Serie „Mir reicht's, ich geh in den Osten“ - „Wer Grün wählt, wählt Krieg“: Besuch in einer Stadt, die von der AfD zerrissen wird

Teilnehmer der "Montagsdemo" überraschen Gäste eines Restaurants in Görlitz mit Trommel- und Trillerpfeifengetöse. Einige führen Wirmer-Fahnen dabei, die zwar nicht verboten sind, seit Ende der 90er-Jahre aber vor allem als Erkennunsgzeichen von Rechtsextremen gelten.<span class="copyright">Grafik/Foto: Arabella Zeciri/Ulf Lüdeke, FOCUS online</span>

Görlitz gilt schon lange als AfD-Hochburg. Nun wächst im „Hollywood des Ostens“ die Sorge, ein AfD-Sieg in Sachsen könnte die Stimmung zum Kippen bringen. Einige wollen sogar wegziehen. Andere finden: Die AfD wird viel zu groß geredet.

Montagabend in Görlitz. Über der Brüderstraße mit ihren Renaissancehäusern in der Altstadt liegt eine Spätsommerwärme. Ein Dutzend Gäste genießt den Abend vor einer Pizzeria, ein Straßenmusiker spielt „Hotel California“ auf einer Gitarre. Bis sich um 19.15 Uhr plötzlich erste Misstöne in den Evergreen der Eagles mischen.

Entsetzt starren die Görlitzer auf einen Zug von 150 bis 200 Menschen, die, teils in Gelbwesten gekleidet, mit Pauken, Trillerpfeifen und Wirmer-Fahnen, die Rechtsextreme gerne zeigen, lärmend das Idyll stören. Vorneweg tragen zwei Männer ein Transparent mit der Aufschrift: „Wer CDU wählt, wählt Grün. Wer Grün wählt, wählt Krieg“.

„Unfassbar“, raunt jemand entsetzt. Auf einem weiteren Plakat wird gegen die Grünen geätzt: „Wir fordern mehr Hilfs- und Sonderschulen. Auch Grüne haben ein Recht auf Bildung.“

„Diese Menschen verbreiten nur noch offenen Hass, vor allem gegen die Grünen“

Einen besonderen Blick auf die „Montagsdemo“, die sich seit der Corona-Pandemie immer wieder auch mit lokaler AfD-Prominenz durch die Altstadt wälzt, hat Peter Wirth. Der 64-Jährige wohnt in der Brüderstraße. „Ich kann diesen Quatsch von Verschwörungstheoretikern und AfDlern, an dem immer wieder Neonazis teilnehmen, nicht mehr ertragen“, sagt Wirth. „Diese Menschen verbreiten nur noch offenen Hass, vor allem gegen die Grünen.“

Wirth kennt sich in der politischen Szene von Görlitz gut aus. Jahrelang war er Prokurist der Stadtwerke, dann SPD-Fraktionschef. Seine damalige Partei hatte ihn schon zu Zeiten der GroKo enttäuscht. Vor ein paar Jahren trat er aus der SPD aus und zog sich aus der aktiven Politik zurück. Doch er hat immer noch gute Kontakte. Auch in Kreise von AfD-Wählern.

Trat aus der Partei aus, weil er tief enttäuscht vom politischen Kurs ist: Peter Wirth, einst SPD-Fraktionschef im Görlitzer Stadtrat.<span class="copyright">Ulf Lüdeke / FOCUS online</span>
Trat aus der Partei aus, weil er tief enttäuscht vom politischen Kurs ist: Peter Wirth, einst SPD-Fraktionschef im Görlitzer Stadtrat.Ulf Lüdeke / FOCUS online

 

Ex-SPDler in Görlitz: Es geht nur noch darum, „ob man für oder gegen die AfD ist“

Wirths Sorge um ein Erstarken der AfD wächst. „Keiner der Unterstützer fragt sich mehr, wie das Leben früher zu DDR-Zeiten war. Die Unlust, darüber zu reden, wird immer größer, während die Fähigkeit, demokratisch über Ideen zu streiten, jenen Kreisen abhandengekommen ist“, erzählt der 64-Jährige resigniert.

Immer mehr Mitarbeiter der Stadtverwaltung schlügen sich zudem auf die Seite der AfD, will der Ex-Sozi gehört haben. Und auch dort soll es „immer weniger um Inhalte und immer mehr darum gehen, ob man für oder gegen die AfD ist“. Eine Partei, deren Bundesverband mit Tino Chrupalla von einem Görlitzer geführt wird.

Nicht mal anonym wollen Stammtischler über AfD reden

Bei der jüngsten Kommunalwahl am 9. Juni erzielte die AfD in Görlitz mit 37,2 Prozent der Stimmen einen neuen Rekord, die CDU landete mit 25,8 Prozent auf Platz 2. Der Abstand zur AfD wuchs dabei von 8,8 auf 11,2 Prozent. AfD-Spitzenkandidat Sebastian Wippel erhielt diesmal mehr als doppelt so viele Stimmen wie alle zehn in den Stadtrat gewählten CDU-Abgeordneten zusammen.

