Schlachthof-Zoff bei "Hart aber fair"

"Die Sklaven sind die Opfer, die Sklaventreiber sind die Täter": Ein Pfarrer fand zum Corona-Skandal um das Schlachtunternehmen Tönnies bei "Hart aber fair" deutliche Worte, die nicht unwidersprochen blieben. Karl Lauterbach warnte indes vor neuen Pandemie-Herden im ganzen Land.

Über 1.500 infizierte Fleischarbeiter gibt es inzwischen beim Schlachtunternehmer Tönnies. Über den aktuell größten Corona-Ausbruch in Europa berichtet die Welt. Und was sagt der zuständige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet? Es gebe "keinen signifikanten Übersprung" in die allgemeine Bevölkerung. Der betroffene Kreis Gütersloh bleibt von einem regionalen Lockdown vorerst verschont.

Dreimal ließ Frank Plasberg die Aussage des Ministerpräsidenten einspielen. Dreimal war der warnende Subtext nicht zu überhören. Und falls doch gibt es ja noch Karl Lauterbach, der seine Talkshow-Heavy-Rotation am Montagabend bei "Hart aber fair" fortsetzte. "Wahrscheinlich ist das Virus seit vier, sechs, acht Wochen in der Region unterwegs", wurde der SPD-Gesundheitsexperte seinem Ruf als oberster nationaler Corona-Mahner vollauf gerecht. "Es wäre eine Überraschung, wenn es nicht stark auf die Bevölkerung übergesprungen wäre."

Die Leitfragestellung - "Massenerkrankung in der Fleischfabrik - Gefahr fürs ganze Land?" - wurde also gleich zu Beginn angegangen. "Es gibt keine klare Linie", attackierte Lauterbach das aus seiner Sicht abermals zu zögerliche Handeln Armin Laschets. "Wir laufen Gefahr, die eine entscheidende Woche zu verlieren." Er habe sich zuletzt mit vielen Kollegen unterhalten, bekräftigte der im Bundestag sitzende Epidemiologe seine Lockdown-Forderung für den Kreis Gütersloh. "Keiner hat gesagt, so kann man das handhaben." Würden infizierte Menschen aus der Region demnächst in ganz Deutschland Urlaub machen, "kann sich da ein neuer Pandemie-Herd entwickeln". Später in der Sendung wurde bekannt, dass aus Gütersloh stammende Touristen auf Usedom unlängst zur Abreise genötigt wurden.

"Herr Laschet hat das Problem, dass er sehr emotional reagiert"

Armin Laschet konnte sich gegen die vorgebrachte Kritik mangels Anwesenheit nicht im ARD-Studio verteidigen. Immerhin wurde er durch ein Regierungsmitglied vertreten, den nordrhein-westfälischen Gesundheitsministier Karl-Josef Laumann. Der in Heinsberg gestählte CDU-Politiker schilderte sein neuerliches Krisenmanagement so überzeugend tatkräftig, dass es dem abwesenden NRW-Landeschef schon wieder zum Nachteil gereichte. Bei Laumann, einem regelmäßigen "Hart aber fair"-Gast, glaubte Frank Plasberg Haltung und Linie zu erkennen, beim Ministerpräsidenten hingegen nicht.

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"Herr Laschet hat das Problem, dass er sehr emotional reagiert auf große Probleme", stellte auch der Journalist Michael Bröcker dem CDU-Vorsitz-Bewerber ein vernichtendes Führungszeugnis aus. "Es wirkt bei ihm nicht wie eine stringente Strategie." Der Fall Tönnies sei nun "sein Fall, es ist sein Bundesland", erklärte der frühere Chefredakteur der "Rheinischen Post". Laschet werde "jetzt daran gemessen, ob er Deutschland zurückbringt in eine schwierige Situation oder nicht".

Dass es überhaupt zu solch einer prekären Lage gekommen ist, verurteilte die Grünen-Fraktionschefin bei "Hart aber fair" scharf. Seit dem Ausbruch bei der Coesfelder Firma Westfleisch wisse man, wie gefährlich Schlachthöfe für das Infektionsgeschehen seien, erinnerte Katrin Göring-Eckardt. "Ich hätte von Herrn Tönnies erwartet, dass er nicht erst wartet, bis etwas passiert. Und Ich hätte von der Landesregierung erwartet, dass sie durchtestet. Wir haben wertvolle Zeit verloren."

