Sozialforscher Andreas Herteux - Ideologen schmeißen hin: Was der Zerfall der Grünen Jugend für die Zukunft der Partei bedeutet
Für die Grüne Jugend ist die Realpolitik der Bundespartei oft nicht radikal genug. Doch welches Weltbild vertreten sie und warum könnte dieses die Partei zerreißen? Sozialforscher Andreas Herteux analysiert diese Einflüsse und sieht eine existenzbedrohende Kontroverse auf die Grünen zukommen.
Wie ideologisch ist die Grüne Jugend?
Die aktuelle Grüne Jugend vertritt ein klares Weltbild. Dieses besteht überwiegend aus postmateriellen Idealen, mit den Schwerpunkten auf Klimaschutz, Antirassismus, Postkolonialismus, Globalem-Süden-Denken, Weltbürgertum und Identitätspolitik. Angereichert wird dies mit Kapitalismuskritik sowie den Forderungen nach einem Systemumbau, den man vielleicht als Einführung eines Neo-Ökosozialismus mit einem starken Schwerpunkt auf staatlicher Lenkung beschreiben könnte.
Inhaltlich hat die Grüne Jugend, um den Blick zu erweitern, die ein- oder andere unübersehbare Schnittmenge mit der Linksjugend solid, welche der Linken nahesteht, und den SPD-Jungsozialisten (Jusos), wenngleich die Ökologie einen breiteren Rahmen einnimmt. An dieser Stelle ist allerdings anzumerken, dass politische Jugendorganisationen häufig deutlicher, lauter und teilweise auch abweichender von der Norm auftreten als die Parteien, denen sie sich zuordnen. Es ist im gewissen Sinne auch ein Privileg der Jugend, sich ungezwungen Ideen, manchmal auch Utopien, hingeben zu können, ohne durch die Grenzen der Realität eingeschränkt zu werden.
Zudem sollte jedem Individuum eine Entwicklung zugestanden werden. Nicht wenige, die extremer begonnen haben, konnten ihre Positionen später reflektieren und auch revidieren. Ein ganz interessantes Beispiel ist da der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der bekanntlich einst Mitglied des maoistischen Kommunistischen Bundes Westdeutschland war und das später als großmäuliges, „revolutionäres Gehabe“ bezeichnete, das keine realpolitische Substanz bieten konnte, sondern nur die stetig gleichen, hoch ideologischen Debatten mit den immer gleichen Personen, die sich gegenseitig befeuerten und bestätigten.
Welchen Einfluss hat die Grüne Jugend auf die Partei?
Die Grünen haben grundsätzlich zwei Flügel: die pragmatischeren „Realos“ und die „Postmateriellen“. Letzterer wird gelegentlich auch als „links“ bezeichnet, allerdings passt das spätestens seit den 2010er Jahren nicht mehr.
Der durchschnittliche Grünenwähler selbst war zu diesem Zeitpunkt schon lange kein lautstarker linker Protestler oder gar ein „Klischee-Öko-Hippie“ mehr, sondern im Schnitt ein Besserverdiener, gebildet, eher weiblich als männlich und das urbane Leben gegenüber dem ländlichen Dasein bevorzugend. Kurz gesagt: Er hat es sehr oft schlicht geschafft und keine materiellen Sorgen mehr. Es war daher möglich, sich für größere Ideale, die oft aus universitärem Umfeld mitgenommen wurden und letztendlich auch eine Form der Selbstentfaltung darstellen, zu engagieren. Beispiele hierfür sind Elemente wie Weltfrieden, globale Gerechtigkeit oder eine perfekte Wirklichkeit mit offenen Grenzen.
Oder einfacher gesagt, und um den Unterschied zwischen Postmaterialismus und materialistischer Linken zu erklären: Das umstrittene Heizungsgesetz der Grünen folgte in seiner frühen Fassung einer großen Idee; an den sozialen Ausgleich für die Mehrbelastung der Hausbesitzer in der Praxis hat man aber leider nicht gedacht.
Die Konsequenzen der Umsetzungen werden dann nicht selten ausgeblendet, denn sie stören womöglich die Reinheit des Gedankens oder, wie es Robert Habeck treffend ausdrückte: „Die einzige Antwort, die ich geben kann, ist, dass ich so sehr im Fokus war, fossile Energie einzusparen, dass ich nicht gesehen habe, wie sich die mentale Haltung im Land schon wieder woanders hinbewegt hat.“
Wenn also manch „alter“ Grüner eine „linke Unterwanderung“ beklagt, Boris Palmer sprach jüngst beispielsweise von „geradezu einer feindlichen Übernahme von innen“ durch die Woke-Bewegung, die viele Urgrüne an den Rand gedrückt hätte, dann ist diese Entwicklung gemeint. Ähnliche Äußerungen hört man hin und wieder auch von Sozialdemokraten, und selbst die Spaltung bei der Linkspartei hängt in Teilen mit besagter „Progression“ zusammen.
Um aber zur Frage zurückzukommen: Die Grüne Jugend hat sich, ebenso wie die Wähler, gewandelt. Sie war einst vielfältiger. Heute ist sie eine Säule des postmateriellen Flügels und produziert immer wieder Persönlichkeiten, man nehme hier nur Ricarda Lang als Beispiel, die bei den Grünen herausragende Posten einnehmen.
