Sehnsucht Kanzleramt - Sozialforscher analysiert: Wie ein Detail Habecks Kanzlertraum verhindert
Robert Habeck hat mit den Grünen noch Großes vor und traut sich auch die Kanzlerschaft zu. Der Sozialforscher Andreas Herteux analysiert die grüne Entwicklung und die verpassten sowie künftigen Chancen sowie Perspektiven des Vizekanzlers.
Wenn Robert Habeck, vielleicht am gemütlichen Küchentisch sitzend, heute auf die letzten Jahre zurückblickt, wird er unter Umständen auch jenen Chancen nachtrauern, die das Schicksal ihn nicht hat ergreifen lassen.
Manchmal sind es große Widrigkeiten, gelegentlich nur die kleinen Überraschungen, die einen Weg vorschnell beenden. Das ist im Fall Habeck wohl auch tragisch, denn wäre der Verlauf der Geschichte nur in einem Detail auf eine andere Art und Weise verlaufen, wäre der amtierende Wirtschaftsminister womöglich heute Kanzler und das Land sehr wahrscheinlich ein anderes.
Grüne waren auf dem Weg zur Volkspartei
Was auf den ersten Blick fern erscheinen mag, war im Jahr 2021 durchaus realistisch. Die Grünen standen damals vor einem historischen Moment. Mit Umfragewerten von teilweise über 25 Prozent schien der Traum, nicht nur Volks-, sondern auch Regierungspartei zu werden, zum Greifen nah. Es handelte sich dabei allerdings nicht um einen kurzen Höhenflug, sondern bereits zwei Jahre zuvor, bei den Europawahlen 2019, wurde die 20-Prozent-Hürde genommen.
Postmaterielle Werte dominierten die Gesellschaft
Grün war im Trend. Trend? Nein, es war der Zeitgeist, der Höhenflug der Welle der postmateriellen Ideale wie Klimaschutz, offene Grenzen, Identitätspolitik, Post-Kolonialismus, einer sozial-ökologischen Transformation und globaler Gerechtigkeit, die seit den 2010ern von den Universitäten überschwappend, den medialen, aber teilweise – und dies belegen viele Umfragen, auch wenn dies heute ein wenig negiert wird – eben auch den gesellschaftlichen Kurs bestimmten.
Die Zeit schien reif. Grün wählte man nicht mehr nur im postmateriellen Milieu (ca. 12 Prozent der Bevölkerung), jener gut situierten Menschen, die es sich leisten können, über alltägliche Lebenssorgen hinauszublicken und sich höheren Idealen zu widmen, oder der relativ jungen neo-ökologischen Lebenswirklichkeit (ca. 8 Prozent der Bevölkerung), die viel Wert auf Multikulturalismus, Vielfalt und politische Korrektheit legt, sondern endlich auch in Teilen der Mitte.
Habeck war der ideale Kandidat
Der Traum von der grünen Kanzlerschaft schien Realität zu werden, und mit Robert Habeck gab es einen scheinbar idealen Kandidaten, um die höchsten Höhen zu erklimmen. Erstaunlich beliebt bis in die konservativen Milieus hinein, unverbraucht, aus dem Establishment, aber auch gerade noch genug dagegen. Ein starker Kommunikator, aber eben bis 2018 auch ein durchaus erfolgreicher Minister für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume in Schleswig-Holstein. Die Umfragen stimmten, der Zeitgeist stimmte und Habeck war für viele Milieus akzeptabel.
Und dann kam Baerbock
Aber dann kam Annalena Baerbock und aus dem Traum wurde ein Trauma. Für die Partei, für Robert Habeck.
Vermutlich wäre das der Moment, in dem er, noch immer am Küchentisch verweilend, etwas Kaffee nachgießt und darüber sinniert, wie es hätte sein sollen.
2021 gewann die SPD die Wahl am Ende mit 25,7 Prozent – ein Wert, der für die Grünen, vor dem Wahlkampfdebakel, durchaus erreichbar gewesen wäre. Vermutlich hätte man den Sozialdemokraten auch manche Stimme abgenommen. Eine solide Grün-Rote-Koalition wäre möglich gewesen und damit auch ein Kanzler Robert Habeck. Keine Ampel, kein Koalitionsbruch und vor allem keine Neuwahlen im Februar.
Der mutmaßlich richtige Kandidat saß auf der Ersatzbank und musste dem Debakel staunend sowie leidend zusehen.
