Sigmar Gabriel bei Anne Will: "Wir jagen damit Europa in die Luft"

Die Gäste bei Anne Will erinnern an den europäischen Gedanken, denn der spielt in vielen Mitgliedsländern längst keine Rolle mehr. Foto: ARD / Screenshot
Die Gäste bei Anne Will erinnern an den europäischen Gedanken, denn der spielt in vielen Mitgliedsländern längst keine Rolle mehr. Foto: ARD / Screenshot

In London sind am Samstag fast 700.000 Menschen gegen den Brexit und für eine neue Volksabstimmung auf die Straßen gegangen. Laut jüngsten Umfragen des Europäischen Parlaments sind nur noch 35 Prozent der Briten für den Austritt aus der EU. Seit der letzten Wahl hat sich die Demografie entscheidend geändert: 1,6 Millionen junge Menschen dürfen mittlerweile ihre Stimme abgeben, hingegen sind eine Million alte Wähler verstorben. Und die Brexit-Gegner und Europa-Fürsprecher sind jung, sie kennen nur den geeinten Kontinent und wollen für ihn eintreten. Aber wenn sich nichts ändert, verlässt Großbritannien spätestens Ende März 2019 die EU – noch immer gibt es keine Einigung zwischen London und Brüssel. Deshalb fragt Anne Will im Brexit-Countdown ihre Runde: Was bleibt von Europa?

Von Theresa May blieb in den letzten Wochen vor allem ihr tänzelnder Auftritt beim Parteitag der Tories in Erinnerung. Dabei kann ihr nicht nach Tanzen zumute sein, denn sie bestreitet an zwei Fronten einen Abnutzungskampf: Sie muss weiter hart mit der EU zu verhandeln, um Großbritannien wirtschaftlich nicht zu schwer zu schädigen. Sie muss gleichzeitig vor den „Brexiters“ ein gesichtswahrendes Ergebnis erreichen, weil ihr ansonsten zuhause jederzeit das politische Misstrauen und damit ihre Abwahl droht.

Das erste Wort der Runde erhält der Vertreter der britischen Regierung: „Wir wissen, dass viele Menschen in der EU verbleiben wollen. Aber wir sind ein 50/50 Land, deshalb glaubt Theresa May, dass sie den Brexit durchführen muss. Politik der Regierung ist, den Brexit zu gestalten und gleichzeitig mit Europa eine Partnerschaft und Freundschaft zu haben“, sagt Sir Sebastian Wood, britischer Botschafter in Deutschland. Die ARD-Journalistin Annette Dittert lebt seit zehn Jahren in London, auch sie glaubt nicht an einen Kursumschwung der Regierung: „Der Marsch in London war rührend. Aber er wird ungehört verhallen, weil es keinen politischen Willen gibt für den Verbleib in der EU.“

Sigmar Gabriel, ehemaliger Außenminister, verurteilt vielmehr den Hergang des ersten Referendums: „Es war ein Spiel um Macht und ein unfassbares Beispiel, wie ignorant die Politiker mit der Gesellschaft umgegangen sind. Ich habe bis heute in keinem demokratischen Land Politiker gesehen, die so machtversessen sind. Man muss den Menschen endlich die Wahrheit sagen. Wir jagen mit diesem Experiment Europa in die Luft.“ Auch der Europa-Korrespondent Dirk Schümer der Zeitung “Welt” ist dieser Meinung: „Das Weggehen Englands ist eine historische Katastrophe. England ist die einzige Siegermacht des zweiten Weltkriegs und eine der ältesten und nobelsten Demokratien der Welt. Ich mag mir ein Europa ohne England nicht vorstellen.“

Was ist denn bislang beschlossen?

Theresa May sagte jüngst, der Brexit-Deal seit zu 95 Prozent beschlossen, das Austrittsabkommen und seine Protokolle seien geregelt. Aber was heißt das? „Wir wollen drei Ziele. Das Ergebnis des Referendums respektieren, in Großbritannien eine nationale Migrationspolitik und Handelspolitik einsetzen, und es darf keine neue Grenze zwischen Nord- und Südirland gezogen werden“, sagt Sebastian Wood. Die Grenze zwischen dem EU-Land Irland und der britischen Provinz im Norden, an der Jahrzehnte ein Konflikt mit tausenden Toten herrschte, ist ein zentraler Punkt. Denn ohne Einigung schließen sich am 29. März die Grenzen. Zudem verliert Großbritannien den Zugang zum europäischen Binnenmarkt, also kein freier Verkehr mehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital.

