"Sie schießen auf den Straßen?": In Mexiko gerät ProSieben-Reporter plötzlich in Lebensgefahr
Jenke von Wilmsdorff interviewt Auftragskiller, Waffenhändler und Drogenköche an einem der gefährlichsten Orte weltweit für Journalisten. Das bekommt der ProSieben-Reporter auf seiner Mexiko-Reise urplötzlich am eigenen Leib zu spüren.
Wer arglos nach Mexiko reist, muss nur eine Tageszeitung aufschlagen, um zu wissen, was in dem mittelamerikanischen Land die Stunde geschlagen hat. Jenke von Wilmsdorff, der als ProSieben-Crime-Reporter schon viel Elend gesehen hat, wendet angesichts der abgebildeten Leichen die Augen ab. "Was ist los in diesem Land?"
Die deutsche Journalistin und Thinktank-Gründerin Sonja Peteranderl, mit der er sich im Café verabredet hat, ist bei der Zeitungslektüre schon deutlich abgebrühter: "Du siehst offene Wunden, du siehst Leute, die durchgeschnitten wurden. Das Schlimme ist, dass es der Alltag ist."
"Jenke. Crime. Die Macht der Kartelle", heißt die Reportage, die ProSieben am Dienstagabend ausgestrahlt hat und die gewissermaßen als Realitäts-Check für Fans der Netflix-Serie "Narcos" dient. Fans haben aber auch die echten Kriminellen. "Die Menschen in Culiacán vergöttern die Narcos", erklärt von Wilmsdorff sein Tour Guide, der mexikanische Journalist Miguel Ángel Vega: "Kleine Kinder wollen nicht der nächste Lionel Messi sein. Sie wollen der nächste El Chapo sein."
"Die Gewalt ist wie ein Monster, das im Untergrund schläft"
In Culiacán gibt es tatsächlich einen Narcos-Fanshop. Die Metropole gilt nicht von ungefähr als eine der gefährlichsten Städte Mexikos. Das Sinaloa-Kartell hat hier alles unter Kontrolle. "Lass dich von der Ruhe nicht täuschen", warnt der mexikanische Journalist den deutschen, als sie sich auf einer idyllischen Bank niederlassen. "Die Gewalt ist da, sie ist wie ein Monster, das im Untergrund schläft. Man weiß nie, wann es auftaucht."
Kurz später begreift Jenke von Wilmsdorff, was der Einheimische gemeint hat. Mit einem Mal ist die eben noch belebte Innenstadt wie ausgestorben. Miguel Ángel Vega weiß warum: "Heute ist etwas passiert", berichtet er von einer Reihe von Entführungen. "Es geht das Gerücht um, dass die Kartelle kämpfen werden." Wilmsdorff hakt nach: "Sie schießen auf den Straßen?" Die Antwort lässt nichts an Klarheit vermissen: "Das kann überall passieren. Wir sollten jetzt gehen."
Den Rest des Schreckens sieht sich Jenke von Wilmsdorff auf seinem Hotelzimmer im TV an. Und am nächsten Morgen in der Zeitung. Journalist Vega, einer der letzten seines gefährdeten Berufsstands in Mexiko, fasst die Nachrichtenlage zusammen: "Dutzende Menschen wurden entführt, darunter auch Kinder. Die Familien drehen durch, weil sie nicht wissen, was ihren Liebsten passiert ist."
Jedes Jahr verschwinden in Mexiko 20.000 Menschen
Jeden Tag werden in Mexiko etwa 100 Morde von offiziellen Stellen registriert. Pro Jahr "verschwinden" 20.000 Menschen. Seit 2000 wurden mehr als 150 Journalisten ermordet. Ein sehr viel weniger einladendes Reiseziel hätte sich Jenke von Wilmsdorff nicht aussuchen können. Allerdings gibt es hier Dinge zu sehen wie vermutlich nirgendwo sonst auf der Welt. Zum Beispiel einen Narcos-Friedhof, groß wie ein Stadtviertel. Die Mausoleen für die verstorbenen Drogen-Kriminellen haben Klimaanlage, Balkon, Badezimmer, wie Miguel Ángel Vega den staunenden Deutschen informiert. Als Kartell-Mitglied habe man "letztlich nur die Wahl zwischen Grab und Gefängnis".
Das Gefühl, keine wirkliche Wahl zu haben, vermitteln dem ProSieben-Reporter auch die Drogenköche aus einem geheimen Fentanyl-Labor, in das man ihn bringt. "Wir kochen die Zutaten wie jede andere Suppe", sagt einer der Männer, die hier arbeiten. Allerdings betont er auch: "Was wir einatmen, ist fast schlimmer als das, was der Süchtige einatmet. Die Haare fallen mit der Zeit aus, die Zähne werden schlechter."
