Staaten, Organisationen, Unternehmen, kleine Gruppen, Kriminelle, Terroristen und Individuen könnten solche Fähigkeiten entwickeln. Das ist die wichtige Lehre aus dieser Situation. Wir bekommen hier einen Einblick in eine dystopische Zukunft, wenn wir uns nicht dramatisch besser aufstellen, um solchen Bedrohungen begegnen zu können.
„Die Israelis sind bekannt dafür, in andere Organisationen hineinzukriechen“
Die massenhafte Präparation von Kommunikationsgeräten wurde offenbar durch einen von langer Hand geplanten und unter strengster Geheimhaltung durchgeführten Zugriff auf die Produktionslinien der Geräte ermöglicht. Wie kann man sich das im Detail vorstellen?
Thiele: Die Israelis sind bekannt dafür, in andere Organisationen hineinzukriechen. Das betrifft die Hamas, die Hisbollah, den Iran. Um an Informationen über die Hisbollah zu kommen, muss man also erst einmal Zugang zu der Organisation haben, um herauszufinden, worüber kommuniziert wird.
Wenn man weiß, dass eine Organisation aus Sicherheitsgründen Pager anschafft, muss man herausfinden, woher diese kommen. In diesem Fall kamen die Pager von einer Produktionsfirma, die in Taiwan ansässig ist, aber in Ungarn produziert.
Dann müssen die Netze in Taiwan und Ungarn ausgebreitet werden. Partnerdienste können dabei helfen; der israelische Geheimdienst ist sehr anerkannt und arbeitet ggf. auch mit den Diensten anderer Staaten zusammen, zum Beispiel durchaus auch mit deutschen Diensten. Es ist auch nicht auszuschließen, dass Ungarn als Staat Israel einen Gefallen getan hat.
Und wie genau läuft die Präparation der Geräte ab?
Thiele: Ist die Produktionsstätte bekannt, muss nur noch ein Weg dort hineingefunden werden. Dies geschieht häufig über die Wertschöpfungskette, z.B. durch den Einbau von Sprengstoff in Gehäuseteile oder durch präparierte Bauteile, die z.B. direkt aus Sprengstoffmaterialien hergestellt und dann über den Zulieferer unbemerkt an die Produktionsstätte geschickt werden und von Mitarbeitern unwissend verbaut werden. Ein Impulsgeber, der mit dem Alarm des Pagers gekoppelt ist, löst die Sprengladung aus. So kann sichergestellt werden, dass die Geräte im entscheidenden Moment aktiviert werden.
„Solche Angriffe können Terror, Panik und Konfusion auslösen“
Was bedeutet das jetzt für Israels Erzfeind, den Iran?
Thiele: Diese Angriffe führen nicht nur zu massiver Verunsicherung innerhalb der Hisbollah, auch die iranischen Unterstützer, die als Mitplaner fungieren, werden tief verstört sein. Der iranische Botschafter hat offenbar auch einen Pager erhalten, was die Beweisführung der Verwicklung einmal mehr erleichtert. Die Iraner müssen sich nun fragen, welche ihrer Netzwerke sind noch infiltriert. Gleichzeitig mischen die Iraner in diesen Tagen im amerikanischen Wahlkampf mit, was zeigt, dass sie im Cyberbereich selbst gut aufgestellt sind.
Cyber-Angriffe wie die im Libanon haben ein enormes Chaos-Potenzial, auch, weil sie nur schwer zuzuordnen sind. Welche Gefahren kommen damit auf die Welt zu?
Thiele: Solche Angriffe können Terror, Panik und Konfusion auslösen, ohne dass klar ist, wer dahintersteckt. Das Prinzip der unklaren Zurechenbarkeit ist eine gängige Methode in der hybriden Kriegsführung.
Länder mit hohen Cyber-Kapazitäten, wie etwa China, mischen Informationskrieg, Desinformation und elektronische Kampfführung zu einem umfassenden Konzept. Diese Art von Kriegsführung wird sich ausbreiten! Um uns zu schützen, müssen wir viel professioneller mit Daten umgehen. Der Datenschutz darf uns nicht beim Schutz vor Missbrauch von Daten behindern. Dies ist entscheidend, um nicht Opfer hybrider Kampagnen zu werden.
„Diese Art von hybrider Kriegsführung wird sich ausbreiten“
Der Mossad ist bekannt für spektakuläre Aktionen. Die Pager- und Funkgerät-Bomben gehören jetzt dazu. Gab es schon mal eine vergleichbare Attacke?
Thiele: Tatsächlich gab es eine ähnliche Aktion im Zusammenhang mit den nuklearen Zentrifugen des Irans vor etwa 14 Jahren. Durch eine Cyberattacke wurden diese Zentrifugen zum Explodieren gebracht. Es war eine gemeinsame israelisch-amerikanische Aktion. Dabei wurden auch Wissenschaftler gezielt getötet. Das Sprengen der Zentrifugen war eine der ersten Anwendungen von Cyberkriegsführung in einem kinetischen Kontext. Dieser Fall zeigt, dass solche kinetischen Effekte durch Cyberangriffe schon seit langem experimentell bewiesen sind und nun zur Anwendung kommen.
Inwiefern könnte die aktuelle Attacke eine Rolle im Ukraine-Krieg spielen? Können wir Ähnliches dort erwarten?
Thiele: Der Krieg in der Ukraine hat viele Hightech-Themen neu aufgebracht. Zu Beginn gab es gleich zu Anfang einen hochwirksamen russischen Angriff auf Satellitensysteme, was zeigt, dass Cyberangriffe dort eine bedeutende Rolle spielen. Die Zusammenarbeit von Drohnen, Weltraum-Kommunikation und Künstlicher Intelligenz ist längst Standard in der modernen Kriegsführung, auch in der Ukraine. Die russische elektronische Kampfführung (ELOKA) hat zudem westliche Hightech-Systeme empfindlich in ihrer Präzision und Zuverlässigkeit gestört, was auch zeigt, dass beide Seiten solche Technologien intensiv nutzen.
Und diese Art von hybrider Kriegsführung wird sich ausbreiten. Der israelische Angriff ist nur ein Beispiel für die Anwendung solcher Technologien. In der Ukraine wird man das ganz genau beobachten.
Die Botschaft ist also klar: Technologien wie KI, Datenmanagement, Sensorik, Robotik, Cyber- und elektronische Kampfführung explodieren gerade und werden zunehmend angewendet. Das heißt für uns: Um nicht Opfer solcher hybriden Kampagnen zu werden, müssen wir technologisch mithalten und unser riesiges Know-how anwenden.