„Da hat sich May von Anfang an Schachmatt gesetzt, weil sie aus dem Binnenmarkt wollte. Sie hat chaotisch verhandelt und sich in eine Falle manövriert, aus der sie jetzt nicht mehr rauskommt“, sagt Annette Dittert. Denn jetzt wolle sie Zugang zum Warenverkehr, aber keine Personenfreizügigkeit anerkennen. Brüssel wirft May schon lange Rosinenpickerei vor. „Die wirtschaftlichen Vorteile Europas genießen, aber den Verpflichtungen nicht nachkommen. Wenn wir das den Briten ermöglichen, ist die Europäische Union im Eimer. Dann wollen alle Länder zurück zum Nationalstaat, mit so einer Vereinbarung serviert man Roberto Salvini die Idee auf dem Silbertablett“, sagt Sigmar Gabriel. Und weiter: Die britische Regierung versuche nur noch, ihre Mehrheit im Parlament zu halten und orientiere sich nicht mehr an der Frage, was richtig sei. Sondern: „Wie verhindere ich, dass mich meine Gegner in der Partei politisch umbringen.“

Zurück zu den Nationalstaaten – das einzige Angebot

Dabei sei die Dynamik in den Mitgliedstaaten Symptom einer langen europäischen Entwicklung und würde Politiker wie Viktor Orbán begünstigen, sagt Dirk Schümer: „Brüssel will ein Europa der Nationalstaaten verhindern. Deshalb ist die EU mit Großbritannien weniger handlungsbereit, als sie sein könnte. Sie will die rote Linie zeigen. Aber der Brexit ist nur ein Baustein in einer viel größeren europäischen Krise. Der wackelige Währung im Euro, wie man in Griechenland, Portugal, Spanien und Irland sehen konnte. Die geplante europäische Verfassung, die in Frankreich und Holland abgelehnt wurde.“

Sigmar Gabriel, Sozialdemokrat durch und durch, glaubt, dass sich Menschen aus einem Grund vor allem emotional von der EU verabschieden: „Der Binnenmarkt alleine bedeutet nichts anderes als Wettbewerb um die schlechtesten Löhne, die miesesten Sozialabgaben und die möglichst große Chance, Steuern zu vermeiden. Da bekommen Menschen das Gefühl, sie werden nur gegeneinander in Stellung gebracht.“ Der Zeitpunkt für eine europäische Krise sei denkbar schlecht, fährt er fort. Denn die Welt ändere sich dramatisch. „Nur wenn Europa zusammenheilt, haben wir in der Welt von morgen eine Stimme, dafür reicht ein Binnenmarkt nicht aus. Sondern eine gemeinsame Außenpolitik, eine gemeinsame Verteidigungspolitik muss dazukommen. Das eigentliche Versprechen der EU war mehr Wohlstand für alle. Stattdessen werden Reiche reicher und Arme ärmer. Und als politisches Alternativangebot liegt in vielen Ländern nur der Nationalstaat auf dem Tisch.“

Daher siegen in vielen Ländern die Nationalisten: „Europa scheitert aus dem Innern. An Polen, Ungarn und Italien. Der Brexit wird geschehen. Aber Polen wird in ein autokratisches System verwandelt und verabschiedet sich von den gemeinsamen, europäischen Werten“, sagt Annette Dittert.

Nochmal Sigmar Gabriel zum Schluss: „Europa ist das einzige Beispiel, das in nur einer Generation aus erbitterten Feinden Partner und Freunde gemacht hat. Denn es war sicher nicht populär, uns brandschatzende Deutsche nach dem zweiten Weltkrieg in einen Staatenbund einzuladen. Heute gibt es keine Region der Welt, in wir so sicher, so sozial, so demokratisch leben, aber auch so viel Widersprüche haben. Es ist ein Schatz, den unsere Eltern und Großeltern für uns angehäuft haben. Trauen wir uns, den Ursprungsgedanken der EU wieder zu unserem Ziel zu machen: Für alle bessere Lebensbedingungen herzustellen. Dann kann Deutschland aber nicht mehr wegschauen, wenn es anderen schlecht zu geht.“