Schüler schmoren bei 46 Grad in der Klasse - Zu Besuch in Deutschlands Glutofen-Schule: „Sind nicht die Deppen der Nation“

Das Genoveva-Gymnasium in Köln-Mülheim ist bislang die einzige Schule in Köln, die den Deutschen Schulpreis gewonnen hat.<span class="copyright">Frank Gerstenberg</span>
Das Genoveva-Gymnasium in Köln-Mülheim ist bislang die einzige Schule in Köln, die den Deutschen Schulpreis gewonnen hat.Frank Gerstenberg

In Niedersachsen schwitzen sie schon wieder, in Nordrhein-Westfalen ab dieser Woche: Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer. Der Hitzeschutz in Schulen wird seit Jahren ignoriert, sagen Experten - und das in Zeiten des Klimawandels. Die ersten Schulen in Deutschland gehen nun dagegen auf die Barrikaden.

Eine Attraktion des Kölner Schokoladenmuseums ist das Tropenhaus. Bei Temperaturen zwischen 25 und 28 Grad gedeihen im Alten Rheinhafen Kakaobäume, Papaya oder Bananen prächtig – viel Pflege und Zuwendung vorausgesetzt. Susanne Gehlen, Schulleiterin des Genoveva-Gymnasiums im Kölner Stadtteil Mülheim, kann über beides nur lachen: „28 Grad? Das sind angenehme Temperaturen für uns.“ Und was die „Pflege und Zuwendung“ betrifft: „Die Stadt sieht uns nur als lästige Aufgabe.“

Es ist Dienstag, der 13. August 2024. Der Deutsche Wetterdienst vermeldet den heißesten Tag des Jahres: Bad Neuenahr-Ahrweiler ist mit 36,5 Grad Spitzenreiter. In Köln ist es „nur“ 35 Grad warm. Würden die Innentemperaturen gemessen, würde das Genoveva-Gymnasium jedoch sämtliche Rekorde sprengen: Hier ist es in den Klassen teilweise 46 Grad warm.

„Dann könnten wir die Schule ab April schließen“

Noch arbeitet bis auf Schulleitung und Sekretariat niemand, die Schule beginnt erst wieder am Mittwoch dieser Woche. Wäre an diesem Dienstag bereits Start in das neue Schuljahr gewesen, hätten die meisten der 728 Schülerinnen und Schüler gleich am ersten Tag hitzefrei bekommen. Allerdings, gibt Schulleiterin Gehlen zu, gehe sie mit dieser Entscheidung sehr sparsam um: „Wenn wir uns an die offiziellen Vorgaben von 27 Grad hielten, könnten wir die Schule ab April schließen.“

Der Chemieraum liegt im obersten Stock. Die Fenster sind nach Osten ausgerichtet, dort, wo die Sonne aufgeht. Jalousien wurden hier nicht eingebaut, auch keine Rollläden, noch nicht einmal Vorhänge schützen gegen die Sonne, die bis 11 Uhr morgens erbarmungslos in den Raum knallt. „Im Winter ist das sehr schlecht, dann scheint die Sonne auf die digitale Tafel. Im Sommer ist der Raum in kurzer Zeit aufgeheizt. Das muss unbedingt nachgerüstet werden. Seit Jahren bemängeln wir das, es passiert jedoch nichts“, sagt Gehlen.

Hitzeschlacht unter den Dächern von Köln - Schulleiterin Susanne Gehlen will das Hitzechaos am Genoveva-Gymnasium nicht länger hinnehmen.<span class="copyright">Frank Gerstenberg</span>
Hitzeschlacht unter den Dächern von Köln - Schulleiterin Susanne Gehlen will das Hitzechaos am Genoveva-Gymnasium nicht länger hinnehmen.Frank Gerstenberg

Architekturpreise für Hitze-Bau

„Seit Jahren“ bedeutet in diesem Fall: Seit 2019. Das Genoveva-Gymnasium ist kein heruntergewirtschafteter, vernachlässigter Lernbunker, sondern ein Vorzeigeobjekt. Die Schule, gegründet im Jahr 1830, bekam vor fünf Jahren einen 13 Millionen Euro teuren, spektakulären Ergänzungsbau. Im Inneren des weitverzweigten Gebäudes steht ein Atrium aus Beton und Glas. Mit gläsernen Klassen- und Lehrerzimmern. Mit „schwebenden“ Differenzierungsräumen, die wie eine Balustrade in den überdachten Innenhof ragen.