Schlechtere Ausgangslage
Doch das ist Vergangenheit und wir sind im Hier und Jetzt. Im Jahr 2025 ist der Wirtschaftsminister nun doch endlich der Spitzenkandidat, aber die Umstände haben sich geändert.
Die Umfragewerte sind weit entfernt von den einstigen Höchstwerten. Während sich noch vor ein paar Jahren sehr viele Milieus grundsätzlich offen für die Grünen zeigten, werden diese von manchen Lebenswirklichkeiten inzwischen rigoros abgelehnt. Einerseits hat sich der Zeitgeist gewandelt, der ihnen lange in die Karten spielte, und andererseits hat die Partei durch eigenes politisches Scheitern, wie sonst soll man es nennen, wenn eine Regierungskoalition vorzeitig zerbricht, den eigenen Fall auch noch beschleunigt.
Und gerne noch ein Wort zu diesem Wandel, der immer wieder für Irritationen sorgt: Das postmaterielle Zeitalter war nie ein Linksruck und die Renaissance eines konstruktiven Pragmatismus ist auch kein Schritt in die rechte Ecke.
Auch Habecks Ansehen hat gelitten
Veränderung und Versagen – auch Robert Habeck hat das beschädigt. In einer aktuellen und repräsentativen Umfrage halten ihn zwar noch immer 53 Prozent für sympathisch, Friedrich Merz bringt es gerade einmal auf 24 Prozent, und ebenso 53 Prozent für eloquent, was unzweifelhaft Spitzenwerte darstellt, aber eben nur noch 33 Prozent für kompetent. Lediglich 30 Prozent glauben, dass er die Sorgen der Menschen versteht und wirkliches Vertrauen bringen ihm nur noch 38 Prozent entgegen.
Jetzt könnte es Zeit dafür sein, so am Küchentisch sitzend, die bittere Entwicklung durch ein paar Zuckerstücke für den Kaffee zu versüßen, aber natürlich wissen wir nicht, ob Robert Habeck dazu neigt.
Die Partei wird auf Habeck ausgerichtet
Es spielt auch keine Rolle, denn es zählt nur der momentane Wahlkampf, und in dem versucht er alles, um den eigenen Schwächen und Angriffsflächen, seien es seine oder die der Partei, entgegenzutreten.
Der Vizekanzler hat die Partei überraschend schnell auf Linie gebracht und auf sich zentriert. Dabei wurden hitzige Gefechte, gerade über postmaterielle Themen, im Besonderen im Bereich Migration , erwartet, doch am Ende setzte Habeck sein Credo durch und das heißt: Koalitionsfähig bleiben und sich an den neuen Trend zum konstruktiven Pragmatismus, zumindest erst einmal schwammig, anpassen – temporär, denn wer die grüne Basis kennt, weiß, dass es an dieser Stelle noch diskussionsbedarf gibt.
Man gibt sich im Moment aber bürgerlich und vermeidet jene postmateriellen Extravaganzen, die so gar nicht mehr in die neue Zeit passen wollen. Eher hat man sogar wieder linke Themen für sich entdeckt.
Schwieriger ist es bei der Regierungsbilanz. Hier beginnt bereits die Umdeutung. Der Tenor ist auch an dieser Stelle klar: Der Wirtschaftsminister hat alles versucht, aber es hat nicht gereicht, weil die Koalitionspartner nicht mitspielten.
Das ist die Erzählung für die Wähler: Vieles richtig gemacht, manchmal an den Umständen gescheitert und nun bereit, den Weg mit neuen Bündnissen fortzusetzen. Habeck als Bündniskanzler.
Die Wahlkampfmaschine läuft und das nicht ungeschickt, aber ob das Narrativ ankommen wird?
Werte wieder stabilisiert
Zumindest gelang es Habeck, die Umfragewerte zu stabilisieren. Die Grünen stehen im Moment zwischen 13 Prozent und 15 Prozent. 2021 waren es am Ende 14,8 Prozent. Allen Unkenrufen zum Trotz ist man schon wieder in der Nähe des vorherigen Ergebnisses.
Regierungsperspektive nicht unrealistisch
Und plötzlich glimmt die Flamme der kleinen Kerze am Küchentisch hell auf. Wird Robert Habeck daher doch noch Bundeskanzler? Nein, das erscheint unwahrscheinlich. Könnte er wieder Teil der Regierung werden? Das ist nicht auszuschließen. Vermutlich gibt es daher gar keinen Grund, am Küchentisch allzu groß Trübsal zu blasen. Noch nicht.