Wer regiert mit wem? - Nach den Ost-Wahlen gibt es vier Szenarien – mindestens zwei führen ins Chaos
Die Regierungsbildung könnte in Sachsen und Thüringen so kompliziert und chaotisch wie noch nie in der Bundesrepublik werden. Wer die Ost-Länder künftig regieren wird, hängt von vier Szenarien ab. Mit dreien davon würden die Parteien Neuland beschreiten.
Im Video oben: Schock-Umfrage vor Ost-Wahlen: Über 40 Prozent sehen AfD-Regierung positiv
Seit Monaten blicken Politiker, Experten und Interessierte auf Sachsen und Thüringen . Alle Aufmerksamkeit richtet sich auf den 1. September, dann stimmen die Bürgerinnen und Bürger dort über die neuen Landtage ab. Doch danach wird das große Bangen erst so richtig losgehen.
Denn so unsicher der Wahlausgang ist – sicher wird die Regierungsbildung so kompliziert wie noch nie zuvor in der Bundesrepublik. Zwar scheint eine Koalition mit der AfD ausgeschlossen, doch deren Stärke verkompliziert die Situation. Neue und ungewöhnliche Lösungen sind gefragt. FOCUS online beschreibt vier mehr oder weniger wahrscheinliche Szenarien, wie es nach dem 1. September weitergehen könnte.
Szenario 1: Alles bleibt wie zuvor
Nachdem die politische Landschaft bei den Wahlen am 1. September einmal ordentlich durchgeschüttelt wurde, könnten die Parteien zu einer überraschenden Erkenntnis kommen: Trotz des BSW als neuer Macht und einer noch stärkeren AfD ist eine Neuauflage der Koalition möglich, die schon in den vergangenen fünf Jahren regiert hat.
Rechnerisch wäre das aktuellen Wahlumfragen zufolge in Sachsen möglich. Ministerpräsident Michael Kretschmer könnte als Wahlsieger seine CDU erneut in eine Kenia-Koalition zusammen mit SPD und Grünen führen. Das doppelte Problem dabei: Die Mehrheit im Landtag wäre wahrscheinlich nur hauchdünn. Und weil die aktuelle Kenia-Koalition unbeliebt ist – sowohl bei den Wählerinnen und Wählern als auch bei den beteiligten Politikerinnen und Politikern – besteht bei einer Neuauflage die Gefahr, dass Abweichler in den Fraktionen sie platzen lassen. Das könnte bereits bei der Wiederwahl von Kretschmer der Fall sein oder auch erst zu einem späteren Zeitpunkt.
In Thüringen ist die Konstellation anders: Ministerpräsident Bodo Ramelow führt aktuell eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung an. Die bildete der Linken-Politiker 2019 aber nach einem klaren Wahlsieg. Ramelows Partei liegt aktuell in den Umfragen aber nur noch auf dem vierten Platz – keine Position, aus der heraus eine Neuauflage von Rot-Rot-Grün wahrscheinlich ist.
Zumal sowohl Ramelow als auch Kretschmer die bisherigen Koalitionspartner noch abhandenkommen könnten: SPD und Grüne kämpfen in beiden Bundesländern um den Einzug in den Landtag. Scheitern sie an der Fünf-Prozent-Hürde, ruht ihre letzte Hoffnung auf der Grundmandatsklausel und ihren Wahlkreissiegern, um doch noch in das Parlament einziehen zu können.
Szenario 2: CDU und BSW raufen sich zusammen
Jenseits des ersten Szenarios werden die Parteien in Thüringen und Sachsen Neuland beschreiten müssen. Die am heißesten diskutierte Variante ist eine Zusammenarbeit zwischen CDU und dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) – möglicherweise ergänzt um weitere Parteien. Durch die Stärke des BSW vor allem in Thüringen gilt das vielen als derzeit wahrscheinlichstes Szenario.
Dabei müsste vor allem die CDU einige Hürden überspringen. Zunächst müsste sie klären, ob es überhaupt eine inhaltliche Basis für die Zusammenarbeit gibt.