„Mal abgesehen von der Politik ist Wippel ein netter Typ, Familienvater, gelernter Polizist“, berichtet Wirth und schiebt sofort hinterher, dass das natürlich nicht ausreiche, um den gigantischen Stimmenvorsprung zu erklären.

Da es paradoxerweise umso schwieriger wird, mit AfD-Wählern zu sprechen, je stärker die Partei wird, bat FOCUS online den Ex-SPD-Mann, bei verschiedenen Stammtischen nachzufragen, ob ein Reporter sich mal mit dazusetzen könnte, um aus erster Hand zu erfahren, warum der eine oder andere die Partei wählt. „Nicht mal anonym hat sich irgendwer dazu bereiterklärt“, teilt Wirth mit.

 

„AfDler sagen: 'Die Paria sind nicht wir, sondern ihr'“

AfD-Unterstützern, die er kennt, ginge es gar nicht so sehr um Wippel oder um das AfD-Programm, sondern schlicht darum, die etablierten Parteien nicht zu wählen. „Ich kenne keinen, der wirklich glaubt, die AfD könne konstruktiv echte Probleme lösen. Dass sie das nicht kann, hat sie in Görlitz ja bewiesen, obwohl seit 2019 stärkste Fraktion“, sagt Wirth.

Was er an den Stammtischen immer öfter höre, sei eine „Verhärtung“ von Weltbildern. Ganz gleich, ob es um Russland, die Ukraine, Corona oder den Klimawandel geht: Was die Leute glauben, beruhe, auf „falschen Informationen oder Schlüssen“, so Wirth. Und weiter: „Sie sagen mir: 'Die Paria, das sind nicht wir, sondern ihr!'"

„Da brodelt viel unter der Decke, was bei AfD-Sieg hochkommen könnte“

Worüber sich Wirth allerdings am meisten sorgt, ist die Zunahme der Aggressivität. „Ganz gleich, ob am Stammtisch oder im Bekanntenkreis: Der Ton bei AfD-Sympathisanten wird rauer, zum Beispiel, was Ausländerfeindlichkeit angeht. Das macht auch vor Akademikern keinen Halt.". Kultur- und Medienschaffende blicken seiner Erfahrung nach mit „zunehmender Beklemmung“ auf diese Entwicklung.

Ein erstmaliger Wahlsieg der AfD auf sächsischer Landesebene am 1. September könne diesen Trend spürbar verschärfen, befürchtet Wirth. „Ich spüre, dass da noch viel unter der Oberfläche brodelt, was jetzt noch gar nicht angesprochen wird.“ Auch bei Feuerwehr und Polizei, so werde ihm zugetragen, würden AfD-Positionen immer mehr Anhänger finden.

Für Wirth ist es wichtig, dass das Leben in Görlitz sicher bleibt. „Falls sich das unter einer rechtsextremen Regierungsbeteiligung ändert, was ich befürchte, dann habe ich meine Heimat im Osten verloren“, sagt der gebürtige Baden-Württemberger, der seit 1990 in Görlitz lebt. Und er kennt andere, denen es ähnlich gehe.

Andreas Nochten ärgert sich über den Ruf seiner Stadt, der trotz einer sehr starken AfD ungerechtfertigt sei: „Viele Gäste glauben, von den Fenstern in Görlitz hingen Hakenkreuzfahnen“<span class="copyright">Ulf Lüdeke / FOCUS online</span>
Andreas Nochten ärgert sich über den Ruf seiner Stadt, der trotz einer sehr starken AfD ungerechtfertigt sei: „Viele Gäste glauben, von den Fenstern in Görlitz hingen Hakenkreuzfahnen“Ulf Lüdeke / FOCUS online

 

„Die Wähler müssen die Kröte schlucken und CDU wählen"

Skeptisch blickt auch Andreas Nochten auf das Erstarken der AfD. Der Maler ist wie Wirth ehemaliger Stadtrat. Für eine Legislaturperiode saß er dort parteilos für die CDU.

