Sinkende Mieten ohne Preisbremse - Vorbild Argentinien? Was passiert, wenn sich der Staat aus der Wirtschaft raushält
Argentiniens umstrittener Präsident Javier Milei setzte kurz nach Amtsantritt vor einem Jahr ein Mieterschutzgesetz außer Kraft. Seitdem sind die Mieten inflationsbereinigt um 40 Prozent gesunken. Als Beispiel für Deutschland taugt das aber kaum.
Argentiniens Mietmarkt boomt: Von Oktober vergangenen Jahres bis heute sind die durchschnittlichen Mieten in der Hauptstadt Buenos Aires inflationsbereinigt um 40 Prozent gefallen, das Angebot an Mietwohnungen hat sich um 170 Prozent erhöht, also fast verdreifacht. Als Grund dafür gilt Argentiniens neuer Präsident Javier Milei. Der 53-Jährige wurde im vergangenen Dezember gewählt und als eine seiner ersten Amtshandlungen schaffte er zahlreiche Mieterschutz-Gesetze ab. Dazu zählt etwa eine Mietpreisbremse. Milei gilt als Libertärer. Das bedeutet, er vertritt die Ansicht, dass sich der Staat weitestgehend aus dem Wirtschaftsleben heraushalten solle und der Markt sich selbst zum Wohle aller regulieren werde. Das entspricht in Grundzügen den Ansichten der FDP in Deutschland, Milei treibt die Ideologie aber auf die Spitze. Er wird deswegen auch oft als „Anarchokapitalist“ bezeichnet. Doch was steckt hinter dem Mietwunder? Weniger, als die spektakulären Zahlen andeuten. Das müssen Sie dazu wissen:
Welche Gesetze hat Milei genau aufgehoben?
Hauptsächlich geht es um zwei Regeln, die der Präsident abschaffte. Das eine ist eine Mietpreisbremse, nach der Vermieter die Miete nur um einen bestimmten Prozentsatz anheben durften, der jährlich von der argentinischen Zentralbank neu angesetzt wurde. Das andere ist die Verpflichtung, das Mietverträge statt zwei mindestens drei Jahre unverändert gültig sein müssen, bevor sie erneuert werden. Beide Gesetze hatte Mileis Vorgänger Alberto Fernandez mit seiner Regierung beschlossen.
Warum hat die Aufhebung der Gesetze so große Auswirkungen?
Die Mieterschutzgesetze der vorherigen Regierung fielen nicht vom blauen Himmel, sondern haben auch eine Vorgeschichte. Argentinien leidet schon seit Jahrzehnten immer wieder unter Phasen extremer wirtschaftlicher Schwäche. Mehrmals kam es schon zum Staatsbankrott, zuletzt 2014. Auch seit 2018 steckt das Land wieder in einer Krise. Als Folge davon steigt die Inflation stark an. Lag sie schon 2013 bei hohen 10 Prozent, ging es diesen März auf den Rekordstand von 287,9 Prozent nach oben. Seitdem ist die Teuerung auf 237 Prozent gefallen. Weil es vorher keine Mindestdauer für Mietverträge gab, erhöhten also Vermieter jährlich die Preise für Wohnungen entsprechend der Inflation. Das führte zu stark steigenden Mieten. Die Gesetze der Regierung Fernandez sollten dem also Einhalt gebieten. Das gelang auch, aber mit dem Haken, dass viele Vermieter gerade in Großstädten ihre Wohnungen dann lieber vom Markt fernhielten oder als Ferienziele für Touristen anboten, die in anderen Währungen, zum Beispiel US-Dollars, bezahlten. Schließlich lohnt sich eine Vermietung kaum, wenn die Mietpreise wenig steigen, alle anderen laufenden Kosten aber entlang der irrsinnig hohen Inflationsrate.
Die Aufhebung der Mieterschutzgesetze macht Vermieten jetzt also wieder attraktiver. Entsprechend kamen viele Wohnungen, die zuvor leer standen, wieder auf den Markt, was den enormen Anstieg auf der Angebotsseite erklärt. Weil sich das Angebot so stark erhöhte, konnten Vermieter im Wettbewerb eben auch die Mieten nicht so stark erhöhen wie die Inflation zulegte.
Das ist doch super: Mehr Wohnungen, günstigere Mieten…
Jein, die Sache hat natürlich mehrere Haken. Die Mieten sind nicht um 40 Prozent gefallen, sondern nur um 40 Prozentpunkte weniger stark gestiegen als die Inflation. Da letztere bei 237 Prozent liegt, stiegen die Mieten also im Vergleich zum Vorjahr um 197 Prozent. Das ist immer noch eine Verdreifachung. „Ich wohne mit meiner Mutter zusammen. Wir hätten unseren Vertrag im Dezember verlängern müssen. Sie wollten die Miete um das Achtfache erhöhen“, sagt Genaro Villar Mastino (18), gegenüber Spiegel Online , „wir mussten in eine kleine Wohnung umziehen. Die Hälfte des Einkommens meiner Mutter als Lehrerin geht jetzt für die Miete drauf.“ Ohne Mieterschutz dürfen die Mieten jetzt mindestens jährlich, teils vierteljährlich neu angesetzt werden. Tatsächlich stiegen sie deswegen nie so stark wie zuletzt im August – um fast 250 Prozent gegenüber dem Vorjahr für Mietverträge mit jährlichen Anpassungen. Gerade Geringverdiener hätten mittlerweile kaum noch Chancen auf bezahlbaren Wohnraum. Eine Auswertung des Wirtschaftsinstitutes Centro de Estudios Económicos y Sociales Scalabrini Ortiz (CESO) ergab, dass der argentinische Mindestlohn aktuell nur für rund die Hälfte der Mietkosten einer typischen Einzimmerwohnung in Buenos Aires reichen würde.