Sarah Wagner, Politikwissenschaftlerin an der Queen’s University Belfast hat sich intensiv mit dem BSW beschäftigt. Sie gibt eine zweigeteilte Antwort auf diese Frage: „Wirtschaftspolitisch ist das BSW relativ links – was auch nicht überraschend ist angesichts der Vergangenheit von Sahra Wagenknecht. Dementsprechend treibt dieses Thema BSW und CDU unglaublich weit auseinander.“
Im Gespräch mit FOCUS online erklärt Wagner aber auch: „Auf der anderen Seite gibt es bei gesellschaftspolitischen Themen wie der Migration viele Überschneidungen. Und das sind die Themen, die im Moment auch mehr Aufmerksamkeit finden.“ Möglicherweise werde sich ein Koalitionsvertrag zwischen CDU und BSW dann eher auf diese Themen konzentrieren. Heißt: viele Passagen zu Migration, innerer Sicherheit, Gendern – aber wenig Eindeutiges zur Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Offen bleibt, welche Rolle die Außenpolitik dann spielen würde. Eigentlich ist sie kein Thema für die Landespolitik. Doch das BSW und vor allem Frontfrau Wagenknecht machen die Kritik an der Nato und die Forderung nach Friedensverhandlungen zwischen Ukraine und Russland zu ihrem Kernthema.
Die CDU hingegen ist eigentlich entschieden pro-westlich und pro Ukraine. Sachsens Ministerpräsident Kretschmer stellte sich aber erst kürzlich gegen diese Linie und forderte die Einstellung der westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine. Ein Signal an Wagenknecht?
Wählerschaft aufgeschlossen, Mitglieder skeptisch
Gibt es eine inhaltliche Basis, stellt sich die Frage, ob die ungewöhnliche Koalition überhaupt ausreichend Unterstützung findet – in der Wählerschaft und unter den Mitgliedern der Parteien. „Bei den Wählerinnen und Wählern zeigen sich eine Nähe bei gesellschaftspolitischen Themen. Würden diese Themen bei einer Koalition im Vordergrund stehen, hätten die Parteianhänger gerade im Osten wahrscheinlich kein Problem mit einem Bündnis aus CDU und BSW“, erklärt Wagner.
Anders verhalte es sich bei den Mitgliedern: „Wer in der CDU ist, ist vermutlich skeptischer gegenüber dem BSW als ein normaler Wähler. Dennoch zeigen Befragungen unter Mitgliedern, dass sie eine Koalition gar nicht so negativ bewerten würden, wie man das vielleicht erwartet.“ Zwar sähen sie die Linken-Vergangenheit vieler BSW-Gründer kritisch, würdigten aber auch deren konservative Positionen. „Ich glaube deshalb nicht, dass die CDU-Mitglieder in den Landesverbänden Sturm laufen würden bei einer Zusammenarbeit. Sie sind realistisch und machtbewusst“, glaubt Wagner.
CDU-Führung im Wagenknecht-Dilemma
Bleibt schließlich die Frage, wie die Parteiführung auf eine mögliche Koalition blickt. Manche in der Partei wollen den Unvereinbarkeitsbeschluss der CDU mit der Linken auch auf das BSW anwenden. Schließlich gibt es eine personelle Kontinuität. Der Parteivorsitzende Friedrich Merz sagte im Juni, man arbeite mit „rechtsextremen und linksextremen Parteien nicht zusammen“. Für Sahra Wagenknecht gelte aber beides: „Sie ist in einigen Themen rechtsextrem, in anderen wiederum linksextrem“.
Kurz darauf präzisierte der CDU-Chef, das gelte nur für den Bund, „in der Landespolitik werden andere Entscheidungen getroffen“. In Thüringen zum Beispiel müsste CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt nicht mit BSW-Lautsprecher Wagenknecht zusammenarbeiten, sondern mit der als pragmatisch geltenden Katja Wolf. Ganz ohne eine Wagenknecht-Beteiligung würde die Koalition aber offenbar nicht zustande kommen: Die Parteichefin kündigte am Mittwoch an, ein Bündnis im Land mitverhandeln zu wollen.
