Serie „Mir reicht's, ich geh in den Osten“ - Arbeitspflicht für Flüchtlinge: Jetzt hat Kadir plötzlich einen Job im Freibad
Als erster deutscher Landkreis hat der Saale-Orla-Kreis in Thüringen für Flüchtlinge nicht nur eine Bezahlkarte, sondern auch eine Arbeitspflicht eingeführt. Ein Schleizer Pfarrer ist vom Integrationseffekt angetan. Aus seiner Ablehnung gegen die Migrationspolitik der AfD indes macht er keinen Hehl.
Magisch erleuchtet das Morgenlicht den Altarraum. Boris, der Banker, trägt ein grünes Poloshirt, braune Shorts und schwarze Turnschuhe. Er betet nicht, sondern saugt zwischen zwei Stuhlreihen Staub in der Schleizer Stadtkirche. „Wenn er daheimgeblieben wäre, läge er jetzt in einem Schützengraben“, sagt Kirchendiener Tino Wolf mit finsterer Miene.
Boris ist einer von 150 Flüchtlingen und Migranten des ersten deutschen Landkreises, in dem die Arbeitspflicht seit Jahresbeginn umgesetzt wird. Eingeführt wurde diese Pflicht, die schon lange im Asylgesetz festgeschrieben ist, von Landrat des Saale-Orla-Kreises Christian Herrgott.
Und seitdem sich herumgesprochen hat, dass es dem Thüringer CDU-Politiker so gelang, einen Großteil der arbeitsverpflichtungsfähigen Flüchtlinge zu dieser Arbeit zu bewegen und jeden fünften von ihnen sogar in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln, reißen neugierige Anfragen anderer Landräte nicht ab, die wissen wollen, wie er das wohl geschafft hat.
„Seit Boris arbeitet, ist er total aufgeblüht“
Boris kommt aus Russland. Er floh 2022 aus seiner Heimat, weil er sich nicht von Wladimir Putin für dessen völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine an die Front schicken lassen wollte. „Ich hatte große Schwierigkeit mit den kulturellen Unterschieden im Flüchtlingsheim“, erzählt er FOCUS online in einer Pause. „Die Küche war immer extrem verdreckt, die Toiletten auch. Und die Araber unter den Bewohnern waren immer sehr laut, auch nachts.“
Tino Wolf hilft dem 26-Jährigen mit dem Deutsch gelegentlich. Doch im Großen und Ganzen kann Boris sich schon ziemlich gut verständlich machen. „Das war kein Ambiente für ihn, er ist sehr schüchterner Typ. Aber seit er in der Gemeinde seit Anfang Juni als Hausmeister arbeitet und bei uns auch als Gast wohnt, ist er total aufgeblüht“, erzählt der Kirchendiener begeistert.
„Ich wollte raus aus Heim, Deutsch lernen, Freundschaften schließen“
Vier Stunden arbeitet Boris jeden Tag fünfmal pro Woche in der Stadtkirche. Bereitet Gottesdienste mit vor, mäht Rasen, streicht Geländer oder macht irgendwo sauber. Die Stunde wird mit 80 Cent vergütet, so regelt es das Gesetz. Zusätzlich zu den 640 Euro Sozialleistungen, die er über eine Bezahlkarte erhält, kann er auf diese Art bis zu 64 Euro zusätzlich pro Monat verdienen. Und jeder Euro zählt.
Doch das Wichtigste sei nicht „das bisschen Geld“, was er dazuverdienen könnte, ergänzt Tino Wolf, denn „Boris hätte auch umsonst gearbeitet“. Dann sagt der junge Russe selbst: „Ich wollte raus aus Heim, Deutsch lernen, Freundschaften schließen“, lächelnd, mit einem Zeigefinger auf Wolf deutend.
Dinge, die er durch die Annahme der Arbeitsverpflichtung bekommt.
„Volles Verständnis, auf von AfD-Wählern“
„Jede Gelegenheit, um aus der Flüchtlingsunterkunft rauszukommen, ist wichtig“, sagt Pfarrer Ingolf Scheibe-Winterberg. Als sie sich ein bisschen besser kennengelernt hatten, fragten sie den 26-Jährigen, was er sich am meisten wünsche. Und Boris entgegnete: „Ein Fahrrad“. Sie besorgten ihm ein Gebrauchtes und schenkten es ihm. „Seitdem ist er ständig mit dem Rad unterwegs“, so Wolf.
Wie der Kirchendiener lobt auch der Pfarrer die Initiative des Landrats, weil sie wichtig für die Integration und auch das Selbstwertgefühl von Flüchtlingen und Migranten sei. Und sein Deutsch wird besser und besser. Jeden Tag büffelt er drei bis vier Stunden.
