Soleil Shahin im Interview - Nach Abschiebung von Kriminellen macht Taliban-Sprecher Ansage an Deutschland
Nach der Abschiebung von kriminellen Afghanen aus Deutschland spricht zum ersten Mal ein Taliban-Sprecher mit deutschen Medien. Er behauptet im exklusiven FOCUS online-Interview, dass es, entgegen den offiziellen Beteuerungen der deutschen Regierung, durchaus direkte Gespräche gibt.
FOCUS online: Vor einigen Tagen wurden von der deutschen Regierung einige Ihrer Landsleute nach Kabul abgeschoben, sie hatten in Deutschland schwere Straftaten verübt. Zunächst wurden sie im Gefängnis in Kabul festgehalten, anschließend aber wieder freigelassen. Warum?
Soleil Shahin: Die abgeschobenen Afghanen sind unsere Bürger. Nach gründlichen Untersuchungen haben wir festgestellt, dass in Afghanistan keine Strafverfahren gegen sie vorliegen. Wenn es so wäre, würden wir sie auf dieser Grundlage ins Gefängnis stecken. Sie würden selbstverständlich einem Richter vorgeführt werden, welcher dann ein Urteil über sie fällen würde.
Wenn uns jedoch keinerlei Strafverfahren aus der Vergangenheit gegen sie vorliegen und ihre Verwandten oder Freunde zudem noch eine Zusicherung, eine Art Garantie dafür geben, dass sie in Zukunft keinerlei Straftaten begehen werden, dann lassen wir sie frei.
Ein weiterer Aspekt ist, dass Afghanistan und Deutschland kein Abkommen darüber haben, welches die Verantwortung für beide Seiten festlegt, wenn kriminelle Personen nach Afghanistan abgeschoben werden oder andersherum aus Afghanistan abgeschoben werden.
Ich denke, zunächst sollten sich beide Länder zusammensetzen, verhandeln und ein Abkommen unterzeichnen, damit das alles klar geregelt ist. Nur dann kann man uns mit dem Verweis auf die Vereinbarung fragen, was diesbezüglich getan wurde.
Demnach würden dann Personen nach afghanischem Recht nicht zur Rechenschaft gezogen werden, die in Deutschland eine Straftat begangen hatten?
Shahin: Uns liegen keine vollständigen Informationen über die in Deutschland begangenen Straftaten vor. Diese wurden mit uns nicht geteilt. Zudem gibt es keine Vereinbarung zwischen beiden Ländern und keinerlei Verpflichtungen.
Diese Personen wurden mithilfe der Vermittlung eines Staates, mit dem wir freundschaftliche Beziehungen führen, zu uns eingeflogen. Wir haben diese deutsche Maßnahme lediglich vorläufig unterstützt.
Es war für die Deutschen eine Herausforderung, wie sie die Personen nach Afghanistan abschieben können. Wir haben es akzeptiert, während es absolut keine vertragliche Verpflichtung diesbezüglich gibt.
Werden Sie weitere abgeschobene Afghanen aus Deutschland bei sich aufnehmen?
Shahin: Ja.
Wenn künftig erneut Afghanen abgeschoben werden: Sollten Ihrer Meinung nach die Taliban direkt mit der deutschen Regierung verhandeln? Oder sollte eine dritte Partei involviert sein?
Shahin: Ja, aus unserer Sicht sollten beide Länder direkt miteinander verhandeln. Wir führen direkte Verhandlungen mit den Vereinten Nationen, unsere Diplomaten sind in etwa 40 weiteren Ländern niedergelassen, die uns und der afghanischen Gemeinschaft konsularische Dienste erweisen.
Auch in Deutschland sollte das der Fall sein, da wir dort eine große afghanische Gemeinde haben. Afghanischen Bürgern sollten diese konsularischen Dienste ebenso zur Verfügung stehen.
Ein weiteres Problem ist, dass viele afghanische Bürger Kontakt mit den deutschen Behörden aufnehmen, aber ihre Dokumente werden nicht bearbeitet.
Das ist nicht in Ordnung. In Deutschland und anderen europäischen Ländern verlangen einige Beamte, es sind Diplomaten der früheren afghanischen Regierung, für konsularische Dienstleistungen oft viel mehr Geld, als gesetzlich vorgeschrieben ist. Wenn die Gebühr beispielsweise 10 Dollar beträgt, verlangen sie 100 Dollar und stecken alles in ihre eigenen Taschen.
Was sollte aus Ihrer Sicht mit afghanischen Staatsbürgern geschehen, die die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen und ein Verbrechen begangen haben, wenn sie nach Kabul abgeschoben werden?
Shahin: Wenn sie nach Afghanistan kommen, prüfen wir, ob sie ein kriminelles Register in Afghanistan haben. Wir überprüfen jedoch keine Informationen aus Deutschland und haben auch keine Befugnis dazu. Wenn wir keinerlei Beweise gegen diese Menschen haben, dann ist es doch logisch, dass sie uns fragen, auf welcher Grundlage wir sie bestrafen?
