Diese Fehler machte der Westen bei den Sanktionen gegen Russland - sie halfen Putin sogar beim Krieg, laut Harvard-Ökonom
Die Sanktionen gegen Russland wirken zwar, aber viel schwächer als es möglich gewesen wäre. Schwere Fehler des Westens hätten verhindert, dass die Sanktionen schnellen Einfluss auf Russlands Wirtschaft und damit den Krieg gegen die Ukraine genommen hätten, bilanzieren Harvard-Professor Oleg Itskhoki und die Ökonomin Elina Ribakova in einer Studie, die sie kürzlich bei einer Konferenz des IfW Kiel im Wirtschaftsmininsterium in Berlin vorstellten.
Die Top-Ökonomen ziehen darin einen spektakulären Schluss: „Wären unmittelbar nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine umfassende Sanktionen verhängt und durchgesetzt worden, wäre es plausibel, dass es zu einem Zusammenbruch der russischen Märkte, einer Wirtschafts- und Finanzkrise und einem erheblich eingeschränkten politischen Handlungsspielraum gekommen wäre.“ Und weiter: „Der Verlust von Öl- und Gaseinnahmen sowie des Zugangs zu wichtigen Zulieferungen im Jahr 2022 hätte es Russland wahrscheinlich sehr viel schwerer gemacht, seine Kriegsanstrengungen aufrechtzuerhalten."
Stattdessen hätten die Sanktionen Russlands Wachstum nur moderat gebremst, „obwohl es gemessen an Zahl und Umfang die bisher umfassendsten Sanktionen gegen ein Land waren", schreiben die Ökonomen. Im Gegenteil, halfen die Sanktionen Wladimir Putin sogar noch mehr Ressourcen für seinen Krieg anzuhäufen
Was haben die USA, die EU und ihre Verbündete wie Großbritannien, Japan oder Australien falsch gemacht?
1. Fehler: Russland durfte sich seit 2014 vorbereiten
Den ersten Fehler sehen Itskhoki und Ribakova im Jahr 2014. Damals annektierte Russland die Krim und Teile der Ostukraine. Der Westen reagierte mit Sanktionen, die vordergründig auch nicht erfolglos waren. „Obwohl diese ersten Sanktionen Russland nicht zum Rückzug zwangen, trugen sie wahrscheinlich zu dessen Entscheidung bei, 2014 nicht weiter vorzurücken". Wladimir Putin habe damals zusätzliche Sanktionen vermeiden wollen, weil Russland darauf zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorbereitet war.
Doch die westlichen Länder zeichneten Putin 2014 sehr genau vor, wie sie auf eine volle Invasion der Ukraine reagieren würden. Putin und die Bank of Russia konnten das Land also darauf vorbereiten.
„Im Voraus angekündigte Sanktionen haben eine geringere Wirkung und bieten die Möglichkeit einer frühzeitigen Anpassung“, heißt es in der Analyse. „Die 2014 verhängten Sanktionen und die politische Debatte über die Eskalationsstufen gaben Russland eine Vorwarnung, worauf es sich als Nächstes einzustellen hat." Genau das tat Putin.
Schon 2014 schränkten die Sanktionen vor allem Russlands Zugang zu Importen und den Finanzmärkten ein. Russlands Öl- und Gasexporte sanktionierte der Westen nicht. Russland profitierte weiter von den Einnahmen und erzielte hohe Überschüsse im Außenandel. Die Zentralbank häufte Devisen im Wert von 642 Milliarden US-Dollar an. Sie zählen zu den größten Währungsreserven Welt. Zudem baute Russland Schulden im Ausland ab und begann seine Wirtschaft vom US-Dollar zu lösen. 2016 wurde mit Brasilien, Indien und China die Brics-Gruppe gegründet.
Gleichzeitig verstärkte Russland die Abhängigkeit Europas und vor allem Deutschlands von seinem Öl und Gas noch. Und Deutschland ließ es geschehen. Nicht nur durch das Pipeline-Projekt Nordstream. In den Monaten vor dem Angriff auf die Ukraine, hatte Russland die Gaspeicher in Deutschland weitgehend leer laufen lassen. Wirtschaftsminister Robert Habeck sprach von einem „Anfgriff Russland auf unsere Energieversorgung".