Dabei ist es nicht einmal so, dass Vermieter sich damit nun eine goldene Nase verdienen würden. „Die Mieten in Argentinien sind auch in der jüngeren Vergangenheit jedes Jahr um zweistellige Prozentzahlen gestiegen. Trotz der Mieterhöhungen bleibt der Mietmarkt aber unattraktiv für Vermieter und Immobilien-Investoren wegen der hohen Inflation und niedrigen Renditen“, schreibt der Global Property Guide in seiner Übersicht zu Argentinien. Dem Online-Magazin zufolge liegen die Mietrenditen in den größten Städten des Landes bei 2 bis 6 Prozent pro Jahr. Bei jährlichen Betriebsausgaben von rund 2 Prozent des Immobilienwertes bleibt da vielfach kaum ein Profit übrig.
Was kann Deutschland aus dem argentinischen Beispiel lernen?
Deutsche Politiker haben das Thema bisher nicht aufgegriffen, konservative und libertäre Medien feiern die Abschaffung des Mieterschutzes in Argentinien durch Milei aber als großen Erfolg und Beweis dafür, dass der Markt sich selbst besser regele als der Staat es könne. Das mag in einigen Bereichen auch stimmen, doch das argentinische Beispiel ist ein schlechtes dafür, dass auch Deutschland Mieterschutzregeln oder Auflagen für Vermieter in großem Maß abbauen sollte. Die Mieten steigen hierzulande schließlich auch mit regionalen Mietpreisbremsen munter weiter. 2023 ging es im Schnitt um knapp 5 Prozent nach oben. Das war nur leicht unter der Inflationsrate von 5,9 Prozent. Bei Neubauten liegen die Steigerungen deutlich höher.
Deutschlands Problem sind entsprechend nicht zu niedrige Mieten oder eine zu hohe Inflation wie in Argentinien, sondern, dass zu wenig neue Wohnungen gebaut werden. Das wiederum liegt zwar zum Teil auch an mangelnden Fördergeldern des Staates sowie strengen Bauauflagen und viel Bürokratie, hauptsächlich aber an den seit 2022 stark gestiegenen Baukosten und Bauzinsen.
Deutschlands größter Immobilienkonzern Vonovia gab gerade dies als Gründe dafür an, dass der geplante Bau von 60.000 neuen Wohnungen im Land 2023 gestoppt wurde. „Bei Objekten, die wir früher für zwölf Euro Kaltmiete pro Quadratmeter anbieten konnten, müssten wir jetzt eher Richtung 20 Euro gehen“, sagte Vonovias Chief Development Officer Daniel Riedl damals zu der Entscheidung. Solche Preise seien „völlig unrealistisch“.
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Leerstandsquote sinkt in Deutschland seit Jahren
Anders als in Argentinien gibt es in Deutschland auch nicht das Problem, das massenhaft Wohnungen vorhanden sind, aber nicht vermietet werden. Die Leerstandsquote sinkt seit Jahren. Lag sie 2006 noch bei 4,1 Prozent aller Wohnungen, waren es 2022 nur noch 2,5 Prozent. Das ermittelt das Analyseinstitut empirica jährlich. Gezählt werden dabei nur „marktaktive“ Wohnungen, also solche in einem Zustand, in dem sie direkt vermietet werden könnten. Gerade in Großstädten ist Leerstand quasi nicht existent – anders als etwa in Buenos Aires. Insgesamt stehen in Deutschland laut dem aktuellen Zensus 1,9 Millionen Wohnungen leer. Der Großteil davon wäre aber erst nach aufwendiger Sanierung überhaupt bewohnbar.
Die meisten leeren Wohnungen finden sich in ländlichen Gegenden weit abseits der Ballungszentren, also in Regionen, die schon seit Jahrzehnten mit der Abwanderung ihrer Bevölkerung kämpfen müssen. Die gesamte Leerstandsquote liegt damit bei 4,3 Prozent, was unter Ökonomen als akzeptabler Wert angesehen wird. Dass die Rate 2022 gegenüber dem Vorjahr von 2,8 auf 2,5 Prozent sank, hängt auch mit der großen Zahl ukrainischer Kriegsflüchtlinge zusammen, die in diesem Jahr nach Deutschland kamen.