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Spahn: «Noch liegt zu viel Impfstoff im Kühlschrank»

Lisa Federle, Lothar H. Wieler und Jens Spahn beantworten Fragen von Journalisten zur Corona-Lage.
Lisa Federle, Lothar H. Wieler und Jens Spahn beantworten Fragen von Journalisten zur Corona-Lage.

Elf Millionen Dosen Corona-Impfstoff sollen bis Ende nächster Woche hierzulande verteilt sein, verspricht der Gesundheitsminister. Kanzleramtschef Braun hofft durch breites Testen auf «eine Menge Öffnungsperspektiven».

Berlin (dpa) - Trotz langer Wochen im Lockdown und Fortschritten beim Impfen hat Gesundheitsminister Jens Spahn vor vorschnellen Lockerungen der staatlichen Corona-Beschränkungen gewarnt. «Ich empfehle uns allen größtmögliche Umsicht und Vorsicht», sagte der CDU-Politiker in Berlin.

Der angestrebte Wert von maximal 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern binnen sieben Tagen sei vielerorts nicht erreicht - und für viele Länder derzeit auch nicht erreichbar. Zugleich lobte Spahn, dass schon viele Pflegeheimbewohner geimpft seien. Die Länder hielt er an, ihre Impfkapazitäten zügig aufzustocken. «Noch liegt zu viel Impfstoff im Kühlschrank», rügte er.

Der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, sagte, bei den Infektionszahlen gebe es neben positiven Entwicklungen «deutliche Signale einer Trendumkehr» zum Schlechteren. «Wir müssen alle Maßnahmen weiter konsequent umsetzten, ansonsten steuern wir in eine dritte Welle hinein», mahnte er. Besorgniserregende Varianten des Virus breiteten sich rasch aus. Eine, nämlich die Mutante B.1.1.7, sei deutlich ansteckender und gefährlicher - in allen Altersgruppen.

Die Gesundheitsämter meldeten dem RKI binnen eines Tages 9997 Corona-Neuinfektionen, zudem wurden 394 weitere Todesfälle verzeichnet, wie aus den Zahlen vom Freitag hervorgeht. Vor genau einer Woche waren es 9113 Neuinfektionen und 508 neue Todesfälle.

Spahn sagte, mit den nun in den meisten Ländern wieder teilweise geöffneten Schulen und Kitas werden täglich Millionen Menschen zusätzlich in Bewegung gesetzt. Die Öffnung zugunsten der Kinder sei zwar richtig, schaffe aber auch neue Ansteckungsrisiken. Nun gelte es, erst einmal zu schauen, wie sich dies auf die Infektionszahlen auswirke, bevor weitere Schritte ins Auge gefasst werden.

Mit Blick auf die Bund-Länder-Beratungen am Mittwoch über mögliche Öffnungsschritte sagte Spahn, «Vorsicht, Impfen, Testen» seien wichtig auf diesem Weg. Auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte zuletzt Hoffnungen auf sehr schnelle und umfassende Lockerungen der strengen Kontaktbeschränkungen gedämpft. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) warnte ebenfalls vor «Öffnungshektik».

Nach Spahns Worten werden bis Ende kommender Woche rund elf Millionen Impfdosen an die Länder ausgeliefert worden sein. Schon jetzt seien rund 5,7 Millionen Impfungen verabreicht worden. Die erste Dosis haben 4,5 Prozent der Bevölkerung bekommen. Darunter sind knapp 800.000 Pflegeheimbewohner - insgesamt wird von rund 900.000 ausgegangen. 2,4 Prozent der Menschen in Deutschland haben bereits die zweite Dosis erhalten.

Spahn sagte, so bald wie möglich sollten auch Arztpraxen in die Impfungen einbezogen werden. Dazu liefen Gespräche mit Großhändlern, Ärzten und Apotheken, etwa über Logistik und die Vergütung. Schon jetzt hätten die Länder aber die Möglichkeit, Ärzte einzubinden, etwa speziell für Krebspatienten.

Zu den neuen Corona-Selbsttests, die bald überall im Handel erhältlich sein sollen, sagte Spahn, diese könnten dem Einzelnen «mehr Trittsicherheit» geben. Er erwarte, dass sie Teil des Alltags und zur Routine werden - etwa vor Besuchen in Restaurants oder bei Konzerten. Die PCR-Tests, also Labortests, blieben aber «der Goldstandard», weil sie genauer seien.

Ähnlich äußerte sich RKI-Präsident Wieler. «Selbsttests sind keine Wunderwaffe», sagte er. Die Erwartung, dass man sich für bestimmte Situationen «freitesten» könne, sei nicht hundertprozentig zu erfüllen. Ein negatives Ergebnis sei eine Momentaufnahme und schließe eine Infektion nicht aus. Deshalb sei es wichtig, sich und andere auch weiter durch Abstandhalten, Maskentragen, Hygiene und Lüften zu schützen.

Optimistischer zeigte sich Kanzleramtschef Helge Braun (CDU): Der Aufbau von Kapazitäten und die Durchführung von Tests sei in der nächsten Zeit das «zentrale Instrument», sagte er beim digitalen Jahresempfang der Mittelstands- und Wirtschaftsunion Wiesbaden. «Wir werden in Zukunft alle wesentlich häufiger getestet werden.» Wenn man auf diese Weise schaffe, die Infektionszahlen gut zu stabilisieren, «dann haben wir eine Menge Öffnungsperspektiven». Auch Braun betonte allerdings, dass man angesichts der als ansteckender geltenden Virusmutationen auf dem Weg aus dem Lockdown sehr vorsichtig vorgehen müsse, damit die Zahlen nicht wieder nach oben schnellten.

Die Leitende Notärztin und Pandemie-Beauftragte Tübingens, Lisa Federle, sagte, breites Testen sei zwingend, wenn man nicht «mit Wumms in eine dritte Welle rauschen» wolle. Das müsse quasi wie Zähneputzen passieren können. Testen seien auch ein probates Mittel, um Ohnmacht und Angstgefühle der Bevölkerung mindestens abzumildern. Andererseits gebe es eine Verantwortung beim Selbsttest: Menschen, die unerwartet ein positives Ergebnis bekommen, reagierten teils geschockt oder mit Ablehnung, berichtete sie.

Zur Lage in den Pflegeheimen sagte Spahn, inzwischen hätten fast alle Bewohner ein Impf-Angebot bekommen. Blicke man auf die Infektionszahlen bei den Alten, gehe die Strategie auf, die besonders Verwundbaren zuerst zu impfen. «Das Risiko, an Corona zu erkranken, hat sich für unsere höchstbetagten Bürgerinnen und Bürger deutlich reduziert», sagte er. Grundsätzlich gelte: «Impfen ebnet den Weg aus der Pandemie, es wird aber gleichwohl kein Spaziergang.»

Der Druck, die Corona-Regeln zu lockern, ist groß, insbesondere seitens der Wirtschaft. Unter anderem der Handel fordert, die Wiedereröffnung der Innenstädte nicht von dem angestrebten Wert von 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern und Woche abhängig zu machen. Mehrere Bundesländer haben bereits für Anfang kommende Woche über Friseurläden hinaus die Öffnung etwa von Gartenmärkten und Blumenläden angekündigt.