Bei Menschen, die Architekturpreise verleihen, kommt so was gut an. Nordrhein-Westfalens Bauministerin Ina Scharrenbach (CDU) hat den Erweiterungsbau vor vier Jahren mit dem Architekturpreis für „Vorbildliche Bauten NRW 2020“ ausgezeichnet. Es war das Jahr, als Susanne Gehlen die Schulleitung übernahm - und schnell bemerkte: Schön mag das alles sein, nur praktisch ist es nicht. „Ich liebe diese Kombination aus Alt und Neu“, sagt sie. „Das Problem ist nur, dass man irgendwann keinen Blick mehr hat für die architektonische Schönheit, weil die technischen Mängel einen fertigmachen.“

Das „Death Valley“ liegt im zweiten Stock

Besonders dann nicht, wenn man auf der Reling kurz unter dem Dach steht. Denn der Chemieraum oder die anderen Klassenzimmer, in denen zeitweise bis zu 46 Grad herrschen, sind noch lange nicht das „Death Valley“ dieser Schule. Hier oben, im zweiten Stock, ließen sich an diesem Dienstag mit etwas Geduld auf dem silbernen Stahl-Geländer sicher auch Spiegeleier braten. Das große weiße Milchglas-Dach bietet eine riesige Angriffsfläche für die Sonne.

Schon nach kürzester Zeit bildet sich der Schweiß auf der Stirn, auch eine gewisse Atemnot lässt sich nicht leugnen. Gehlen bemerkt die Hitze nach eigener Aussage gar nicht mehr: „Wahrscheinlich habe ich mich schon einem gewissen Fatalismus hingegeben.“ Was ist, wenn das Atrium gefüllt ist mit Schülerinnen und Schülern? Man möchte es sich nicht ausmalen, zumal der Schall nicht gedämmt ist, und die beiden Oberlichter-Reihen nicht zu öffnen sind.

Unterricht im Freien? „Nicht so gut, aber in der Klasse ist es schlimmer“

Viele Medien berichten seit Jahren über die unhaltbaren Zustände und die unzumutbaren Arbeitsbedingungen am Genoveva-Gymnasium in Köln-Mülheim. Ein WDR-Beitrag zeigt, wie der Physik-Lehrer Thomas Loske mit den Kindern einer fünften Klasse vor der Hitze im Physik-Raum an ein schattiges Plätzchen auf dem Schulhof flüchtet und sie dort in die Geheimnisse der „Schallwellen von Tönen“ einweihen möchte.

Für beide Parteien suboptimal: Der Lehrer kann nur wenig anschaulich zeigen, Experimente seien nur eingeschränkt möglich, die Kinder sitzen mit gebeugten Rücken auf den Steinen. „Wie gut kann man sich konzentrieren, wenn man Unterricht draußen hat?“, will der WDR-Reporter von einem Schüler wissen. „Nicht so gut, aber in der Klasse ist es noch schlimmer“, antwortet der.

„Ein Riesen-Thema, das seit Jahren ignoriert wird“

„Das darf nicht sein. Was hier passiert, ist eine Unverschämtheit“, sagt Oliver Hintzen. Der Leiter der Johann-Belzer-Schule im baden-württembergischen Weisenbach ist auch Arbeitsschutz-Experte und Notfallsanitäter. Für den 48-Jährigen ist die Situation an dem Kölner Gymnasium ein drastischer Beweis für seine These: „Hitze an Schulen ist ein Riesen-Thema, das seit Jahrzehnten geflissentlich ignoriert wird.“

46 Grad in Klassen- und Lehrerzimmern, kaputte Belüftungen, fehlende Rollläden - all das sei “menschenunwürdig", sagt Hintzen, und „weder mit dem Arbeitsschutz noch mit der Wertschätzung der Menschen zu vereinbaren“. Tatsächlich ist das Arbeitsschutzgesetz bundesweit eindeutig. „26 Grad sollen in Unterrichtsräumen nicht überschritten werden. Deshalb ist auch eine Abschirmung der Fenster gegenüber übermäßiger Sonneneinstrahlung vorzusehen“, schreibt die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) vor, die dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) untersteht. Jugendliche sind besonders schutzbedürftig.

„Wir schützen uns gar nicht. Wir halten viel aus“

Die Jalousien und Rolläden auch nach dem herunterlassen, um die Klassen nachts auszukühlen? Im „Geno“, wie die Schule in Köln genannt wird, unmöglich. „Aufgrund der billigen Qualität der Rollos würden Wind und Wetter sie zerstören“, sagt Gehlen. In den meisten Klassen des Altbaus fehlen sie ohnehin. Und die Belüftung ist chronisch defekt. Die Folge: „Wir schwitzen hier seit vier Jahren“, sagt Susanne Gehlen. „Es wurde Technik verbaut, die die Stadt nicht in den Griff bekommt.“ Die Rollos seien so „pisselig“, dass sie verbogen seien, wenn ein „Softball dagegen fliegt“.