„Auch wenn die Sanktionen 2014 begrenzt waren, hatten sie zur Folge, dass Russland 2022 weniger global integriert war als 2014", heißt es in der Harvard-Studie. Mit Vorbereitungen der Behörden und vor allem Zentralbank auf künftige Sanktionen habe dies Russland geholfen, Wirkungen der Sanktionen 2022 abzupuffern.
2. Fehler: Importsanktionen stärkten Russland
Nach Russlands Überfall auf die Ukraine reagierte der Westen zwar schnell mit Sanktionen. Sie trafen zunächst aber wieder vor allem Russlands Importe. Seine Exporte - vor allem von Öl und Gas – blieben zunächst unbehelligt.
Das führte dazu, dass Russlands Überschuss im Außenhandel in die Höhe schoss - und damit die Deviseneinnahmen des Landes. Der Rubel wertete zeitweise auf. Der Überschuss im Zahlungsverkehr mit dem Ausland „reichte aus, um das Finanzsystem auch ohne fortgesetzte finanzielle Repression und Ausgabenkürzungen zu stabilisieren“, schreiben die Ökonomen. Statt in eine Finanzkrise zu führen, entstand eine „ungewöhnlichen Situation, in der aufgrund wirksamer Importsanktionen und steigender Exporteinnahmen durch hohe Rohstoffpreisen vorübergehend reichlich Devisen zur Verfügung standen.“
„Importsanktionen können nach hinten losgehen, indem sie einige Auswirkungen von Finanzsanktionen ausgleichen und dazu beitragen, eine Finanzkrise zu vermeiden", heißt es in der Analyse. Im Gegensatz dazu hätten sich Exportsanktionen und Finanzsanktionen gegenseitig verstärkt. Dies hätte in Russland eine Währungs- und Zahlungsbilanzkrise auslösen können.
Nicht trotz, sondern wegen der Sanktionen stieg Russlands Leistungsbilanzüberschuss 2022 auf den Rekord von 238 Milliarden Dollar. Dies war mehr als doppelt so hoch wie der bisherige Rekord. Dies sei als Folge der Sanktionen zwar kein Zeichen wirtschaftlichen Stärke. Die Überschüsse versetzen Russland aber dennoch in die Lage, sogar noch mehr Ressourcen für seinen Krieg anzuhäufen.
Verursacht wurde dies weitgehend durch steigende Rohstoffpreise und den Rückgang der Importe. Ab Herbst 2022 begannen sich die russischen Einfuhren dann zu stabilisieren. Ungefähr zur gleichen Zeit traten Beschränkungen für Russlands Exporte in Kraft, und die Exporteinnahmen begannen zu sinken. Russland selbst schränkte seine Gaslieferungen in viele Länder ein. So drehte Russland Deutschland am 1. September 2022 das Gas komplett ab - ohne dass es ein Embargo russischen Gases gegeben hätte.
Wieder war die Bank von Russland vorbereitet. „Sie reagierte rasch auf die Sanktionen, indem sie ihren Leitzins am 28. Februar von 9,5 auf 20 Prozent mehr als verdoppelte, den Rubel mit Käufen stützte, Bankensektor Liquidität anbot und Kapitalkontrollen einführte". Dafür setzte die Zentralbank bis Ende März 39 Milliarden Dollar ihrer Reserven ein, die dadurch lediglich auf 604 Milliarden Dollar sanken.
Russland hatte die Finanzkrise in den ersten Monaten des Krieges und der Sanktionen abgewendet.
3. Fehler: Exportsanktionen kamen zu spät
Erst im Herbst setzten spürbare Sanktionen gegen die russischen Devisenquellen Öl und Gas ein. Das Zögern erwies sich als Dopplefehler. Allein die Erwartung von Sanktionen hatte die Preise für Öl und Gas in die Höhe schießen lassen. Russland lieferte aber immer noch unveränderte Mengen. „Politik kann völlig nach hinten losgehen, wenn im Voraus angekündigte Sanktionen gegen künftige Rohstoffexporte unmittelbare Auswirkung auf die aktuellen Rohstoffpreise haben", schreiben die Ökonomen. „Dies war im Jahr 2022 der Fall, als die Vorwegnahme von Sanktionen gegen den russischen Energiesektor zu den Rekord-Ölpreisen beitrug, obwohl die russischen Öllieferungen an den Weltmarkt nie eingestellt wurden“.
