Serie „So geht es Deutschland wirklich“ - Bürgergeld-Empfänger Thomas hat 19 Cent auf dem Konto – und Riesenbammel vor Merz

Thomas Wasilewski (61) aus Mönchengladbach lebt mit seiner Frau und drei Kindern von Bürgergeld. „Sozialschmarotzer“-Vorwürfe treffen ihn ebenso hart wie die hohen Preise für Lebensmittel. Er fürchtet, dass Armut und soziale Kälte weiter zunehmen.

Der Tag beginnt für Thomas Wasilewski um 5.40 Uhr. Wie jeden Dienstag wird er sich gleich zur Tafel aufmachen. Vorher heißt es aber noch Frühstück herrichten für seine drei Söhne. Der Jüngste, 16, geht noch zur Schule und muss um 7 Uhr los. Die beiden älteren machen eine Ausbildung und verlassen gegen 6.40 Uhr das Haus.

Zu der Zeit ist Thomas Wasilewski schon unterwegs. Etwa eine Stunde braucht er, um „mit den Öffentlichen“ zum Stadtrand von Mönchengladbach zu gelangen, wo sich in einem großen Gewerbegebiet die Tafel befindet.

Als er endlich aus dem Bus steigt, schaut er sich um. Unzählige Male war er schon hier – und doch ist er jedes Mal aufs Neue überrascht. Ein paar hundert Meter weiter ist das Finanzamt zu sehen. Und dahinter der riesige Bürokomplex der Santander Bank, das europäische Hauptquartier.

WERBUNG

„Da geht es um Millionen“, sagt der 61-Jährige und deutet in die entgegengesetzte Richtung, „da geht es ums Überleben.“

Er zeigt auf ein großes Stahltor, durch das er gleich das Tafelgelände betreten wird. Mittlerweile ist es 7.55 Uhr und ein gutes Dutzend Leute stehen schon bereit. „Rentner, Obdachlose, Mütter, Geflüchtete“, sagt Wasilewski. Hier bekomme Armut „ein Gesicht“. Und seines gehöre dazu, so der Vater von drei Kindern, der Bürgergeld bezieht.

Bürgergeld-Empfänger Wasilewski: „Geht ums Überleben“

„Schon klar, warum du da jeden Dienstag hingehst“, muss er sich bisweilen anhören. Als ginge es ihm darum, sich die Taschen mit Lebensmitteln zu füllen. „Mitnichten“, schüttelt er energisch den Kopf und betont mehrfach, dass er ehrenamtlich als Tafel-Helfer arbeite. Das sei sein „persönlicher Beitrag zur Demokratie“.

Damit gar nicht erst der Verdacht aufkommt, er wolle sich Vorteile verschaffen, hat er sich ein eisernes Prinzip auferlegt: Nicht ein Brötchen, einen Apfel, eine Scheibe Wurst zwackt er sich ab.

WERBUNG

Selbst dann nicht, wenn er großen Hunger hat. Oder wenn er, wie heute, wieder diese schwierige Situation am Abend kommen sieht: Die beiden Älteren kehren von der Arbeit heim, nach einem langen, anstrengenden Tag, an dem es mittags gerade mal ein Butterbrot gab. Und zu Hause stehen dann Kartoffeln mit Senfsoße auf dem Tisch, weil: Alles andere wäre zu teuer.



Auch an diesem Morgen ist Thomas Wasilewskis dürftig gefüllter Magen ziemlich flau. Zwei Scheiben Toast hat er in der Früh gegessen, „wohl jeder, der Kinder hat, kennt das: Die kommen im Zweifelsfall immer zuerst.“ Um den 20. eines Monats ist bei den Wasilewskis in aller Regel das Konto leer. Heute ist der 19.

Der Bürgergeldempfänger sagt offen, er sei nervös. Später will er erst zur Bank, dann zum Einkaufen in den Discounter und er weiß: Je fortgeschrittener der Monat, desto herausfordernder werden diese beiden Gänge.