"Man kann nicht so lange warten, bis die Leute umfallen - ob mit Corona oder ohne"

Der angesprochene "Herr Tönnies", gemeint war natürlich der Gesellschafter und derzeit in Quarantäne befindliche Schlachthof-Patron Clemens Tönnies, glänzte wie Laschet mit Abwesenheit, hatte aber ebenfalls eine Art Stellvertreter im ARD-Studio. Christian von Boetticher trat auf als Vize-Vorsitzender der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE), aber auch als Produzent eines Nahrungsmittels, gegen das sogar Grünen-Frau Göring-Eckhart nichts einwenden kann: Haferflocken. Der am Pranger stehenden Schlachtbranche sprang er gleichwohl so indirekt wie wirkungsvoll zur Seite. Erheblich eloquenter als der Fleischlobbyist, der vor zwei Wochen bei Plasberg sein mediales Waterloo erlebte, bemühte sich Flockenhersteller von Boetticher die Frage des Verschuldens effektvoll zu vernebeln.

Wie es kommen konnte, dass sich 1.500 Arbeiter eines einzigen Schlachtbetriebs mit dem Coronavirus infiziert haben? Vielleicht waren ja die Gesundheitsämter schuld. Die hätten zur Belüftung geraten, diese Maßnahme habe nun womöglich die krankmachenden Aerosole überhaupt erst in den Produktionsstätten verbreitet. "Herr Lauterbach wird das vielleicht bestätigen können." Konnte Herr Lauterbach nicht. Herr von Boetticher probierte es noch mal anders: "Eines ärgert mich wirklich: Hier wird der Stab gebrochen über Dinge, die völlig unbewiesen sind - nämlich dass die Arbeitsbedingungen verantwortlich für den Ausbruch sind."

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Der Lebensmittellobbyist sollte sich kurz darauf noch viel mehr ärgern. Denn aufs Stichwort "Arbeitsbedingungen" schaltete Frank Plasberg den Lengericher Pfarrer Peter Kossen zu, der einige der aus Bulgarien und Rumänien stammenden Werkarbeiter der Schlachtbetriebe seit Jahren gut kennt. Der Geistliche hob an zu einer Zornespredigt, die sich gewaschen hatte. Das Ausbeutungssystem, das die Schlachtindustrie etabliert habe, kenne viele Profiteure, aber viel mehr Menschen würden darunter leiden. "Die billige Bratwurst auf dem teuren Grill hat ganz hohe Nebenkosten."

Was wechselnde Subunternehmer mit den eh schon schlecht bezahlten Arbeitskräften aus dem Osten anstellen, spottet ganz offenbar jeder Arbeitsethik. Da werde schon mal 250 Euro "Miete" für eine Matratze berechnet, die von mehreren Leuten im Schichtbetrieb genutzt wird, berichtete der Pfarrer. Auch Fahrtgeld sei eine Möglichkeit, den Arbeitern den hart verdienten Dumpinglohn gleich wieder aus der Tasche zu ziehen. Dass sich vor Fernsehkameras nun ausgerechnet Clemens Tönnies zum Reformator seiner eigenen Branche aufschwingt, stößt Peter Kossen ganz übel auf: "Man kann mit der Mafia nicht die Mafia bekämpfen, Sie können mit Kriminellen nicht über mehr Rechtssicherheit sprechen. Die Sklaven sind die Opfer, die Sklaventreiber sind die Täter. Es braucht an dieser Stelle das Verbot der Werkverträge. Man kann nicht so lange warten, bis die Leute umfallen - ob mit Corona oder ohne." Ein wahrhaft gepfeffertes Wort zum Montag - hallelujah!

"Der Herr Pastor kommt mit einem Sklaverei-Vergleich"

Während sich CDU-Minister Laumann durch die Schilderungen des Pfarrers in einem Herzensanliegen bestätigt sah ("Das Verbot der Werkverträge muss kommen"), holte Lebensmittellobbyist von Boetticher zum Gegenschlag aus. Nicht aber aus inhaltlichen Gründen, sondern aus Gründen der Wortwahl. "Entweder es kommt ein Nazi-Vergleich oder ein Sklaverei-Vergleich. Das geht so nicht!", verbat er dem Geistlichen den Mund. Man spreche über Bulgaren, die freiwillig im Rahmen der EU-Freizügigkeit eine Anstellung suchten. "Und der Herr Pastor kommt mit einem Sklaverei-Vergleich. Das geht mir so gegen den Strich!"

"Der Herr Pastor" war durch den Zornesausbruch jedoch nicht - zumindest nicht sichtbar - aus der Ruhe zu bringen. "Die Leute sagen: Wir fühlen uns wie Sklaven", wusste er neuerlich zugeschaltet aus Gesprächen zu berichten. Ein Arbeiter habe ihm gesagt: "Dass ich in Deutschland so hart würde arbeiten müssen, habe ich gewusst, Aber das ich gedemütigt werde, habe ich nicht gewusst."

So klingt politischer Reformbedarf. Frank Plasberg wird die weiteren Bemühungen in der Sache aber wohl im Urlaub, statt im Studio verfolgen. Der "Hart aber fair"-Gastgeber verabschiedete sich als letzter ARD-Polit-Talker nach Sandra Maischberger und Anne Will in die Sommerpause.

Im Video: Corona-Massenausbruch: Zustände in der Fleischbranche im Fokus