Für Politikwissenschaftlerin Wagner ist das keine Überraschung: „Die Partei ist sehr stark top-down organisiert. Bundes- und Landespartei lassen sich kaum unterscheiden. Das ist anders als zum Beispiel bei den Grünen, wo Winfried Kretschmann sich in Baden-Württemberg immer wieder von der Bundespartei absetzt.“
Szenario 3: Chaos mit und ohne Brandmauer
Möglicherweise werden auch CDU und BSW zu zweit keine Mehrheit in den Landtagen haben. SPD und Grüne haben mittlerweile zwar ebenfalls eine Zusammenarbeit nicht ausgeschlossen – doch so eine große Anti-AfD-Koalition würde neue Probleme mit sich bringen: „Wenn wir Koalitionen aus drei oder noch mehr Parteien haben, löst das viel Unzufriedenheit aus, weil viele Kompromisse eingegangen werden müssen. Das sehen wir gerade exemplarisch im Bund“, betont Wagner. Sie warnt: „Eine solche Koalition könnte Populisten in die Hände spielen und die Lage in Sachsen und Thüringen weiter verschärfen.“
Wie schwierig eine Zusammenarbeit in einer Vielparteien-Koalition wäre, hat der Politikwissenschaftler Christian Stecker von der TU Darmstadt mithilfe des Wahl-O-Mat demonstriert. Mit dem Tool lässt sich relativ einfach herausfinden, wo es Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Parteien gibt. In seiner Analyse kommt Stecker zum Schluss, dass flexible Mehrheiten mehr Spielraum schaffen würden „als jede andere Konstellation“.
Für 34 von 38 Themen im Wahl-O-Mat könnte sich dann eine jeweils wechselnde Mehrheit finden – wenn auch die AfD einbezogen würde. Lässt man sie außen vor, schrumpfen die umsetzbaren Themen mit flexibler Mehrheit und Brandmauer auf 12 in Sachsen und 13 in Thüringen. Das wären aber immer noch mehr als jede realistische Koalition ohne die AfD.
Die Chaos-Variante hat zumindest in der Theorie diesen Vorteil. In der Praxis ist sie trotzdem schwer umsetzbar. Zunächst müsste sich nämlich eine Mehrheit für einen Ministerpräsidenten finden. Dafür müssten dann auch alle Parteien – wahlweise mit oder ohne AfD – einbezogen werden. Nur ein anerkannter überparteilicher Kandidat wäre wahrscheinlich vermittelbar.
Dann begänne die mühsame Regierungsarbeit. Bei jedem Thema müssten aufs Neue Gespräche zwischen allen Parteien stattfinden. Jederzeit bestünde die Gefahr einer totalen Blockade. Für Expertin Wagner ist das Szenario deshalb nahezu ausgeschlossen: „Es wäre einfach nicht auf Dauer angelegt und viel zu instabil.“
Szenario 4: Die alte Regierung muss weitermachen
Das vierte Szenario scheint wie das erste, würde aber unter völlig anderen Voraussetzungen zustande kommen. Ramelow und Kretschmer bleiben nämlich nicht nur im Amt, wenn sie wiedergewählt wird – sondern auch, wenn gar kein neuer Regierungschef gewählt wird. Interimistisch könnten sie mit seinen Ministern theoretisch so lange weitermachen, bis sie ersetzt werden.
Möglich werden könnte das durch zwei Varianten: Politikwissenschaftlerin Wagner rechnet mit Koalitionsverhandlungen, die viel länger als üblich dauern werden. Bis dem Landtag kein Koalitionskandidat mit Aussichten auf Mehrheit vorgeschlagen wird, müssten die bisherigen Amtsinhaber weitermachen. „Wenn das aber über Jahre andauert, wäre es eine Zumutung für die Wählerinnen und Wähler, dass die Regierung eigentlich kein Mandat mehr hat. Deshalb würde ich auch keiner Partei raten, dieses Szenario bewusst in Kauf zu nehmen.“
Denkbar ist eine lange Interims-Regierungszeit aber auch, wenn die Bundesländer in eine Verfassungskrise steuern. Insbesondere in Thüringen könnte das der Fall sein. Die Parteien sind sich dort nicht einig darüber, wann ein Ministerpräsident im dritten Wahlgang gewählt wäre. Eine Ernennung des Kandidaten könnte trotzt Wahl vom Landtagspräsidenten verweigert werden, es würde ein Rechtsstreit folgen – Ramelow müsste dann auf gepackten Koffern bis zur Entscheidung weiter regieren.