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Schalkes Skandalspiel

Schalkes Skandalspiel

Sie sind auf Schalke so populär wie das Steigerlied und die Elf, die den legendären „Kreisel“ erfand: die „Eurofighter“ von 1997, die den bis heute letzten Europapokal eines deutschen Vereins neben der Champions League gewannen.

Dass es vor bald 25 Jahren mit dem Uefa-Pokal, dem Vorgänger der Europa-League, überhaupt klappte, liegt wesentlich an einem Spiel bei Hansa Rostock, wo die Königsblauen am Samstagabend erstmals zu einem Zweitligaspiel aufkreuzen. (NEWS: Alle aktuellen Infos zur 2. Bundesliga)

Im Frühjahr 1996 greift Aufsteiger Hansa Rostock nach den Sternen. Das Team von Trainer Frank Pagelsdorf ist die Überraschungsmannschaft einer Saison, in der weitere Dinos sterben müssen. Drei Spieltage vor Schluss zeichnen sich die Abstiege der Gründungsmitglieder Eintracht Frankfurt und 1. FC Kaiserslautern schon ab, auch der 1. FC Köln bangt noch.

Werder Bremen, der HSV und der VfB Stuttgart krebsen im Mittelfeld herum. Davon profitieren zwei, die vor der Saison keiner auf der Rechnung hat, als es um die internationalen Plätze gegangen ist: Hansa Rostock und Schalke 04. Beide nehmen vor dem Treffen am 32. Spieltag Uefa-Cup-Ränge ein, Hansa liegt noch zwei Punkte vor den Gästen, die an jenem Mittwochabend des 7. Mai 1996 ins Ostseestadion kommen.

Schalke muss gewinnen

21.100 Zuschauer füllen die Ränge, knisternde Spannung liegt in der Luft. Mit einem Sieg kann Hansa schon fast alles klar machen bei dann fünf Punkten Vorsprung, auch wenn Trainer Pagelsdorf bremst: „Wir müssen nicht unbedingt gewinnen und deshalb können wir das Spiel auch gelassen angehen.“

Jörg Bergers Schalker, seit 1991 wieder erstklassig, aber seit 1977 nicht mehr international vertreten, verspüren da mehr Druck. Torwart Jens Lehmann sorgt dafür dass er hoch bleibt und ruft während der Partie von hinten immer wieder rein: „Wir wollen gewinnen, wir wollen die drei Punkte.“

Doch danach sieht es lange nicht aus. Schon nach sieben Minuten trifft Hansa-Verteidiger René Schneider, der es zwei Wochen später in den Europameisterkader schaffen wird, das 1:0. Sein Keeper Perry Bräutigam sorgt dafür, dass es sehr lange bei diesem Spielstand bleibt. Immer wütender greifen die Schalker an, doch ihre Stürmer Martin Max und Youri Mulder verzweifeln am dreimaligen Nationaltorwart der untergegangenen DDR.

Dann kommt die 76. Minute. Olaf Thon flankt von links, Verteidiger Timo Lange unterschätzt die Flugbahn und Mike Büskens hechtet in sie hinein. Per Flugkopfball egalisiert der spätere Schalker Trainer den Spielstand. Noch immer ist es ein gutes Ergebnis für die Rostocker, die im sechsten Spiel in Folge die gleiche Aufstellung aufbieten können. Auch weil der heutige Kölner Trainer Steffen Baumgart nach längerer Verletzung auf seinen Startelfeinsatz verzichtet, er kommt mit Beginn der zweiten Hälfte, die keiner vergessen wird.

Skandal im Ostseestadion

Denn sie endet im Skandal. In der 89. Minute will Hansa-Verteidiger Hilmar Weilandt im eigenen Strafraum klären, was er aber mit der Hand tut. Natürlich nicht freiwillig, er behauptet von Max geschubst worden zu sein und „da habe ich automatisch die Hände hochgerissen.“

Die TV-Bilder werden das nicht zweifelsfrei bestätigen, Weilandts Handspiel bleibt ein Rätsel. So wird der Münchner Schiedsrichter Hans Scheuerer, „der sein letztes Bundesligaspiel leitete und einen unglücklicheren Abschied nicht hätte haben können“ (Schweriner Volkszeitung) im Nachhinein entlastet. In jenem Moment hilft ihm das nichts. Nach seinem Elfmeterpfiff bricht die Hölle los. Einen Elfmeter gegen die Heimmannschaft in letzter Minute eines existenziell wichtigen Spiels zu pfeifen, davon träumt kein Schiedsrichter. Schon gar nicht zum Karriereende. Hansa-Spieler umringen ihn, am heftigsten bedrängt ihn allerdings der Mannschaftsarzt Frank Bartel, der es später in den Sonderbericht schafft, den Scheuerer dem DFB sendet.