Aber jetzt packt er erst mal einen der sechs zur Tafel gehörenden Sprinter mit Paletten und Kisten voll, um die wöchentliche Runde zu fahren. Zu verschiedenen Lebensmittelhändlern, abgelaufene Ware abholen. Die soll dann ab 11 Uhr vor Ort verteilt werden. Sprich: in drei Stunden.

Und warum warten dann hier schon so viele?

WERBUNG

„Gute Frage“, findet der Ehrenamtler, der aus zahlreichen Gesprächen weiß, weshalb Menschen die Zeit in der Kälte auf sich nehmen: Die meisten kommen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, viele können sich die Fahrtkosten nicht leisten. Und vor 8 Uhr würde erfahrungsgemäß eher wenig kontrolliert.

Aggressive Stimmung: „Der gehört in ein Arbeitslager“

„Es ist traurig“, seufzt der hochgewachsene, hagere Mann, der als Leistungsempfänger bundesweit bekannt geworden ist. Nicht nur wegen seiner für viele überzogenen Forderungen nach 813 Euro Regelsatz pro Kopf beim Bürgergeld . Auch wegen der erstaunlich konkreten Schilderungen seiner eigenen wirtschaftlichen Situation.

Dabei geht es ihm wie vielen: Eigentlich ist es ihm unangenehm, anderen so tief Einblick in sein Privatleben zu geben. Zum Beispiel zu sagen, dass er und die Jungs seit Jahren keinen Besuch mehr hatten. Zu erzählen, wie die Couch irgendwann durchgesessen war und dann das erste Loch kam. Dann das zweite, das dritte... Man behilft sich mit Decken, die man drüberlegt, bis heute.

Andererseits macht Schweigen ja alles nur noch schlimmer. Lässt all jenen freien Lauf, die Menschen wie ihn „Parasiten“ nennen oder sagen, „der gehört in ein Arbeitslager“.

„Die wollen sich das Geld bei den Ärmsten holen, um den Haushalt zu sanieren“

Mit der Aussicht auf einen Bundeskanzler Friedrich Merz von der CDU haben die Anfeindungen weiter zugenommen, nimmt Thomas Wasielewski wahr. „Als hätten 1,7 Millionen Menschen in Deutschland keinen Bock zu arbeiten.“ So viele Frauen und Männer sind in Deutschland erwerbsfähig, beziehen jedoch trotzdem Bürgergeld. Die CDU will das ändern und dadurch 10 Milliarden Euro einsparen.

WERBUNG

Auch hier spricht Wasilewski Klartext: „Die wollen sich das Geld bei den Ärmsten holen, um den Haushalt zu sanieren.“ Über Stimmungsmache versuchten Politiker, die Menschen auf ihre Seite zu ziehen. Für den 61-Jährigen bleibt da nur eins: Maximale Transparenz. „Sagen, wie es ist.“

Dazu gehört zunächst zu erzählen, wie es für die Familie überhaupt so weit kommen konnte. Thomas Wasilewski hat darüber schon oft geredet, die „Eckdaten“ kommen routiniert.

Der gelernte Außenhandels- und Datenverarbeitungskaufmann hat in der beruflichen Weiterbildung gearbeitet, bei einem Bildungsträger. Seine Aufgabe: Langzeitarbeitslose in den Job bringen. Eine Herzoperation 2012 änderte alles. Bei dem Eingriff wurden der Herzmuskel und der Herzbeutel verletzt.

In der Folge hatte Thomas Wasilewski mehrere Infarkte, er war 18 Monate krankgeschrieben und dann für 12 Monate beim Arbeitsamt gemeldet. Er bezog Hartz IV, später Bürgergeld . Weil er „weit weg von voll einsetzbar“ ist, bekommt er keinen Job.

Preise im Supermarkt: „Die verarschen uns doch“

Wer hätte gedacht, dass er einmal in eine Situation kommen würde, die er aus einer anderen Perspektive bereits gut kannte? Wer hätte außerdem gedacht, dass auch seine Frau nie so richtig auf die Füße kommen würde?

Bei der Flucht aus Afrika Anfang der neunziger Jahre brach sie sich drei Rückenwirbel, seitdem gibt es bessere und schlechtere Phasen. Man merkt Thomas Wasilewski an: im Moment eine eher schlechtere. Für die Gesundheit und damit auch für den Geldbeutel der Familie.

