Selfie vor dem einfahrenden Zug - Wagnisforscher erklärt, wie falsche Verkehrserziehung Kinder gefährdet

Verkehrserziehung sollte Abenteuer ermöglichen, aber nicht abenteuerlich sein<span class="copyright">Getty Images/ Patrick Wittmann</span>
Verkehrserziehung sollte Abenteuer ermöglichen, aber nicht abenteuerlich seinGetty Images/ Patrick Wittmann

Der Experimentalpsychologe und Wagnisforscher Dr. Warwitz erläutert, was Verkehren eigentlich bedeutet, warum Verkehrserziehung mehr leisten muss als Unfälle zu vermeiden, und warum die Kultivierung des persönlichen Umgangs die eigentliche Zielrichtung der Verkehrserziehung sein sollte.

Eine Grundschullehrerin schilderte mir folgenden Vorfall: Sie begleitete einige ihrer Schüler nach Schulschluss auf dem Heimweg. Als sie an eine belebte Straße kamen, schickte sich eines der Kinder an, trotz des erheblichen Verkehrs schnurstracks über die Straße zu laufen. Die Lehrerin bekam den Knaben gerade noch am Schulranzen zu fassen und zog ihn auf den Gehweg zurück. Als sie ihn daraufhin zur Rede stellte, ob er denn nicht gesehen habe, dass dort zahlreiche Autos unterwegs waren, meinte der Erstklässler cool und selbstbewusst: „Die sehen doch, dass ich jetzt über die Straße will! Autofahrer müssen auf Kinder Rücksicht nehmen.“

Als ich vor einiger Zeit auf einer Schnellstraße aus Karlsruhe hinausfuhr, löste sich aus einer Gruppe von jungen Leuten, die am Fahrbahnrand standen, plötzlich ein Junge von vielleicht vierzehn Jahren. Er rannte in vollem Lauf in die Fahrbahn hinein, direkt in meine Fahrtrichtung. Ein Zusammenstoß schien unvermeidlich. Bevor es jedoch dazu kam, stoppte er ebenso unvermittelt, machte kehrt, und ich konnte im Rückspiegel noch beobachten, wie er staksig-stolz, die Arme steif abgewinkelt, mit Bewunderung heischender Heldengebärde wieder auf seine Altersgenossen zuschritt. Er sonnte sich sichtlich im Beweis seines Mutes.

Schon diese beiden Momentaufnahmen aus dem Alltag verdeutlichen, dass Kinder nicht nur hilflose Mängelwesen sind, die es vor dem übermächtigen Verkehr der Erwachsenen zu schützen gilt. Sie haben durchaus auch andere Ambitionen im Verkehrsumgang, die es zu berücksichtigen gilt, z.B. Mutproben zu gestalten oder Leistungen zu demonstrieren. Aufgabe sollte es daher sein, solche Grundbedürfnisse nicht zu verfemen, sondern positiv zu nutzen.

Vier Thesen

Verkehrserziehung sollte Abenteuer ermöglichen, aber nicht abenteuerlich sein

Kinder dürsten nach Spiel, Spannung und Abenteuern. Was liegt da näher, als auch das gefährliche Verkehrsleben dabei einzubeziehen? Ein Selfie vor dem einfahrenden Zug oder sich in das Schienenbett legen, bis die zitternden Gleise und das metallene Geräusch des heranbrausenden Zuges doch zu stark werden und der zuverlässige Freund das letzte Signal gibt, die Mutprobe zu beenden, sind nur zwei häufig praktizierte Beispiele von Jungabenteurern.

Solch einen Mutbeweis kann schließlich nicht jeder auf seinem Handy vorweisen. Man glaubt, die Gefahren voll im Griff zu haben. Doch wie lassen sich solche Bedürfnisse dynamischer, imponierfreudiger Kinder und Jugendlicher befriedigen? Wie lässt sich sinnleeres „Abenteuern“ von produktiven Abenteuern, die auch Mut fordern und Spannung bieten, aber etwas Sinnvolles entstehen lassen, unterscheiden? Darauf gilt es, kind- und altersgerechte Antworten zu finden, auch wenn sie nicht ganz so spektakulär sind.

 

Verkehrserziehung darf sich nicht in Unfallvermeidung erschöpfen

Verkehrserzieher ernten oft ein müdes Stöhnen ihrer jungen Klientel, wenn sie ein neues Kapitel Mobilitäts- oder Verkehrserziehung ankündigen. Erfahrungsgemäß erwartet sie erneut eine Liste von Hinweisen, was alles gefährlich ist, was alles passieren kann, was daher tunlichst nicht getan werden sollte, um heil in dieser gefahrvollen Umwelt bestehen zu können.

