Sicherheit in Europa - Expertin Franke: Neuer Verteidigungsvertrag mit Großbritannien ist ein zweischneidiges Schwert

Der am 23. Oktober unterzeichnete Vertrag zwischen Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius und seinem britischen Amtskollegen John Healey stärkt die Sicherheits- und Verteidigungskooperation zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich.<span class="copyright">Foto: AFP/Ralf Hirschberger</span>
Der am 23. Oktober unterzeichnete Vertrag zwischen Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius und seinem britischen Amtskollegen John Healey stärkt die Sicherheits- und Verteidigungskooperation zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich.Foto: AFP/Ralf Hirschberger

Die jüngsten Entwicklungen in der europäischen Sicherheitsarchitektur sind beinahe im Nachrichtenstrudel untergegangen. Dabei ist der Vertrag zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich bemerkenswert.Verteidigungsexpertin Ulrike Franke erklärt Hintergründe und Implikationen für die EU.

Was steht in dem Vertrag?

Der am 23. Oktober von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius und seinem britischen Amtskollegen John Healey unterzeichnete Vertrag sieht eine stärkere Kooperation zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich im sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich vor. Ziel des Abkommens ist es, Europas Verteidigungsfähigkeiten zu stärken, und die Interoperabilität und Fähigkeit der Zusammenarbeit der britischen und deutschen Streitkräfte zu verbessern. Die Rüstungsindustrie soll aufgebaut werden. Der Vertrag sieht regelmäßige Treffen zwischen deutschen und britischen Entscheidungsträgern vor. Diskutiert werden soll alles – inklusive Nuklearthemen.

Während der Vertragstext wage bleibt, werden im begleitenden Communiqué mehrere „Leuchtturmprojekte“ aufgezählt, die die beiden Länder zusammen machen wollen. So sollen neue Langstreckenwaffen entwickelt werden, sowie unbemannte Systeme (Drohnen) zu Wasser und in der Luft. Das Engagement beider Länder an der NATO Ostflanke soll verstärkt werden und besser verknüpft, ebenso wie die Zusammenarbeit in Nordsee und Nordatlantik.

Sehr konkret sind die Pläne, dass deutsche P8A-Seefernaufklärer – Überwachungsflugzeuge der Bundeswehr – nun von dem schottischen Stützpunkt RAF Lossiemouth aus operieren sollen, um von dort Überwachungsflüge über dem Nordatlantik auszuführen. Auch wird der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall ein Artillerierohrwerk in Großbritannien eröffnen und dort 400 neue Arbeitsplätze schaffen.

Warum wurde der Vertrag jetzt geschlossen?

Die Motivation der britischen Labour Regierung ist klar: es geht darum, den Brexit hinter sich zu lassen. Acht Jahre nach dem Referendum ist der britische Austritt aus der EU immer noch nicht verarbeitet – zum Teil nicht mal wirklich vollzogen – und beeinflusst weiterhin die britische Politik.

Die im Juli gewählte Labourregierung will mit diesem Vertrag das Signal senden, dass das Vereinigte Königreich wieder mit den EU-Partnern zusammenarbeiten kann. Auch Deutschland möchte Großbritannien wieder als vertrauenswürdigen Partner in Europa sehen, dessen Regierung sich nicht aus wahltaktischen Gründen ständig an Europa abarbeiten muss.

Das ist aber nicht der einzige Grund für den Vertrag. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat den Europäern gezeigt, dass ihre Sicherheit bedroht ist. Diese Realität, gepaart mit der Möglichkeit einer Wahl Donald Trumps in den USA, und dem grundsätzlich sinkenden Interesse der Amerikaner an Europa, bedeutet, dass Europa sich zunehmend um seine eigene Verteidigung kümmern muss. Hier sind insbesondere die großen Staaten gefordert, wie Großbritannien und Deutschland. Die beiden Länder wollen gemeinsam die europäischen Fähigkeiten stärken – etwas, das dringend notwendig ist.

Sind das schlechte Nachrichten für die deutsch-französische Zusammenarbeit?