Es hilft nichts, es gibt Elfmeter. Ingo Anderbrügge traut sich was. Obwohl er die letzten beiden Elfmeter verschossen hat, schnappt sich der Blonde mit dem linken Hammer wieder den Ball. Bräutigam kennt seine Ecke, ahnt aber dass Anderbrügge wegen seiner Fehlschüsse nun auch wechseln könnte, wie er später erzählt. Doch er traut seiner Ahnung nicht genug und springt in die gewohnte Anderbrügge-Ecke. Irrtum, der Schalker wechselt tatsächlich und markiert das 1:2. Danach ist sofort Schluss und Scheuerer muss sich in Sicherheit bringen. Dafür sorgen Security-Männer, die außer einigen aufgebrachten Fans auch Stefan Beinlich, René Schneider und Stefan Studer davon abhalten müssen, Scheuerer näher als von diesem erwünscht zu kommen.

Gegen körperliche Angriffe kann man ihn schützen, die verbalen muss sich der Mann an der Pfeife wehrlos gefallen lassen.

Pagelsdorf: „Vielleicht will man den Osten im deutschen Fußball nicht“

Die Hansa-Verantwortlichen fahren die ganz schweren Geschütze auf und schüren den innerdeutschen Ost-West-Konflikt neu an. Pagelsdorf, obwohl ein „Wessi“, doziert: „Es gibt in Deutschland Mannschaften mit einer gewissen Lobby. Wir gehören sicher nicht dazu. Vielleicht will man den Osten im deutschen Fußball nicht.“ In der Saison 1995/96, der fünften nach der Vereinigung der Fußballverbände von BRD und DDR, ist Hansa der einzige Ostklub in der Bundesliga.

Noch härter fällt das Urteil des Präsidenten Peter-Michael Diestel aus, das ihm die Schlagzeile der Schweriner Volkszeitung einbringt: „Präsident Diestel fühlte sich in alte Zeiten versetzt.“ Was sagt er? „Das erinnert mich schon sehr an den BFC Dynamo. Ich hätte nicht gedacht, dass es so etwas im Fußball noch gibt“, zieht der Präsident eine Parallele zu diversen skandalösen, weil offenkundigen, Bevorteilungen für den Stasi-Klub.

Erneut liegt der Schiebungsverdacht auf dem Tisch. Etwas gelassener kommentiert Bräutigam die Vorkommnisse: „Wir haben versäumt, ein zweites Tor zu machen. Unser Druck war nicht groß genug, so dass die Schalker immer bedrohlicher angegriffen haben.“ Dass der Gästesieg indes verdient war, schreibt nicht mal die Revierpresse. „Allerdings war der Erfolg der Blau-Weißen mehr als schmeichelhaft, kam erst in der Schlussminute durch einen zumindest für die Gastgeber umstrittenen Elfmeter zustande“, heißt es in der WAZ.

Thon: Ein Sieg „wie eine Meisterschaft“

Den Schalkern ist das so was von egal, in der Kabine singen sie „Olé, olé“ und Kapitän Thon setzt den Sieg mit einem Titelgewinn gleich: „Für uns ist das wie eine Meisterschaft – wenn wir‘s wirklich schaffen sollten.“ Schon drei Tage später schaffen sie es und lösen die Tickets für ihre aufregende Reise durch Europa, die mit dem Uefa-Pokalsieg von Mailand endet.

Und Hansa? Verliert auch seine beiden letzten Spiele jeweils knapp, wird noch überholt und hat bis heute nicht mehr international gespielt. Hätte es den Elfmeter nicht gegeben, wären bei gleichen Ergebnissen übrigens beide im Uefa-Pokal gelandet. So schafft es noch der HSV, aber auch der spielt heute in ihrer Liga. Ein Trost?