Aber er will nicht nur klagen, es gibt auch Positives zu berichten. Die Jungs haben sich prächtig entwickelt. „Als Eltern haben wir gegeben, was wir konnten“ – auch das: eine „Pflicht.“ Sich als Teil einer Gemeinschaft verstehen, den Staat entlasten wollen, zum Beispiel durch heranwachsende Steuerzahler, das seien „Selbstverständlichkeiten“.

Er klingt milde, versöhnlich, wenn er so spricht. Und fast zornig, als er später, nach der zweieinhalbstündigen Tour im Sprinter, den Einkaufswagen durch die Gänge des Discounters schiebt. Von wegen, die Inflation sei zurückgegangen! Kopfschüttelnd deutet er auf die Regale.

Ein einfaches Frittenfett für 2,59 Euro. Olivenöl: 7,69 Euro. Bei der Schokolade bleibt er länger stehen. Greift ein, wie er es nennt, No-Name-Produkt. 100 Gramm für 1,49 Euro. Waren das nicht mal 49 Cent? „Die verarschen uns doch“, murmelt er vor sich hin.

„0,19 Euro“ zeigte der Kontostand

Gerade war er auf der Bank . „0,19 Euro“ zeigte der Kontostand, nachdem er 200 Euro abgehoben hat. Eineinhalb Wochen muss die fünfköpfige Familie jetzt damit auskommen. Das sei eigentlich unmöglich. Aber es muss gehen, irgendwie.

Die Miete der Wasilewskis zahlt das Amt. Dazu kommen 563 Euro Grundsicherung für ihn, 502 Euro für seine Frau und für jedes der Kinder um die 400 Euro. Darin ist das Kindergeld schon enthalten.

Und die Ausbildungsvergütung bei den Jungs? „Wir sind eine Bedarfsgemeinschaft, da wird alles angerechnet, auch die Wohnkosten.“ Es bleibe ein kleines Taschengeld, mehr nicht. Wasilewski nennt sich einen „Aufstocker“, seine Erwerbsminderungsrente würde von den genannten Beträgen in Summe abgezogen. „Für den, der es genau wissen will.“

813 Euro Bürgergeld - was wirklich dahinter steckt

Und wie genau kommt er auf seine Forderung von 813 Euro? „Die habe nicht ich mir ausgedacht, das war der Paritätische Wohlfahrtsverband.“ Der hätte sich die Warenkörbe mal ganz genau angeschaut und festgestellt, wie knapp es für Leistungsbezieher wirklich sei.

Auf Rückfahrt nach Hause, im Bus, ist Thomas Wasilewski erschöpft. Er tut das oft: Erklären, vorrechnen – und es wird doch nie Routine, es belastet. Vor allem in letzter Zeit, da sei es richtig „schmerzhaft“. „Früher hätte man so Asoziale wie dich ins Lager gesteckt“, hat neulich einer gemeint.

Was solle man da noch sagen? Wer glaube ihm noch, „wenn die Worte der Mächtigsten im Land einer einzigen Anklage gleichen“? Klar kennt er auch dieses Argument: Wer schon früh am Morgen für ein Ehrenamt unterwegs sei, könne diese Kraft doch auch in einen Job stecken.

„Länger als zweieinhalb Stunden Einsatz am Stück, das packe ich nicht“, sagt Thomas Wasilewski. Und dass er sich jetzt erst mal hinlegen müssen. Auf die Couch mit den Löchern? „Wenn sie so wollen… ja, auf die.“

In vier Tagen wartet wieder ein Einsatz auf ihn, wie jeden Samstag. Da wird er bei den mobilen „Suppentanten“ stehen, gleich hinter dem Hauptbahnhof. „Sie können ja mal vorbeikommen und sich das anschauen. Die Mütter, die Rentner, die Kranken.“

Scharen von Menschen, die geduldig auf eine Portion warmes Essen warten würden. Menschen, die sich, so glaubt Wasilewski, „warm anziehen können – wenn Friedrich Merz tatsächlich Kanzler wird.“