Entweder gibt es im Genoveva-Gymnasium Jalousien oder die Fenster lassen sich öffnen - aber selten beides.<span class="copyright">Frank Gerstenberg</span>
Entweder gibt es im Genoveva-Gymnasium Jalousien oder die Fenster lassen sich öffnen - aber selten beides.Frank Gerstenberg

 

Wie sich die 728 Schülerinnen und Schüler und die 76 Lehrerinnen und Lehrer schützen gegen die Hitze? Abgesehen von der Flucht auf den Schulhof, der auch nicht gerade ein Beispiel für nachhaltige Entsiegelung und Verschattung bietet? „Wir schützen uns gar nicht. Wir halten viel aus“, sagt Gehlen.

Zu viel, denn das Arbeiten ist in der Hoch-Hitze-Zeit in dem Gymnasium verboten, die Arbeitsschutzregelungen lassen hier keinen Ermessensspielraum: Bei über 35 Grad ist ein Raum danach „nicht als Arbeitsraum geeignet“ – und das gilt besonders für Schulen. Denn, so das BAuA gegenüber FOCUS online Earth: „Ab +35 Grad Celsius wären Maßnahmen wie bei Hitzearbeit nötig, was aber für Schulen aus unserer Sicht nicht anwendbar ist.“

Zwischen Lernerfolg und Gesundheitsschutz

Eigentlich müssten die Schulen in diesen Fällen also geschlossen bleiben. Die wenigsten halten sich daran: Sie balancieren zwischen Lernerfolg und Gesundheitsschutz: „Wann sollen wir denn lehren und lernen?“, fragt Gehlen. Denn da sei auch noch der politische Druck: „Die Bezirksregierung als Schulaufsicht betont bei Unterrichtsausfall wegen Hitze zu Recht, dass die Laufbahnen der Kinder gesichert sein müssen und die Schule dafür verantwortlich ist", sagt Gehlen. „Hier beißt sich die Katze in den Schwanz.“

Was die Hitzebelastung angeht, ist das Kölner Gymnasium längst kein Einzelfall. Viele Schulen im ganzen Land haben kein schlüssiges Konzept, wie sie mit Hitze umgehen sollen - obwohl Klimawandel und Erderwärmung das Problem nur noch dringender machen. Schülerinnen und Schüler des Dormagener Leibniz-Gymnasium haben zwar im Frühjahr den Bundespreis „Blauer Kompass“ für ein vorbildliches Klimaanpassungskonzept gewonnen. Im Alltag schlagen sich die Abiturienten jedoch mit unzumutbaren Bedingungen herum: „Wenn man in einer Klasse Unterricht hatte, die auf der Sonnenseite liegt, hatte man Pech. Die elektrischen Jalousien waren teilweise kaputt“, sagt der 18-jährige Floris, der im Juni sein Abitur gemacht hat. „Arbeiten war in der prallen Sonne schwierig. Wir haben oft die Tische umgestellt, um der Sonne auszuweichen.“

Der Direktor des Gymnasiums, Andreas Glahn, kämpft seit Jahren für einen besseren Hitzeschutz an seiner Schule. Erst diesen Sommer habe die Stadt neue Sonnenschutzfolien an einigen Fenstern anbringen lassen und mehrere defekte Außenjalousien repariert, erzählt er. Das reiche aber nicht aus, es seien noch viele “weitere bauliche Maßnahmen" nötig, so der Direktor. Immerhin habe die Stadt nun zugesagt, „in den nächsten Jahren“ die Fenster und Jalousien komplett zu reparieren.

Klassenzimmer lüften um zwei Uhr morgens

Im Droste-Hülshoff-Gymnasium in Freiburg-Herdern hatten die Schülerinnen und Schüler sogar eine Petition gestartet . „Seit Jahren leiden wir in unserem Schulgebäude unter unerträglicher Hitze in den Sommermonaten, trotz einer Generalsanierung von 2003 bis 2009", hieß es in der Petition von diesem März, die an die Stadt Freiburg gerichtet war. „Bei dieser Sanierung wurden keine Belüftung und kein außenliegender Sonnenschutz eingebaut. Im Sommer herrschen in unseren Klassenzimmern regelmäßig Temperaturen über 30 Grad Celsius und Luftfeuchtigkeit über 70 Prozent.“

Die Schülerinnen und Schüler klagen über Kopfschmerzen, Übelkeit und Konzentrationsstörungen. Für die Abiturienten sei es „besonders dramatisch, da sie sogar abiturrelevante Klausuren in besagter Hitze schreiben“. Ein Physik-Leistungskurs bei 30 Grad Celsius im Schatten sei „kein adäquates Lernumfeld. Mit Hilfe von Gutachtern seien nun erste Sofort-Maßnahmen festgelegt worden, teilt das Freiburger Presseamt auf Anfrage von FOCUS online Earth mit: So werden etwa schon um zwei Uhr morgens die Klassenräume und die zentrale Halle geöffnet, zur Abkühlung.