Wilmsdorff, das kann er gut, hält einen moralischen Impulsvortrag: "Zwei Milligramm töten einen Menschen! Es gibt Hunderttausende Tote in den USA jedes Jahr! Was geht euch durch den Kopf, wenn ihr das herstellt?" Die Antwort schockiert ihn fast noch mehr: "Daran denken wir, glauben Sie mir!", sagt der Fentanyl-Koch. "Ich muss produzieren, sonst werden sie meiner Familie und mir etwas antun." Seine Kinder, so sagt der Mann, wissen nicht, womit er sein Geld verdiene. "Ich will ihnen mit dem hier kein Vorbild sein. Sie sollen normale, gute Menschen werden."
Sicario berichtet: "Wir schlitzen sie mit Messern auf. Etwas rustikal, damit sie reden."
Ein normaler, guter Mensch zu werden, das ist an vielen Orten Mexikos offenbar kein Leichtes. Eine Waffendealerin, deren Sohn im Gefängnis sitzt, entgegnet von Wilmsdorff im Interview: "Natürlich mache ich mir Sorgen um meine Kinder, aber hier wählt jeder sein eigenes Schicksal. Wir werden nicht gezwungen. Aber alle wollen schnelles und leichtes Geld."
Außerhalb der Stadt, im Nirgendwo, wo es nicht mal Handy-Empfang gibt, trifft von Wilmsdorff jene mystisch verklärten Männer, die im Zwiegespräch allzu menschlich und entmenschlicht zugleich wirken: eine Gruppe Sicarios, Auftragsmörder fürs Kartell. "Die Not zwingt uns dazu", sagt der Anführer der bewaffneten Einheit. "Und wenn man einmal drin ist, kommt man nicht mehr raus."
Jenke will es genauer wissen: "Wie ist das, wenn Ihr auf ganze Famlien trefft, die Kinder, die Großeltern?" Der Anführer räumt ein: "Das ist ein bisschen schwierig für uns. Wenn es so weit ist, dass es nicht anders geht, sterben alle. Befehl ist Befehl." Der weitere Vortrag eignet sich nicht für Zuhörer mit schwachem Magen: "Wir schlitzen sie mit Messern auf. Etwas rustikal, damit sie reden. Wenn sie uns die Information geben, kriegen sie den Gnadenschuss."
"So, wie wir andere behandeln, werden sie auch uns behandeln"
"Wir fühlen uns schlecht", sagt der Sicario, der sein Gesicht mit Schal, Cappie und Sonnenbrille verhüllt hat. "Weil so, wie wir andere behandeln, so werden sie auch uns behandeln." Ob er das Leben überhaupt noch genießen könne, will von Wilmsdorff wissen. "Wir genießen gar nichts mehr", erwidert der Killer. Zu gerne würde er einfach verschwinden, mit seiner Familie in Frieden leben. "Aber wir können nirgendwo hingehen, weil sie uns aufspüren würden."
Gegen Ende seiner Reportage schließt sich Jenke von Wilmsdorff einer Gruppe Frauen an, die sich das Aufspüren zur Lebensaufgabe gemacht haben. Es sind Mütter und Ehefrauen, die gemeinsam nach den Leichen ihrer verschwundenen Kinder und Männer suchen, weil die Polizei genau das unterlässt. 580 Leichen haben die Frauen bisher gefunden, dazu mehr als 18.000 "verbrannte Fragmente", wie sie es nennen.
Es klingt unfassbar, ist laut den Filmemachern aber durch die Recherchen von Investigativjournalisten gedeckt: "Die meisten Verschwundenen sind von der Polizei und der Regierung verschleppt worden", behauptet eine der Mütter. "Deshalb haben wir mehr Angst vor der Regierung als vor den Kartellen." Warum staatliche Stellen Menschen verschwinden lassen? "Das ist einfacher, als sie zu töten, weil das Töten die Mordrate erhöht. Wenn sie verschwinden, gibt es keine Leiche, kein Verbrechen, es gibt nichts zu verfolgen."
Kriminalkommissar warnt vor zunehmender Gewalt in Deutschland
Gerne hätte Jenke von Wilmsdorff auch in Deutschland gedreht, wo die Schmuggelware unter anderem am Containerhafen von Hamburg ankommt. Hier leistet man sich gerade mal eine Röntgenanlage zum Scan von Tausenden Containern pro Tag. Eine Drehgenehmigung bekommt das ProSieben-Team nicht.
"Wir stellen wahnsinnig viel sicher, es hat aber keinen Einfluss auf den Markt", sagt stattdessen Kriminalkommissar Jan Reinecke vor der Hamburger Hafenkulisse konsterniert. Kokain sei längst angekommen in der Mitte der Gesellschaft. Jedem, der sich ein Tütchen per Drogentaxi bringen lässt, müsse klar sein: "Daran klebt sehr viel Blut."
Die Politik, moniert Reinecke, kümmere sich auf der Jagd nach Wählerstimmen nur um "sichtbare" Kriminalität wie Raub und Mord, nicht aber die "unsichtbare" wie Drogenhandel. Aber das kann sich rächen. Der Experte warnt vor zunehmender Gewalt auch auf deutschen Straßen.