Die Schöffin (Teil 1) - Ich bin Luise, Laienrichterin beim Strafprozess: „Meine Fresse, ist das krass!“
Eine Gerichtsverhandlung irgendwo in Deutschland. Ich bin Luise. Ich bin Schöffin. Zum ersten Mal sitze ich in einem Strafprozess. Ein Griff ins nackte Leben – und Überleben. Ich bin ahnungslos und aufgewühlt. Das ist mein Protokoll.
Es fängt an zum Jahresende, als mir der Brief ins Haus fliegt: Die Information, dass ich als Schöffin berufen werde. „Einige Schöffen….. kommen nur zum Einsatz….. wenn der andere Schöffe ausfällt.“ So oder so ähnlich lautet der Satz, den ich echt nur kurz überflogen hatte, als ich da mal unterschrieb, vor Monaten. Also nie, dachte ich. Wollen ja alle Schöffen sein. Einige Wochen später dann plötzlich kommt sie: die Schöffenladung.
WHAT?? Hektisch wieder alles rausgesucht. Woher haben die jetzt meine Adresse. Ach ja, der Rückmeldebogen, den hatte ich ja ausgefüllt. Oh, oh. Erst versuche ich es mit Emails, dann rufe ich an: „Wie kommen Sie auf mich?“- „Sie wurden ausgewählt.“- „Aber ich arbeite Vollzeit!“- „Ihr Arbeitgeber muss sie freistellen, wir zahlen den Verdienstausfall.“- „Ich muss mich um meine Mutter kümmern, sie ist pflegebedürftig und wohnt nicht hier!“- „Wir zahlen für diesen Zeitraum den Pflegedienst und die weitere Versorgung.“ Oha - also führt irgendwie kein Weg dran vorbei. Dann ein paar Tage später immer wieder Anrufe vom Gericht. Bitte bestätigen Sie mir Ihr Erscheinen bis nächste Woche, Zitat: …. „ansonsten wird die für Ihren Wohnsitz zuständige Polizei aufgrund Ihrer Erreichbarkeit um Mithilfe gebeten.“ Schnell zurückgeschrieben und bestätigt. Und erstmal wieder verdrängt. Da war doch diese Info aus dem Merkblatt: Die Ernennung zum Schöffen ist eine Bürgerpflicht. Die wäre auch fast in der P-Ablage gelandet.
Der besagte erste Tag rückt näher. Fühle mich wie vor einem unangenehmen Zahnarzttermin oder wie früher vor einer ganz, ganz doofen Klausur. Gar nicht gut. Hab so was ja noch nie gemacht, will mir aber ums Verrecken meine Nervosität nicht anmerken lassen.
Erster Tag
Der Tag eins meines ersten Prozesses als Schöffin fängt so an: Sicherheitscheck (wie am Flughafen). Danach rein ins Gebäude, und eine Kaffeestation suchen, die Zeit drängt. Es riecht nach Möbelpolitur und Linoleum-Boden. Was sich 6.OG nennt, ist eigentlich das 5.OG – das bekomme ich ganz allein nach ein paar Mal Treppe rauf und wieder runter raus. Hetz. Muss noch in das Büro, der sogenannten „Geschäftsstelle“, IBAN-Nummer für die Entschädigung abgeben (pro Stunde weniger als Mindestlohn, ist ja Ehrenamt) und ein paar Sachen unterschreiben. Dann wieder zurück zum Verhandlungssaal und ins „Beratungszimmer“. Vor dem Saal noch eine Sicherheitsschleuse. Halte meinen Schöffenzettel hoch (eine Art Freifahrtsschein) und darf durch ins Beraterzimmer, das den Charme einer Zelle hat. Nervös. Dann kommt mein Mitschöffe, wir stellen uns vor, gehen schnell zum „Du“ über. Er hat mehrjährige Erfahrung. Das hohe Gericht besteht aus dem vorsitzenden Richter, einem beisitzenden Richter (der noch im Verkehrsstau steckt) und uns beiden. Dazu die Verfahrensbeteiligten: Angeklagte, Mitangeklagte, Zeugen.
Dann, als beide Richter anwesend sind, machen wir uns auf in den Saal. Wir betreten ihn auf einer „Empore“, alle müssen sich erheben – merkwürdiges Gefühl. Ich habe mich entschieden, so zu sitzen, dass ich ca. 50 cm Luftlinie Abstand zum Angeklagten habe. Ob das schlau ist? Ich habe schon bessere Entscheidungen getroffen. Mist. Bei der Vereidigung (rechte Hand erhoben) liest man den Text ab und unterschreibt anschließend das Vorgelesene. Ich hadere ein, zwei Minuten mit dem Satz: „So wahr mir Gott helfe.“ Lese ich aber mit vor – finde ich doch passend.
Wir Schöffen müssen noch vereidigt werden
An diesem Tag ist nur 30 Minuten Anklageverlesung – wobei ich mich frage, wie man 30 Minuten für die Verlesung der Anklage braucht. Man braucht sie! Wir bekommen den Anklagesatz nicht schriftlich, müssen also das Gehörte aus der Erinnerung mitschreiben. So komme ich wieder ans echte Schreiben. Kann meine eigene Handschrift nicht lesen. So wie immer. Außerdem müssen wir Schöffen noch vereidigt werden. Alle Staatsdiener sind in schwarzen Roben! All das erzeugt Ehrfurcht bei mir, echte Ehrfurcht und Respekt.