Wolf bestätigt, dass diese Arbeit auch einen wichtigen gesellschaftlichen Zweck erfülle, mit Blick auf die Flüchtlinge, die, wie der Landrat zur Einführung erklärt hatte, so einen Teil für die Hilfe, die ihnen in Deutschland zuteil werde, auf diese Art zurückgäben. „Anfangs gab es Skepsis wegen unserer Entscheidung, Boris bei uns zu beschäftigen. Mittlerweile aber spüren wir volles Verständnis dafür. Und das gilt auch für Wähler der AfD.“
Pastor der Schleizer Stadtkirche: „Ich lasse Höcke nicht in meine Kirche“
Der Stadtkirchenpfarrer betont, dass Boris mit seinem Job niemandem in Schleiz die Arbeit wegnähme. „Wenn es Boris nicht gäbe, wären viele Arbeiten einfach liegengeblieben, wir hätten deswegen niemand Neues einstellen können. Nun ist er die Rechte Hand des Kirchendieners geworden.“ Er hoffe, dass sich dieses „Kirchenasyl soft“, dass sie ihrem Schützling gewähren würden, schon bald in ein offizielles Bleiberecht umwandeln ließe.
Und schiebt mit Blick auf einen sich abzeichnenden Wahlsieg der rechtsextremen Thüringen-AfD samt ihres rechtsextremen Landeschefs Björn Höcke bei der Landtagswahl am 1. September hinterher: „Höcke lasse ich auf gar keinen Fall in meine Kirche. Die Flüchtlingspolitik der AfD verträgt sich nicht mit dem Christentum, ist nicht gut für unsere Kirchen“, sagt Schreibe-Wintergarten. „Würde er Ministerpräsident, wäre er nicht meiner.“
„Wenn das Problem erledigt ist, kehre ich in die Türkei zurück“
Im Schleizer Freibad steht statt mit Badehose an diesem sonnigen Spätsommervormittag ein weiterer Flüchtling in Arbeitsklamotten: Kadir. Er ist 24 Jahre alt, ausgebildeter Elektriker und floh aus der Türkei. Im Freibad schneidet er Pflanzen, repariert verschiedenste Dinge, hilft bei technischen Problemen.
Kadir ist Kurde, wie Boris ebenfalls 2022 allein nach Deutschland gekommen und erzählt mithilfe einer Übersetzungs-App, dass wegen seiner ethnischen Herkunft in der Türkei verfolgt werde und ihm eine Verhaftung drohe. „Sowie sich dieses Problem erledigt hat, werde ich wieder in die Türkei zurückkehren. Bis möchte ich in Deutschland bleiben.“
„Kadir ist super, er sieht die Arbeit und packt einfach an“
Seine deutschen Kollegen sind voll des Lobes für den jungen Kurden. „Kadir ist einfach super. Als Elektriker kann er uns immer wieder aus der Patsche helfen. Er ist einer, der zudem die Arbeit sieht und von selbst anpackt. Und er teilt sogar seine vier Stunden pro Tag auf und kommt abends noch mal vorbei, um die Papierkörbe zu leeren“, sagt Achim Strauss, in der Kommune Schleiz für den Bäderbereich zuständig. „Eine solche Kraft könnten wir uns zusätzlich zum Personal nicht leisten.“
Schwimmmeister: „Unsere Badegäste schätzen das sehr“
Insgesamt gibt es im Saale-Orla-Kreis derzeit 300 Flüchtlinge, von denen die Hälfte aufgrund von Sprach- und Integrationskursen, Alter oder Gesundheitsprobleme nach Angaben des Landratsamtes nicht zu gemeinnütziger Arbeit verpflichtet werden kann.
Nicht alle von den 150, die hingegen verpflichtet wurden, hätten die jedoch akzeptiert. Einigen von ihnen wurden daher Leistungen gekürzt, andere seien untergetaucht, verschwunden.
Kadir wird wohl schon bald in jene Gruppe von Flüchtlingen aufsteigen, denen ein richtiger Job vermittelt werden kann. Elektriker sind immer gefragt, schon im September könnte es losgehen.
Schwimmmeister Christian Walther jedenfalls wird Kadir vermissen. „Er zeigt eine Bereitschaft zur Arbeit, die wir bei 1-Euro-Jobbern immer vergeblich gesucht haben. Kadir macht wirklich einen tollen Job. Und die Badegäste, die kriegen das voll mit, wie er hier anpackt, und schätzen das sehr.“