Es geht um Regeln, die zu lernen und zu beachten sind, um Techniken und Wege, die ein sicheres Verkehren garantieren sollen. Doch Unfallvermeidung, Verbote und Gebote unterscheiden und zu beachten lernen, ist für Kinder und Jugendliche kein besonders antörnendes Motiv, sich mit dem Verkehrsleben zu befassen. Verkehr ist für Heranwachsende auch ein Erlebnisraum. Verkehrserziehung darf dabei nicht zum Zeigefingerfach schrumpfen mit langweilenden Vorgaben, wie man sicher von A nach B kommt.

Verkehrserziehung sollte persönlich werden

Begegnungen im Verkehrsraum laufen meist als regelkonforme anonyme Vorgänge ab. Für viele Verkehrsteilnehmer sind „die anderen“ dabei aber oft auch eher Kontrahenten als Partner: Radfahrer schimpfen auf angeblich rücksichtslose Autofahrer und diese wiederum ärgern sich über „döselige“ Radler, die sich in Wildwest-Manier an keine Regeln halten. Dabei bedeutet „Verkehren“ eigentlich „Einander wahrnehmen“, „Miteinander umgehen“, „Aufeinander eingehen“. Hier, am menschlichen Aspekt, muss Verkehrserziehung ansetzen, nicht am Mobilitätsgedanken eines möglichst reibungslosen Ortwechsels.

Kinder sehen noch bis ins Schulalter hinein nicht den Menschen am Steuer, sondern das Fahrzeug als Verkehrspartner. Es hat Augen wie sie (die Scheinwerfer) und bewegt sich wie sie im Verkehrsgeschehen. Der Fahrer bleibt unsichtbar hinter der Windschutzscheibe. Sie schauen bei einer Begegnung entsprechend nicht auf die Person am Steuer, sondern auf die Augen des Fahrzeugs.

Kinder äußern sich in entsprechenden Aussagen wie: „Das Auto kann sofort halten, wenn es nur will“ oder „Das Auto ist dumm, wenn es mich nicht sieht.“ Diese Sehfixierung auf die Scheinwerfer kann der erwachsene Lenker nutzen, indem er, etwa durch kurzes Blinken am Zebrastreifen Kontakt aufnimmt mit dem Kind. Besser ist es, sich durch eine Winkbewegung hinter der Scheibe bemerkbar zu machen.

Das Kind (aber auch noch Erwachsene!) sollten sich angewöhnen, durch Blickkontakt und Handausstrecken dem Verkehrspartner zu signalisieren, dass man die Straße queren möchte. Ein zusätzliches Dankeschön für das Warten ist kein Fehler und schafft ein positives Miteinander.

 

Verkehrserziehung sollte Eigenverantwortung entwickeln

Richtiges Verkehren sollte aus dem Erlebnishorizont der Kinder erwachsen. Sind schon Vorschulkinder dafür zu begeistern, auf der Tischplatte oder dem Fußboden mit Kleinspielzeug einen funktionierenden Kreuzungsverkehr miteinander zu entwickeln, so stellt diese Aufgabe im Bereich des Schulhofs mit lebenden Fußgängern und Symbolfahrzeugen wie PKW, Bussen und Lastwagen bereits eine anspruchsvolle Aufgabe für die Erstklässler dar.

Unter den drei Verhaltensnormen „Vorsicht“, „Rücksicht“ und „Nachsicht“ sind sie gefordert, den Kreuzungsverkehr entsprechend den auftretenden Schwierigkeiten nach und nach mit geeigneten Verhaltensregeln und Hilfen wie Verkehrszeichen, Zebrastreifen und Ampeln auszustatten. Ein mit den Armzeichen vertraut gemachter „Verkehrspolizist“ ordnet die Verkehrsströme vom Zentrum aus.

Den Höhepunkt des Projekts bildet die komplette Selbstorganisation eines Kreuzungsverkehrs, an dem sich auch die Drittklässler als bereits geprüfte Radfahrer beteiligen. Für sie kommen die Leistungsforderungen „Umsicht“ und „Weitsicht“ und das Wahrnehmen von Lotsenaufgaben hinzu. Das Einladen der örtlichen Presse zu diesem Event mit Interviews und Bilddokumentation in der Zeitung bildet einen zusätzlichen Reiz für die Kinder und einen Prestigegewinn für die Schule.