„Ich fürchte vor allem um die Regierungsfähigkeit Sachsens, wenn die AfD am 1. September gewinnt.“ Um dies zu verhindern, bliebe den Sachsen aus seiner Sicht nur die Wahl der CDU, so Nochten. „Die Wähler der anderen demokratischen Parteien müssen diese Kröte schlucken und für die Wiederwahl des Görlitzers Michael Kretschmer als Ministerpräsident stimmen, wenn es nicht zu einem Patt im Landtag kommen soll.“

„Viele glauben glatt, von den Fenstern in Görlitz hängen Hakenkreuzfahnen runter“

Doch was den Ruf von Görlitz als rechte AfD-Hochburg angeht, ist Nochten völlig anderer Meinung als Wirth. Er zieht tief am Zigarillo und sagt: „Die AfD ist immer Thema hier. Viele glauben glatt, von den Fenstern in Görlitz hängen Hakenkreuzfahnen runter. Das ärgert mich.“

Nochten findet, dass die Medien ein falsches Bild seiner Stadt zeichnen. „Ich will das Problem mit der rechtsextremen AfD nicht herunterspielen. Aber richtigen Ärger mit Neonazis hat es hier in Görlitz schon länger nicht mehr gegeben - ganz im Gegensatz zu den ländlichen Regionen. Rechte Sprüche hört man vom Otto-Normal-Görlitzer in der Regel nicht.“

Nochten hat auch einen Vorschlag, wie sich dieses Bild konstruktiv ändern ließe: „Die anderen Parteien sollten die AfD endlich viel stärker inhaltlich stellen, anstatt einfach immer weiter draufzuhauen. So ließe sich der Scheinriese, der diese Partei ist, entzaubern.“

Bemüht sich, den Ruf von Görlitz alias "Görliwood" als "aufgeschlossene Stadt" trotz des Erstarkens der AfD zu wahren: Kerstin Gosewisch, Leiterin des Filmbüros.<span class="copyright">Ulf Lüdeke / FOCUS online</span>
Bemüht sich, den Ruf von Görlitz alias "Görliwood" als "aufgeschlossene Stadt" trotz des Erstarkens der AfD zu wahren: Kerstin Gosewisch, Leiterin des Filmbüros.Ulf Lüdeke / FOCUS online

 

„Politik spielt bei internationalen Filmanfragen immer eine Rolle“

Wie Peter Wirth kann auch Kerstin Gosewisch die Montagsdemos aus ihrem Büro sehen. Gosewisch leitet das Görlitzer „Filmbüro“, das nahe am Obermarkt liegt und damit an die Strecke der Protestler grenzt. Als Filmbeauftragte der Stadt koordiniert Gosewisch Anfragen und Betreuung von Produktionsgesellschaften, die in Görlitz drehen wollen. „Politik spielt bei internationalen Filmanfragen immer eine Rolle. Aber ich sage dann, dass man auf die Klientel der AfD, die ich als politische Richtung total ablehne, hier bis auf die 'Montagsdemos' nirgendwo trifft.“

Die rund 4000 historischen Gebäude aus der Spätrenaissance-, Barock- und Gründerzeit haben seit der Wende schon diverse Hollywood-Produktionen angelockt. Filme wie „Inglourious Basterds“, „Der Vorleser“ oder „The Grand Budapest Hotel“ entstanden hier. Hollywood-Größen wie Kate Winslet, Bill Murray oder Emma Thompson schlenderten schon durch Görlitz. So kam die Stadt in der Oberlausitz zu ihrem Spitznamen „Görliwood“.

 

Offener Brief aus Hollywood sorgte 2019 für Aufsehen

Zu einem Zwischenfall wegen der AfD, der für viel Aufsehen sorgte, kam es 2019. „Gebt euch nicht Hass und Feindseligkeit, Zwietracht und Ausgrenzung hin. Bitte wählt weise, wenn die Wahl an Euch ist“, hatte eine Gruppe von Hollywood-Prominenten 2019 in einem offenen Brief an „Görliwood“ geschrieben. Die Geste war eine Reaktion auf die erste Runde der OB-Wahl, die der AfD-Kandidat Wippel damals klar gegen den Zweitplatzierten Ursu und weitere Mitbewerber gewonnen hatte.

Eine ähnliche Reaktion habe es seitdem bisher nicht mehr gegeben, sagt Gosewisch. „Wir sind bemüht, dieses Bild nicht weiter nach außen zu tragen und sind aufgeschlossen. Das spiegeln der Stadt auch Schauspieler zurück, die Görlitz als Wohlfühl-Drehort ohne Paparazzi empfinden.

„Hoffe, dass Nichtwähler uns vor schockierendem Ergebnis bewahren“

Das Erstarken der AfD sei ein Thema, das auch eigene Freundschaften zerbrechen lässt, berichtet Gosewisch. Es macht sie traurig. „Es ging alles mit den Pegida-Demos los. Und irgendwann haben wir es dann verlernt, miteinander zu reden.“ Bei der Suche nach den Ursachen, sagt die gebürtige Görlitzerin, seien „alle Demokraten gefordert“.

Was den 1. September angeht, habe sie trotz allem eine Hoffnung: „Sehr viele Menschen haben bei den letzten Wahlen keine Stimme abgegeben. Ich hoffe, dass die Nichtwähler diesmal zur Wahl gehen und uns vor einem schockierenden Ergebnis bewahren.“