Sigmar Gabriel im FOCUS-Interview - Chaos bei Thyssenkrupp: „Was da passiert, nähert sich einem Wirtschaftskrimi“
Bei Thyssenkrupp Steel sind mehrere Aufsichtsräte zurückgetreten - darunter Sigmar Gabriel. Im Interview mit FOCUS spricht er über die Hintergründe, den Führungsstil des Konzernvorsitzenden Miguel Lopez und seine eigene Zukunft.
FOCUS: Herr Gabriel, der Showdown in der Führung von Thyssenkrupp Steel Europe (TKSE) am Donnerstag dürfte in der deutschen Wirtschaftsgeschichte einzigartig gewesen sein: Sie als Aufsichtsratschef traten ebenso zurück wie drei weitere Mitglieder des Kontrollgremiums. Auch Vorstandschef Bernhard Osburg und zwei seiner Vorstandskollegen legten ihre Ämter nieder. Was war da los?
Sigmar Gabriel: Noch vor 14 Tagen hätten wir das Drama verhindern können. Aber dann geschahen Dinge, die ich so nicht für möglich gehalten hätte.
Was genau?
Gabriel: Miguel Lopez, CEO der Konzernmutter Thyssenkrupp AG (TKAG), hat unsere Vorstände mit einer beispiellosen öffentlichen Kampagne so diskreditiert, dass sie am Ende nicht mehr konnten. Keiner der Vorstände wäre freiwillig gegangen, wenn Herr Lopez nicht massiv ihre Reputation öffentlich infrage gestellt hätte und damit keinerlei vertrauensvolle Zusammenarbeit mehr im Sinne des Unternehmens möglich gewesen wäre.
Aber er wird doch Gründe dafür gehabt haben, oder?
Gabriel: Im Kern geht es seit Jahren bei der TKAG immer um das Gleiche: Die Stahlbranche soll verselbstständigt werden. Seit 2006 war das der vierte Versuch. Und immer fehlen am Ende zwischen 1,5 und 2,5 Milliarden Euro, die von der TKAG bezahlt werden müssten, um die Verselbststängigung zu finanzieren. Das kann oder will die Eigentümerin aber nicht.
Wie hängt das mit Herrn Lopez zusammen?
Gabriel: Er wollte zeigen, dass er das schafft, in dem er die Wirtschaftlichkeitspläne des Stahlunternehmens so beeinflusst, dass die Finanzierungslücke quasi über Nacht verschwindet. Als er feststellen musste, dass das so einfach nicht geht, machte er es dem Stahlvorstand zum Vorwurf und betrieb dessen Entlassung.
Jetzt wird's klarer.
Gabriel: Das war schon deshalb nicht überzeugend, weil die drei Versuche davor mit ganz anderen Vorständen auch immer an dieser Finanzierungslücke gescheitert sind. Das Stahlunternehmen schleppt einfach zu viele Altlasten mit sich herum, die alle nicht durch Entscheidungen im Stahl entstanden sind, sondern alle in der Verantwortung der Eigentümerin liegen.
Zum Beispiel?
Gabriel: Die TKSE zahlt jedes Jahr viel Geld für inzwischen sehr teure CO2-Zertifikate, während sich andere Stahlunternehmen rechtzeitig zu besseren Preisen damit eingedeckt haben. Genau das aber hatte die TKAG dem Stahlvorstand ausdrücklich verboten. Dafür gibt es viele Beispiele. Herr Lopez war der Meinung, die Schließung der Deckungslücke scheitere ausschließlich am Versagen des Stahlvorstands, was - mit Verlaub - einfach Unsinn ist.
Warum?
Gabriel: Die Probleme der TKSE liegen viel tiefer und wir waren mit Erfolg dabei, sie zu beseitigen und dann die Verselbständigung in Angriff zu nehmen. Offenbar hatte Herr Lopez denjenigen, die ihn eingestellt haben, aber versprochen, dass er das viel schneller schafft. Und als das nicht klappte, brauchte er einen Schuldigen. So einfach ist das leider. Aber eben auch so bitter.
Sie sprachen am Donnerstag von einer „beispiellosen Kampagne“ und einem „schweren Vertrauensbruch“ durch Herrn Lopez.
Gabriel: Ich muss zum Verständnis noch mal kurz zurück: Wir hatten im Aufsichtsrat am 9. August konstruktiv getagt. Es war immer klar, dass der Versuch, die TKSE zu verselbständigen, eine Finanzierungslücke aufreißen würde.
Die fehlende Deckung liegt je nach Rechnung mal bei 1,5, mal bei 2,5 Milliarden Euro, wie Sie bereits erklärten.
Gabriel: Genau. Meine Idee war es, diese Debatte von der dringend erforderlichen Restrukturierung zu trennen. Das Elend geht ja zurück bis in die Zeit der Fusion von Thyssen und Krupp. Die Modernisierung ist in vollem Gange, wenn auch längst nicht abgeschlossen.
Viele, die länger dabei sind als ich, hielten das übrigens für die beste Debatte, die die Stahlsparte je hatte. Am Ende der Sitzung wurde vereinbart, der Öffentlichkeit vorzustellen, wie weit wir sind und das von keiner Seite zu kommentieren. Daran haben sich alle gehalten – bis auf Herrn Lopez.