Trotzdem, und auch das gehört zur Vollständigkeit, fremdelt die Jugendorganisation seit Jahren massiv mit der Realpolitik der Partei, die ihr schlicht nicht radikal genug ist, was dann auch in derartigen Antragstexten gipfeln kann:
„Wir sehen es als unsere Aufgabe, laut zu sein gegen die aktuelle Politik der Ampelregierung und werden das in den nächsten Monaten auf die Straße tragen. Wir werden auf die Straße gehen, Bündnisse schmieden und den Linksrutsch selbst in die Hand nehmen.“
Hat der postmaterielle Flügel der Grünen durch die jüngsten Rücktritte einen Rückschlag erlitten?
Der postmaterielle Ansatz der Ampel-Regierung ist gescheitert, und das wird von den Bürgern vor allem den Grünen angelastet. Dies hat sich negativ auf die Wahlergebnisse ausgewirkt. Es war vollkommen erwartbar, dass dies zu einer Intensivierung der internen Flügelkämpfe führen wird.
Mit Blick auf die Bundestagswahl 2025 gibt es nun zweifellos den Versuch, den Einfluss und vor allem, sowie wesentlich wichtiger, die Sichtbarkeit des postmateriellen Flügels zu begrenzen, um so für die Wähler als Partei moderater zu erscheinen. Obwohl die „Realos“ Anna-Lena Baerbock und Robert Habeck die eigentliche Verantwortung für die gescheiterte Implementierung postmaterieller Inhalte in die Realpolitik tragen – man denke hier nur an die feministische Außenpolitik, die Schwierigkeiten mit dem Thema Migration oder den sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaft –, wurde mit der polarisierenden Ricarda Lang eine ideale Personifizierung der postmateriellen Ideen gefunden und öffentlichkeitswirksam „geopfert“.
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Für die Grüne Jugend, die sich, wie angedeutet, seit mehreren Jahren ohnehin stiefmütterlich von Teilen der Partei behandelt sieht, ist dies zweifellos ein weiterer Rückschlag. Aussagen wie die von Renate Künast, dass die Ideen des mittlerweile ebenfalls kapitulierenden Vorstandes der Jugendorganisation „nicht realitätstauglich“ gewesen seien, plakatieren diesen Konflikt nun in den Medien. Ähnlich sind auch die Aussagen von Cem Özdemir zu deuten, der eine Umkehr in der Migrationspolitik fordert und das in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auch damit begründet, dass seine Tochter und deren Freundinnen schon von Männern mit Migrationshintergrund unangenehm begafft oder sexualisiert wurden.
Eine derartige politische Position ist mit den Vorstellungen der Grünen Jugend und Teilen des postmateriellen Flügels schlicht nicht vereinbar, denn es gibt klare Positionierungen:
„[..] Diese Asylrechtsverschärfungen sind unhaltbar für uns. Das haben wir in den vergangenen Wochen, auf allen Ebenen – vom kleinsten Kreisverband über die Landesverbände bis hin zum Bundesverband – lautstark klar gemacht. [..] Wir konnten in der Zivilgesellschaft und in der Grünen Partei eine Gegenwehr aufbauen, die viele vermutlich gar nicht erwarteten. [..] Die geplanten Reformen werden voraussichtlich noch über Jahre weiterverhandelt werden.“
Es ist ein Richtungsstreit, und die Grüne Jugend spielt darin ihre Rolle. Der postmaterielle Flügel wird an dieser Stelle daher sicher darauf reagieren. Es ist am Ende aber nicht nur ein Strategiedissens, welche Wähler man künftig auf welche Art und Weise, jenseits des festen Kerns, umwerben will, sondern vielmehr eine Frage der grundsätzlichen ideologischen Ausrichtung, bei der Kompromisse schwierig werden.
Die Partei wird daher ein spannendes Beobachtungsobjekt bleiben. Sie ist in einer der tiefsten Krisen ihrer Geschichte und steht vor einer inneren Herausforderung, die auch durch einen möglichen „Waffenstillstand“ bis zur Bundestagswahl nicht gelöst werden kann. Der Bundestagseinzug ist nicht in Gefahr, aber langfristig könnte sogar eine existenzbedrohende Konstellation entstehen, wenn nicht eine neue Balance gefunden wird.
Ein Teil des zurückgetretenen Vorstandes der Grünen Jugend hat angekündigt, eine neue Bewegung zu gründen. Wird das erfolgreich sein?
Es erscheint unwahrscheinlich, denn das ist das übliche Sektierertum, das am Ende in der Bedeutungslosigkeit mündet. Der Postmaterialismus hat eine große Hürde: die Übertragung seiner Ideale in die Realität. Dies ist ohne einen konstruktiven Pragmatismus nicht möglich. Anstelle eines solchen setzen die Personen, so sind zumindest die niedergeschriebenen Worte zu deuten, auf sozialistische Grundkonstruktionen, die von Renate Künast in einem Interview auch als „Klassensystem-Sozialismus“ bezeichnet wurden.
Es mag zwar daher ein Ruf erschallen, der dazu auffordert, dass sich Gleichgesinnte vereinen sollen, aber realistisch ist das für eine bemerkenswerte Anzahl nicht.
So etwas, und das wissen die Alt-Linken und Alt-Grünen vermutlich selbst noch aus eigener Erfahrung, führt vielmehr in der Regel zur Zersplitterung und zur Schaffung einer Blase, in der man sich zwar stetig gegenseitig der eigenen Bedeutung versichert, die aber zugleich unter jeglicher öffentlicher Wahrnehmungsschwelle liegen wird.