Eigentlich sollte der Vertrag auch für Frankreich eine gute Nachricht sein. Das Trinity House Agreement schließt das Dreieck: seit 2010 hat Großbritannien einen Vertrag mit Frankreich über die Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich (der „Lancaster House Treaty“). Deutschland und Frankreich haben 2019 den Kooperationsvertrag von Aachen unterschrieben, der auch eine Beistandsklausel enthält. Mit dem deutsch-britischen Vertrag sind die drei größten Länder Europas und wichtigsten Militärakteure (man spricht auch von den „E-3“) nun alle bilateral miteinander verbunden. Für die europäischen Verteidigungsfähigkeiten sind das gute Nachrichten.

Leider sind auch in diesem so fundamental wichtigen Bereich politische Streitereien an der Tagesordnung. So gingen in Paris bei einigen die Alarmglocken an, als sie die Ankündigungen lasen, dass Großbritannien und Deutschland gemeinsam Drohnen produzieren wollen, die neben Kampfflugzeugen operieren können.

Frankreich und Deutschland organisieren gemeinsam mit Spanien seit einigen Jahren das Großprojekt FCAS „Future Combat Air System“. FCAS ist ein gemeinsames Kampfflugzeug, das von Drohnenschwärmen begleitet werden soll. Nun besteht die Sorge, dass die angekündigte britisch-deutsche Kooperation dem deutsch-französischen Projekt das Wasser, beziehungsweise die Finanzierung, abgraben könnte.

Frankreich war allerdings auf der höchsten Ebene in den Entstehungsprozess des Trinity House Treaty eingebunden. Es wird sogar – als einziges Land – namentlich als wichtiger Partner im Communiqué erwähnt. Insofern bleibt zu hoffen, dass die E3 es schaffen, im Verteidigungsbereich gemeinsame Sache zu machen.

Was bedeutet der Vertrag für die Europäische Union?

Ähnlich wie für Frankreich ist der Vertrag – und grundsätzlich die stärkere Einbindung Großbritanniens in die Europäische Verteidigung – auch für Brüssel ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite ist es für die Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeiten unerlässlich, Großbritannien mit an Bord zu haben. Das Land hat eine der fähigsten und erprobtesten Streitkräfte in Europa, ist eine der zwei europäischen Atommächte und hat einen Platz im Sicherheitsrat. Die Verteidigung Europas ohne das Vereinigte Königreich zu planen ist unsinnig.

Gleichzeitig will die EU eine stärkere Rolle in der Verteidigungspolitik. Und Großbritannien hat sich mit dem Brexit nun einmal sehr bewusst aus dem Kreise der EU verabschiedet. Daher möchte Brüssel nicht, dass Großbritannien sich nun die Rosinen aus dem Kuchen picken kann: dort mitmachen, wo es Interesse hat und Geld bekommt, und anderswo nicht.

Es geht ums Prinzip, und es geht um andere Drittstaaten, also europäische Staaten, die nicht in der EU sind, wie Norwegen, oder die Schweiz, die auch an verteidigungspolitischen Kooperationen gerade im industriellen Bereich interessiert sind. Nicht zuletzt geht es ums Geld: Brüssel und viele EU Staaten wollen verhindern, dass Großbritannien am Ende EU-Gelder bekommt, die für die Unterstützung der europäischen Verteidigungsindustrie aufgewendet werden.

Was ist für die Zukunft zu erwarten?

Der Vertrag muss nun mit Leben gefüllt werden. Das Abkommen und Communiqué listet konkrete Projekte auf, aber darüber hinaus bleibt viel Spielraum. Das verteidigungspolitische Abkommen ist Teil eines größeren deutsch-britischen Vertrages, der Anfang nächsten Jahres von Bundeskanzler Olaf Scholz und dem britischen Premier Keir Starmer unterschrieben werden soll. Hier geht es dann um die weitere wirtschaftliche Zusammenarbeit, Migration, und mehr.

Vor diesem Hintergrund haben beide Partner politisches Interesse daran, dass der Verteidigungsvertrag mehr wird, als ein leeres Dokument. Für die Verteidigungsfähigkeit des Europäischen Kontinents ist die Kooperation unerlässlich.