Russland schnell und vollständig zu isolieren wäre für die westlichen Länder teuer „und wahrscheinlich unerreichbar“ gewesen. „Infolgedessen wollten einige Regierungen ein solches Ziel nicht verfolgen, und Russlands Öl floss weiterhin frei auf den Markt“, schreiben die Ökonomen. Die Koalition gegen Russland „brauchte fast ein Jahr, um die Käufe von russischem Öl und Gas zu reduzieren - und viele ihrer Unternehmen sind immer noch aktiv am Handel mit Russland beteiligt“.
Die zeitliche Abfolge der Sanktionen gegen Russlands Impore und Exporte gebe Hinweise, warum die Sanktionen weniger Wirkung zeigten als erhofft. „Erstens konzentrierte sich die erste Runde der Sanktionen auf den Finanzsektor, um Russland in eine Finanzkrise zu stürzen, die sich zu einer Wirtschaftskrise ausweiten würde". Viele dieser Maßnahmen waren jedoch von den russischen Behörden vorhergesehen worden. „Zweitens schuf das schrittweise Vorgehen der USA und der EU bei den Sanktionen gegen russische Energieexporte, die erst 2023 vollständig in Kraft traten, ein äußerst günstiges Umfeld mit steigenden Rohstoffpreisen, was zu rekordverdächtigen Exporterlösen und erheblichen Haushaltseinnahmen im Jahr 2022 führte“. Schließlich habe Putins „Festung Russland“-Strategie mit geringen Auslandsschulden, hohen Devisenreserven und einem gut ausgestatteten Staatsfonds starke Puffer geschaffen. Dazu kömme der Aufbau einer Infrastruktur für Zahlungen, um die Abhängigkeit von SWIFT und VISA/Mastercard zu verringern.
4. Fehler: Die Durchsetzung war schlecht vorbereitet
Die fatale Kombination von Einfuhr- und Ausfuhrsanktionen begünstigte nach Einschätzung der Ökonomen auch die „dramatische Umlenkung des russischen Handels“. China ist nun größter Lieferant Russlands. China und Indien haben die EU als Russlands wichtigste Energiekunden abgelöst
Unmittelbar nach Kriegsbeginn brachen Russlands Importe um fast 50 Prozent ein. Dies betraf sowohl den Handel mit den Ländern der Sanktionskoalition als auch mit Drittstaaten. Anfangs habe die Furcht von Sekundärsanktionen „eine wirksame Abschreckung" dargestellt", schreiben die Forscher. Doch der Westen ließ diese Chance verstreichen. Russlands Handel erholte sich rasch und erreichte in weniger als einem Jahr wieder Vorkriegsniveau. „Dies war vor allem auf die Umleitung der Handelsströme von Ländern der Sanktionskoalition in Drittländer zurückzuführen". Sie hätten schnell gemerkt, dass die Durchsetzung der Sanktionen und wirksame Mechanismen für Sekundärsanktionen fehlten.
Für Sanktionen gelte: „Je größer die Koalition ist, desto geringer sind die Kosten“, heißt es in der Analyse. Dennoch blieben die Kosten für die Absender von Sanktionen immer proportional zu den Kosten für das sanktionierte Land. („No Pain, No Gain" oder „Ohne Schmerz kein Erfolg"). Für den Erfolg sei es daher entscheidend, Drittländern freiweillig oder über wirksame Sekundärsanktionen zu beteiligen.
„Russland ist zwar kein sehr großes Land“, schreiben die Ökonomen. Vor dem Ukraine-Krieg betrug seine Wirtschaftsleistung etwa ein Zehntel des europäischen BIP. Aber im wichtigen Energiesektor war der Handel mit Europa beduetend. Darum könne Russland bei der Analyse der Sanktionen nicht als kleines Land betrachtet werden. „Außerdem umfasste die Sanktionskoalition keine großen Länder wie China, Indien, Südafrika, Brasilien und die Türkei“.
Besonders diese Länder und ehemalige Sowjetrepubliken seien als „Schwarze Ritter" in die Bresche gesprungen. Das sei umso wichtiger, weil sich die Gewichte im Welthandel verschoben haben: „Anders als zu Zeiten des Kalten Krieges, als auf den Westen über 75 Prozent des weltweiten BIP entfiel, liegt der Anteil der westlichen Volkswirtschaften heute unter 60 Prozent". Einseitige westliche Sanktionen seien weniger wirksam.