Wie haben Sie reagiert?
Gabriel: Ich habe ihn zur Rede gestellt. Er hat zwar das Recht, Vorstände auszutauschen. Aber dann setzt man sich leise zusammen und regelt das anständig. Man schießt die in Ungnade Gefallenen nicht wochenlang öffentlich kaputt. Das verunsichert das ganze Unternehmen, wo gerade Großprojekte angeschoben werden.
Da war wohl keine Zusammenarbeit mehr möglich.
Gabriel: Herr Lopez sah das alles anders und ließ seit Wochen permanent direkt und am Aufsichtsrat der TKSE vorbei in das Stahlunternehmen hinein intervenieren. Für Frau Eller und mich war klar, dass die Geschäftsgrundlage für unsere Tätigkeit im Aufsichtsrat nicht mehr vorhanden war.
Denn wir waren unter der Vorgängerin von Herrn Lopez, Martina Merz, ja darum gebeten worden, dem Aufsichtsrat beizutreten, um ihn unabhängiger von der AG zu machen und damit die Integrität des Prozesses der Verselbstängigung zu stärken. Herrn Lopez und offenbar auch sein Aufsichtsrat waren anscheinend gegenteiliger Ansicht. Also sind wir gegangen.
Ihr Aufsichtsrats-Vize Dieter Wetzel bezeichnete die Vorsitzende der mächtigen Krupp-Stiftung, Ursula Gather, als Treiberin hinter den Attacken. Sie auch? Was steckt wirklich hinter der Eskalation?
Gabriel: Ich will mich öffentlich nicht zu Frau Gather äußern. Sie hätte sicher diesen irrsinnigen Prozess der letzten Wochen stoppen können. Tatsache ist leider, dass sie es nicht getan hat.
Es geht nicht um Geschäft und Strategie, sondern um Rache?
Gabriel: Bei Herrn Lopez gewiss. Aber das ist nicht der Kern des Problems: Hier ist jahrzehntelang zugesehen worden, wie ein einstmals großes Industrieunternehmen immer schwächer wurde. Und statt darauf zu reagieren, ist immer gehofft worden, irgendjemand würde den Stahl übernehmen und dann würde der neue Eigentümer die Probleme lösen.
Und da die Not im Konzern auch immer größer wurde, hat man die Stahl AG nicht angemessen für Modernisierungsinvestitionen und Krisenvorsorge ausgestattet. Das Ergebnis sehen wir jetzt.
Ihre Kritik richtet sich auch an den Aufsichtsratschef des Mutterkonzerns, Siegfried Russwurm. Der ist immerhin im Hauptberuf BDI-Präsident. Was werfen Sie ihm vor?
Gabriel: Mir ist schleierhaft, wie so ein kluger und erfahrener Mann quasi einen Freibrief für seinen CEO ausstellen konnte. Oder wieso man ein so zwielichtiges Unternehmen wie Götz Partners, dessen Chef in Untersuchungshaft sitzt, als Beratungsunternehmen für Herrn Lopez zuließ. Aber wir werden sicher Gelegenheit finden, darüber in Ruhe zu sprechen, wenn der Pulverdampf verzogen ist.
In einer anderen Affäre sitzen die beiden bekannten Münchener Unternehmensberater Stephan Goetz und Stefan Sanktjohanser mittlerweile in Untersuchungshaft.
Gabriel: Mir war deren Gebaren und Rolle bei uns von Anfang an verdächtig.
Welche Rolle spielt der tschechische Investor Daniel Kretinsky, dem schon 20 Prozent der Stahlsparte gehören? Glücklich kann der nicht sein.
Gabriel: Ist er auch nicht. Die Diskussionen mit ihm waren jedenfalls immer um Welten gehaltvoller und konstruktiver als die mit Thyssenkrupp. Kretinsky war ausgespochen angenehm im Umgang und hätte auch zuletzt noch einen Lösungsvorschlag gehabt, für den es dann aber zu spät war.
Was wird nach Ihrem Abgang jetzt geschehen?
Gabriel: Erst mal gar nichts, fürchte ich. Man wird weiter Zeit und Geld verlieren und beim Stahl einen Vorstand installieren, der das tut, was Herr Lopez für richtig hält. Top-Leute können das nicht sein, denn die sind gerade gegangen.
Auf dem Papier wird Herr Lopez dann einen Business Case haben. Aber in der Realität zählen nur echte Zahlen. Und die Deckungslücke wird bleiben. Sie wird sogar eher noch wachsen, fürchte ich. Für mich nähert sich das einem ausgewachsenen Wirtschaftskrimi, was da passiert.
Ist der Niedergang des Stahls ein weiter Mosaikstein im Bild einer deindustrialisierten Bundesrepublik?
Gabriel: Was hier nun passiert ist, kann man nur verstehen, wenn man sich den Niedergang von Thyssenkrupp in den vergangenen 20 Jahren anschaut. Und da will ich erst mal nicht auf globale Entwicklungen eingehen. Da gab es jede Menge Fehlentscheidungen im Management.
Das Unternehmen starb jedes Jahr ein bisschen mehr?
Gabriel: Es hat jedenfalls immer mehr die Orientierung verloren.