Soldaten-Mangel im Ukraine-Krieg - Häftlinge an der Front: „Sie werden oft in die sogenannten 'Fleischwölfe' geschickt“

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Ukraine-Krieg: Ein ukrainischer Soldat.Evgeniy Maloletka/AP

Die Ukraine braucht dringend neue Soldaten und greift dafür zu einer extremen Maßnahme: Häftlinge werden an die Front geschickt. Russland macht das schon länger. Doch es gibt Unterschiede beim Einsatz von Gefangenen, erklärt Experte Gerhard Mangott.

Der Ukraine fehlt in ihrem Verteidigungskrieg gegen Putins Truppen die wichtigste Ressource: Soldaten. Der Konflikt, der seit dem Einmarsch Russlands mehr als zweieinhalb Jahre andauert, hat viele Menschen das Leben gekostet. Täglich fallen Soldaten an der Front - auf beiden Seiten.

Zur Abwehr des Aggressors hat das ukrainische Parlament nun im Mai ein Gesetz verabschiedet, das es Straftätern unter bestimmten Bedingungen erlaubt, vom Gefängnis an die Front zu gehen. Ein Schritt, den der Aggressor schon lange vorher unternommen hatte.

Häftlinge an der Front: Es gibt Unterschiede zwischen Russland und der Ukraine

Russland hat bereits im Sommer 2022, wenige Monate nach dem Einmarsch in die Ukraine, damit begonnen, Häftlinge zu rekrutieren. Es gibt jedoch Unterschiede auf beiden Seiten, was den Einsatz von Verbrechern betrifft, erklärt Gerhard Mangott, Experte für den Krieg in der Ukraine und Russland-Kenner, im Gespräch mit FOCUS online.

„Der moderne industrielle Krieg, wie wir ihn mit dem Ersten Weltkrieg und den nachfolgenden Kriegen erlebt haben, wurde in der Regel von offiziellen Armeen mit regulären Soldaten geführt“, sagt Mangott. Bei einem Mangel an Soldaten wurde jedoch versucht, aus allen möglichen Bereichen der Gesellschaft zu rekrutieren.

Zeichen dafür, dass die normalen Rekrutierungsmechanismen nicht funktionieren

„Wenn Häftlinge rekrutiert werden, ist das immer ein Zeichen dafür, dass die normalen Rekrutierungsmechanismen nicht funktionieren oder nicht ausreichen, weil man eben über diese normale Rekrutierung nicht genügend Soldaten für die Front hat.“ Diese Probleme sieht der Experte auf der ukrainischen Seite.

„Es ist klar, dass die ukrainische Seite Rekrutierungsprobleme hat, die nicht vollständig durch die Herabsetzung des Mobilisierungsalters von 27 auf 25 Jahre gelöst werden konnten“, so Mangott. Daher sei es auch für die Ukraine dringend notwendig, solche Leute an die Front schicken zu können.

Nicht jeder ukrainische Häftling darf an die Front - anders in Russland

Aber nicht jeder, der im Gefängnis sitzt, darf an die Front. Ausgeschlossen sind insbesondere diejenigen, die wegen Korruptionsdelikten oder Verstößen gegen die Sicherheit des Landes rechtskräftig verurteilt wurden. Auch Sexualstraftäter können ihre Haftstrafe nicht durch einen Fronteinsatz ersetzen. Dagegen können Personen, die wegen eines Mordes inhaftiert sind, in die Armee eintreten. Mehrfachmörder sind wiederum von dieser Möglichkeit ausgeschlossen.

„Das ist in Russland anders“, sagt Mangott. Dort könne sich jeder Straftäter, unabhängig von seiner Tat, für den Fronteinsatz melden oder unter Druck gesetzt werden, dies zu tun. „In Russland gibt es keine Ausschlüsse. Ein großes Problem dabei ist, dass solche Häftlinge, wenn sie nach einem halben Jahr aus dem Dienst ausscheiden, oft weiter kriminell aktiv werden und erneut im Gefängnis landen.“

Diese Herangehensweise habe auch zur Folge, dass Russland mehr Häftlinge an die Front schickt als die Ukraine. „In Russland ist die Quantität der eingesetzten Häftlinge sicherlich höher, und auch die Qualität der Strafgefangenen anders, da niemand ausgeschlossen wird“, sagt der Experte. Aber in beiden Fällen zeige der Einsatz von Häftlingen, dass zusätzliche Soldaten benötigt werden.

Tausende Häftlinge gehen in der Ukraine lieber an die Front als ins Gefängnis

In der Ukraine haben bereits mehrere Tausend Häftlinge von dem Angebot, Knast gegen Front zu tauschen, Gebrauch gemacht. Wie das „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (RND) berichtet, hat die Sturmeinheit der UVA in der zentralukrainischen Region Dnipro 170 von ihnen ausgebildet, 30 weitere werden derzeit trainiert.