Vor uns zwei Männer und zwei Frauen mit ihren Verteidigern. Die angeklagten Damen haben blonde lange Haare, sind sorgfältig, beinahe aufwendig geschminkt und sehen sehr gepflegt aus. Modisch gekleidet – insgesamt nicht unsympathisch – finde ich. Die beiden angeklagten Männer: einer klein mit Baseballkappe, der andere grösser, die eng zusammenstehenden Augen fallen mir auf. Man sieht keinem an, was hier geschehen ist.
Ich beobachte sie genau, aber sie bemühen sich um unbeteiligte Gesichter. Starren vor sich hin. Auch ich werde nicht weniger intensiv abgescannt, das spüre ich deutlich. Halte den Blicken stand, bis die anderen zuerst wegblicken. Da bleibe ich stur. Wie die mich wohl einschätzen, im Gegensatz zu denen bin ich eher sportlich mit Jeans und Turnschuhen.
Junge Frau wird gegen ihren Willen zur Prostitution gezwungen
Der Angeklagte überall tätowiert und gepflegt – und ein ganz normaler Mensch, wie sie mir jeden Tag begegnen. Wenn da nicht der kleine Unterschied wäre, dass dieser Mensch hier echt krasse Scheiße gebaut hat. Ich schaue wieder hin – bis er mich zum ersten Mal mit Blicken traktiert.
Darum geht’s hier: Eine junge Frau wird von jetzt auf gleich gegen ihren Willen zur Prostitution gezwungen und kriegt, als sie nicht mehr möchte, ebenso plötzlich eins auf die Fresse. Sie wird 24/7 überwacht und dann, als man sie ein einziges Mal nicht orten kann, wird sie so ordentlich vermöbelt, dass mit Arbeiten auf‘m Kiez danach nichts mehr ist. Sie wird – vor allem im Gesicht – so verhauen, dass sie sich damit nicht mehr draußen zeigen darf. Immerhin hat sie überlebt. Sie wird gefangen gehalten in einer Wohnung. Befreit über eine Drehleiter von der Feuerwehr. Mehr kommt jetzt nicht raus. Die Vier hier vor mir sind daran beteiligt, einer ist der Chef. Die Zusammenhänge unklar.
Zweiter Tag
Schon etwas vertraut: das geschäftige Treiben auf den Fluren, die immer etwas kontrollierenden Blicke der Justizbeamten, Zurückhaltung bei möglichen Zeugen, neugierige Blicke von Jurastudenten, Skepsis, Zweifel und etwas Angst bei möglichen Besuchern, möglichen Angehörigen von Angeklagten…
Wir betreten den Saal. Alle stehen wieder auf. Der Holzboden knarrt – wie in einem Horrorfilm. Sitze wieder so nah beim Angeklagten, neben ihm sein Verteidiger. Die Holzoberfläche des Tisches klebt an mir, als ich mich mit meinen Ärmeln aufstütze. Das Opfer sollte als Zeugin kommen. Doch sie ist krank.
Dritter Tag
Heute möchte eine der weiblichen Angeklagten eine Aussage durch ihre Verteidigung verlesen lassen: Alles, was dem Opfer passiert sei, bereue sie, sie entschuldige sich. Dabei war sie der Wachhund, hat alles zugelassen und zugesehen, hören wir aus der Befragung.
Die anderen Angeklagten rutschen auf ihren Stühlen, bewegen sich unruhig, blicken immer wieder unten. Sie, die sich jetzt reuig zeigt, war selbst eine Zeit lang verletzt und hat sich lebensgefährlich geritzt. Irgendwann nach der Befreiung des Opfers ist sie selbst auch ausgestiegen. Der Angeklagte habe das Opfer immer wieder zum Sex (ungeschützt) mit sich ausgewählt – ausgewählt? Mit einem Antrag der Verteidigung auf Akteneinsicht zu Aussagen des Opfers endet dieser Tag.
Wie sieht sie aus, die junge Frau, das Opfer?
Lasse meine Gedanken durch meine Synapsen jagen, ihren Platz finden. Meine Fresse – ist das krass! Mir geht sauviel durch den Kopf. Muss ich sortieren. Kommt man da wirklich so rasend schnell rein in die Kacke und dann nicht mehr wieder raus? Wie sieht sie aus, die junge Frau, das Opfer? Was ist sie für eine Frau? Was ist hier wirklich gelaufen? Nicht nur der Fall beschäftigt mich mehr als jeder TV-Thriller. Ich spüre auch Ehrfurcht vor den Richtern, vor dem Saal, ja irgendwie vor dem System. Ich gewinne Respekt vor dem, was die, deren Beruf es ist, zu vereidigen, anzuklagen und zu urteilen alles draufhaben müssen. Mein Amt als Laienrichterin ist alles andere als banal, sondern meine Sicht ist hier mitentscheidend über menschliche Schicksale. Über die Strafe für den brutalen Umgang mit der jungen Frau, die ich aktuell noch nicht kenne.
Schon jetzt hat sich meine Sicht geändert: Mein Alltag ist ein ganz anderes Normal als das Normal dieser fünf Leute, der vier Angeklagten und des Opfers. Was ist da wirklich abgegangen? Wir haben zum Glück dieses Justizsystem. Und ein umfangreiches Strafgesetzbuch. Was es taugt, werde ich noch erfahren.