Das Lüftungs-Problem

Die Belüftung ist oft das zentrale Problem. Denn über eine Klimaanlage verfügen nur die wenigsten Schulen. “Wir haben die Stadt beauftragt, die Klimatisierung auf den Prüfstand zu stellen", sagt Gehlen, die Rektorin des Kölner Hitze-Hauses. „Wir betteln seit Jahren darum, dass wir eine vernünftige Belüftung bekommen. Dazu muss ein Luftverteiler eingebaut werden, den es weder in den Lehrerzimmern noch in den Klassen oder irgendwo sonst im Gebäude gibt. Es kommt einem die Wut hoch.“

Einmal, erzählt Gehlen, habe sie sich direkt an die Leitung des Gebäudemanagements gewendet und eine Fassadenbegrünung vorgeschlagen, zur Abkühlung. „Die Antwort war: Sie haben den Dienstweg nicht eingehalten“, erzählt die Rektorin. „Wir fühlen uns von der Stadt hängengelassen.“ Ein ernsthaftes Interesse an Kindern und Lehrkräften sei nicht vorhanden: „Wir sind nicht die Deppen der Nation.“ Alle, die für die Genoveva-Schule zuständig sind, sollten „mit uns gemeinsam Lösungen finden und uns nicht als nervende Meckerer empfinden.“

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Stadt Köln: „Alle technischen Möglichkeiten ausgeschöpft“

Die Stadt Köln findet es „bedauerlich, dass in der Schulgemeinschaft mitunter der Eindruck entsteht, dass dies Ausdruck fehlender Wertschätzung oder mangelndem Willen zur Kooperation sei. Tatsächlich ist die intensive Bearbeitung der Komplexität der baulichen Situation geschuldet“, schreibt die Stadt Köln auf Anfrage von FOCUS online Earth.

Die Stadt räumt ein, dass es „seit Errichtung ein Problem mit der geplanten Nachtabkühlung“ gebe. „Grundsätzlich ist das System mit Nachtabkühlung vorgesehen, das heißt, dass nachts kühle Luft nachströmen sollte. Leider funktioniert das Zusammenspiel zwischen Gebäudeleittechnik und Lüftungsanlage nicht so wie es sollte, und es wurden bis heute alle technischen Möglichkeiten, die Gebäudeautomation zu optimieren ausgeschöpft“, schreibt die Pressesprecherin.

Die Gebäudewirtschaft habe nun ein Ingenieur-Büro „mit der Prüfung von technischen Möglichkeiten für die Kühlung beauftragt“. Das Ergebnis stehe jedoch noch aus. Und was den Chemieraum betrifft: „An der Ostseite eines Gebäudes ist kein Sonnenschutz vorgesehen, da hier die Sonne aufgeht.“ Für Gehlen nicht nachvollziehbar: „Unterricht läuft ab 8 Uhr.“ Für die Schülerinnen und Schüler am „Geno“ heißt es somit zunächst: weiter im Schwitzkasten sitzen.

Der Traum von der grünen Wand und dem Bananenbaum im Atrium

Das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (BMWSB) hätte vielleicht eine Lösung: Schulen können beim Klimaschutz und bei der Klimaanpassung gefördert werden. Denn „die Hitzevorsorge soll weiter gestärkt“ werden, sagt das BMWSB auf Anfrage von FOCUS online Earth. Konkret empfiehlt das BMWSB gar „Dach-, Fassaden- und Liegenschaftsbegrünungen“. Der Traum von Susanne Gehlen: „Bis zu meiner Rente will ich hier im Atrium eine grüne Wand stehen haben.“

Es bleibt also noch Hoffnung. Und möglicherweise könnte sogar ein Vorschlag ihres Vorgängers realisiert werden: einen Bananenbaum im Atrium aufzustellen. Die Temperaturen eignen sich dafür ja offenbar bestens. Nur mit dem Schokoladenbrunnen sollte man vielleicht vorsichtig sein. Aber der steht ja auch im Schokoladenmuseum nicht im Tropenhaus.