„Ich bin absolut zufrieden, hier ist es viel besser als im Gefängnis“, sagt ein Häftlingssoldat im Gespräch mit dem RND. „Man bekommt die Chance, sein Leben zu ändern.“ Niemand habe ihn gezwungen, das Angebot anzunehmen. „Das war meine Wahl.“

Ein anderer Soldat sagt: „Ein Fronteinsatz kann mich danach absolut nicht schockieren.“ Ein Kamerad sieht das ähnlich und sagt: „Im Gefängnis herrschen wirklich schlimme Bedingungen, man wird behandelt wie ein Sklave.“ Ein weiterer sagt: „An der Front hat man die Chance, nützlich für die Gesellschaft zu sein. Im Gefängnis ist man nicht nützlich.“

Auch die Ausbilder in der Truppe zeigen sich zufrieden mit ihren neuen Soldaten: „Die Ex-Häftlinge sind hochmotiviert, das macht unsere Arbeit einfacher. Sie sind viel motivierter als Wehrpflichtige. Ich arbeite lieber mit ihnen zusammen. Sie sind sehr diszipliniert und befolgen Befehle, sobald man sie gibt“, sagt ein Soldat gegenüber dem RND.

„Sie werden oft in die 'Fleischwölfe' geschickt“ – wo die meisten erschossen werden

„Auch auf der russischen Seite muss man sagen, dass es für Schwerverbrecher an der Front angenehmer sein kann als im Gefängnis“, erklärt Mangott. Die Haftbedingungen in den russischen Strafkolonien seien oft gesundheitsgefährdend und psychisch belastend. Es gebe Mangelversorgung, Unterernährung und unzureichende medizinische Betreuung. „Für jemanden, der beispielsweise als Mörder lebenslang im Gefängnis sitzt, ist die Aussicht, an die Front zu gehen und begnadigt zu werden, oft eine attraktivere Wahl.“

Zwar sind die Häftlinge durchaus eine Bereicherung für die Armeen und sie durchlaufen auch eine Kurzausbildung, „aber sie werden natürlich nicht für anspruchsvolle Aufgaben eingesetzt“, so Mangott. Ganz im Gegenteil: „Sie werden oft in die sogenannten 'Fleischwölfe' geschickt, wo immer neue Infanteriewellen auf Verteidigungsanlagen zustürmen und die meisten von ihnen erschossen werden.“

„Dennoch“, so der Experte aus russischer Perspektive, „haben sie den Vorteil, dass sie tote Ukrainer verursachen und Verteidigungsanlagen entdecken oder Schwächen in diesen aufdecken können. Man setzt also viele Menschenleben für relativ begrenzte militärische Erfolge ein.“

„Wenn die Wertschätzung für die Soldaten fehlt, sei das aus Sicht der russischen Generalität in Ordnung“, sagt Mangott. „An der Front, wo Infanterietruppen sich gegenseitig bekämpfen und viele Soldaten in den Kämpfen fallen, mag die Generalität zynisch denken, dass es weniger schlimm ist, wenn ein Häftling stirbt, als ein unschuldiger Soldat aus der Zivilbevölkerung.“

Mangel bleibt bei Ukrainern bestimmendes Thema

Aber der Mangel ist und bleibt das beherrschende Thema auf ukrainischer Seite. Neben Soldaten fehlt es den Truppen an Munition. „Der größte Mangel besteht bei der Luftabwehr“, sagt Mangott. „Obwohl viel versprochen wurde, wurde weniger geliefert als zugesagt.“

Auch bei 155-mm-Artilleriegranaten gebe es Versorgungsschwierigkeiten. Die russische Armee besitze deutlich mehr davon als die ukrainische. „Die Ukraine versucht, neue Brigaden aufzustellen, kann diese aber oft nicht vollständig ausrüsten, da die westlichen Lieferungen nicht ausreichen. Deshalb greift sie auf alles zurück, was verfügbar ist.“ Dazu gehören etwa erbeutete russische Haubitzen oder unzuverlässige Granaten aus Pakistan, berichtet das RND.

Auch Einkäufe auf dem Schwarzmarkt seien eine Option, bestätigt Mangott. Das gilt jedoch nicht für Luftabwehrsysteme mittlerer Reichweite. „Die gibt es nur von den Rüstungsindustrien der Länder, die sie herstellen.“

Artilleriemunition könne man zwar auf dem Schwarzmarkt kaufen, aber zu horrenden Preisen. Das sei dann auch eine Frage der Finanzierbarkeit für die ukrainische Seite. „An leichter Bewaffnung oder Ausrüstung, die ein Soldat braucht, kann man einiges kaufen. Aber auch bei Sturmgewehren gibt es auf der ukrainischen Seite Mängel“, sagt der Experte.