Was für eine Art von Abkommen sollte Ihrer Meinung nach zwischen Afghanistan und Deutschland getroffen werden, um Probleme, wie etwa wegen der Abschiebungen, zu lösen?
Shahin: Ein Abkommen kann nur zustande kommen, wenn sich beide Seiten an einen Tisch setzen und über Lösungen sprechen. Beide Länder haben ein Interesse an einer Lösung, deshalb müssen wir in Kontakt bleiben. Es ist notwendig, dass es regelmäßige Verhandlungen gibt, denn es gibt viele Afghanen in Deutschland, und auch Deutschland hat Interesse an einer Zusammenarbeit.
Natürlich haben unsere Länder unterschiedliche Kulturen und Prioritäten, aber es gibt auch gemeinsame Interessen, über die wir sprechen sollten. Diese sollten im Dialog nicht zu kurz kommen.
Die deutsche Regierung hat offiziell erklärt, dass sie keine Beziehungen zu den Taliban aufbauen möchte. Wie stehen Sie dazu?
Shahin: Das ist nicht korrekt. Wir haben uns inoffiziell mit Vertretern der deutschen Regierung und den Vertretern vieler europäischer Länder getroffen. Diese Gespräche sind notwendig, und es gibt sie, auch wenn sie nicht offiziell sind. Es gibt auch einige deutsche NGOs, die in Afghanistan tätig sind. Es gibt Themen, die wir klären müssen, und das geschieht in diesen Kontakten. Es ist nicht regelmäßig, aber hin und wieder finden Gespräche statt.
Die Menschenrechte, insbesondere die Rechte der Frauen, haben sich in Afghanistan seit 2021 verschlechtert. Wie sehen Sie die Zukunft der Beziehungen zu Deutschland oder der Europäischen Union, wenn solche Einschränkungen und Ungerechtigkeiten, insbesondere gegenüber Frauen, bestehen bleiben?
Shahin: Es wäre nicht fair, nur auf Basis der Medienberichte zu urteilen. Eher sollte eine Delegation nach Afghanistan kommen und die tatsächlichen Bedingungen vor Ort selbst sehen. Basierend darauf könnte man ein gerechtes Urteil fällen. Wenn es dann Verbesserungsvorschläge für uns gibt und wir kritisiert werden, würden wir es akzeptieren, weil es der Wahrheit entspräche.
Natürlich gibt es Unterschiede in Kultur und Werten, aber gleichzeitig werden Fakten außer Acht gelassen. Beispielsweise hat die vorherige Regierung unter der damaligen US-Besatzung 2000 Unternehmer-Lizenzen für Frauen erlassen. Unter der Taliban-Regierung gibt es heute mehr als 10.000 Lizenzen für Frauen. Auch arbeiten mittlerweile über 125.000 Frauen in verschiedenen Berufen.
Wieso werden diese positiven Aspekte nicht hervorgehoben? Diese Frauen veranstalten eigene Messen, die unerwähnt bleiben. Es gibt medizinische Institute, in denen Frauen studieren und Berufe erlernen.
Aber es gibt von Menschenrechtsorganisationen vehemente Kritik an den Taliban. So dürfen Frauen ohne das Hijab das Haus angeblich nicht verlassen. Dieses Gesetz sollen die Taliban eingeführt haben.
Shahin: Dieses Gesetz stammt nicht von den Taliban. Der Hijab ist eine islamische Vorschrift, ein religiöses Gesetz im Islam. Sie haben sicher auch in Deutschland gesehen, dass muslimische Frauen den Hijab tragen.
Es ist doch vielmehr eine Burka, die Sie den Frauen vorschreiben?
Shahin: Nein, es ist ein Hijab und keine Burka, auf die wir Wert legen. Wenn der Hijab eine Vorschrift der Taliban wäre, warum tragen dann auch Frauen in anderen Ländern, wie Deutschland, einen Hijab? Der Grund dafür ist, dass es sich um ein islamisches Gesetz handelt. Deshalb halten sich muslimische Frauen daran.
In Frankreich wurde der Hijab in bestimmten Bereichen verboten, aber in anderen Ländern tragen muslimische Frauen ihn weiterhin. Nicht alle, aber einige, weil sie dieses religiöse Prinzip und Gesetz befolgen.
Frauen haben zudem klare Rechte, wie das Recht, ihren Ehepartner selbst zu wählen, das Recht zu erben, das Recht auf berufliche und wirtschaftliche Teilhabe sowie das Recht, Geschäfte zu führen und Handel zu treiben, und vieles mehr!
Haben junge Frauen Zugang zu Hochschulen und Universitäten?
Shahin: Ja. Sie können zum Beispiel in medizinischen Instituten und Lehrerbildungsinstituten einen hohen Bildungsabschluss erlangen.