Erst 2023 habe der Westen sich stärker um die Durchsetzung der Sanktionen gekümmert und dabei die Bedeutung des Finanzsektors erkannt. Der entscheidende Wendepunkt seit die von US-Präsident Joe Biden im Dezember 2023 erlassene Verordnung zu Sekundärsanktionen besonders gegen Banken, die Geschäfte mit Russland finanzieren.
Sanktionen gegen Russland wirken
„Sanktionen sind ein wichtiges Instrument im Arsenal wirtschaftlichen Staatskunst, aber sie sind kein Zauberstab zur Lösung geopolitischer Konflikte“, schreiben Itskhoki und Ribakova. Sanktionen gäben keine Garantie, „um einen Krieg zu beenden oder auch nur das Verhalten eines Landes zu verändern."
Gleichwohl hätten die Sanktionen Russland erhebliche Kosten auferlegt. „Obwohl die optimistischen Statistiken des Kremls mit großer Vorsicht zu genießen sind, räumen die meisten Ökonomen ein, dass sich die russische Wirtschaft offenbar stabilisiert hat", schreiben sie. Eine wichtige Rolle spielten dabei die kriegsbedingten Staatsausgaben von fast zehn Prozent des BIP. Doch sollte auch das Zögern „der Sanktionskoalition, den Kauf von russischem Öl und Gas vollständig einzustellen“, nicht unterschätzt werden.
Was möglich gewesen wäre, zeigt auch diese Zahl: „Trotz der geringer als erhofften Auswirkungen der Sanktionen hat Russland dennoch Exporterlöse in Höhe von fast 128 Milliarden US-Dollar verloren. Russlands Wirtschaft sei zudem deutlich schwächer gewachsen, als andere Rohstoffexporteure. Mittelfristig sehe sich Russland „düsteren Aussichten gegenüber“.
Sanktionen gegen Russland: Geschwächt oder eher geimpft?
Im Lauf der Zeit würden die Sanktionen Russland weiter belasten, „aber der Zeithorizont kann den Spielraum der Politiker überschreiten“. Dies gelte umso mehr, weil Russlansdmit starken Puffern in die Krise gegangen ist. „Im schlimmsten Fall könnten „vorsichtige, über die Zeit verteiltr Sanktionen einen kontraproduktiven Effekt erzielen, indem wir ein Land gegen die Auswirkungen von Sanktionen „impfen“.
Im Nachhinein hätte der Westen aus den Erfahrungen mit den Sanktionen gegen Russland 2014 bessere Lehren ziehen sollen, kritisieren die Ökonomen. „Rückblickend gab es keinen Grund, nach der Invasion im Februar 2022 nicht von Anfang an alle möglichen entscheidenden Maßnahmen gegen Russland zu ergreifen."
Besser als das aktuelle Stückwerk bei Sanktionen wäre ein klarer technokratischer Ansatz mit messbaren Zielen. Am besten wäre eine Kombination aus Finanzsanktionen und Exportbeschränkungen in der Lage gewesen, in Russlad einen Bank-Run und eine Finanzkrise der Wirtschaft auszulösen.
„Letztlich bleibt die Frage, ob Sanktionen eine Änderung des Verlaufs des russischen Krieges gegen die Ukraine hätten bewirken können“, schreiben die Autoren. „Hätte der Westen bereits 2022 entschiedene Sanktionen verhängt und durchgesetzt, hätten wir dann ein deutlicheres Ergebnis gesehen? Und hat der Westen, als die Abschreckung versagte und Russland 2022 in die Ukraine einmarschierte, einen Fehler begangen, indem er nicht alles, was er hat, gegen Russland eingesetzt hat?“ Dies sei fraglich, weil Putin die Gelegenheit genutzt hatte, seit 2014 die „Festung Russland“ auszubauen.
„Sanktionen sind nur ein Instrument unter vielen, die bei der Beilegung internationaler Konflikte eingesetzt werden müssen“, kommentieren die Ökonomen. „Die Wirksamkeit von Sanktionen in anderen Kontexten wie Nordkorea, Iran, Kuba und Venezuela zeigt, dass sie zwar nicht immer zu einem sofortigen Regimewechsel oder einer grundlegenden Änderung der Politik führen, aber dennoch eine entscheidende Rolle bei der Eindämmung spielen.“
Das Papier "The Economics of Sanctions. From Theory into Practice" findet ihr hier.